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Allerhand Geister – Eine dunkle Macht – Teil 2

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Eine dunkle Macht – Teil 2

Es nimmt zuletzt aber alles ein Ende. Die letzte Flasche war leer geworden, das letzte Glas ausgetrunken und Moski, der am nächsten Morgen schon früh Dienst hatte, erklärte sich energisch gegen jeden neuen Anfang, zu welchem ein paar Unersättliche nicht wenig Lust zu haben schienen. So brachen wir denn auf und schritten in den Garten hinaus und durch die schattigen Steige hin, zu zweit oder zu mehreren, wie die Genossen sich aneinandergeschlossen hatten. Wie heiter wir alle auch waren, wurden wir doch nicht recht laut; denn wie ich schon sagte, der volle Nachtzauber machte sich doch erst hier draußen geltend und übte selbst auf den Ausgelassensten seinen beschwichtigenden Einfluss.

Eugen hatte seinen Arm wieder in den meinen geschoben. Seine glänzende Laune hatte ihn den ganzen Abend nicht verlassen, war jedoch allmählich, um mich so auszudrücken, ruhiger und gleichmäßiger geworden und hatte sich, statt hervorzusprudeln und alles zu beherrschen, zugleich bequem und lustig in die Stimmung und Unterhaltung der Übrigen hineingefügt. »Philister seid ihr!«, hatte er gesagt, als wir aufbrachen, war aber doch unter den Ersten gewesen, die sich erhoben. Und nun hier draußen meinte er: »Es ist auch recht, dass wir gehen. Es war da in dem dumpfen Nest zum Ersticken! Lass uns noch ein wenig umhergehen, Fritz! Es ist eine himmlische Nacht!« Damit zog er mich, während die Übrigen links abbogen, in den Weg, welcher den großen Rasenplatz rechts umkreiste, den gleichen, auf dem wir vor drei oder vier Stunden unseren Einzug gehalten hatten.

Es war, wie gesagt, spät und der Garten leer geworden. Auch die Gesellschaft am Tisch jener Damen war verschwunden, doch zeigten die noch brennenden Windlichter und ein paar mit Abräumen beschäftigte Kellner, dass dies erst vor Kurzem geschehen sein mochte.

»Schade, schade!«, sagte Eugen, als er das bemerkt hatte, »ich hoffte sie noch zu finden und dich vorstellen zu können. Es sind charmante Menschen, Fritz, die du kennen lernen musst. Die Regierungsrätin fragte mich vorhin nach dir und bedauerte es, dass ihr euch noch nicht begegnet seid.«

Ich musste lachen. »Und diese Begegnung hättest du jetzt vermitteln mögen?«, versetzte ich. »In der Tat, Eugen, deine Einfälle sind wirklich zuweilen …«

»Als ob ich den Teufel im Leibe hätte«, unterbrach er mich in seltsam ernstem Ton. »Nun, ich habe ihn ja auch! Aber Scherz beiseite, diese Menschen sind von anderer Art als unsere Zierpuppen. Sie machen einem das Leben leicht, wo man darin auch mit ihnen zusammentrifft!« Und indem er in solcher Weise weiter sprach, voll Vernunft, voll Teilnahme und Wärme, setzten wir unseren Weg langsam fort. Die Übrigen waren uns aus den Augen gekommen, und erst als wir auf die Straße gelangten, sahen wir sie schon eine gute Strecke vor uns gegen das Tor zu und vernahmen durch die stille Nacht nur gedämpfte Laute ihres unzweifelhaft munteren Plauderns und Lachens.

»Lass sie, Fritz, lass sie!«, sagte er, da ich meinen Schritt beschleunigen wollte, und hielt mich zurück. »Lass uns noch eine Weile in Frieden promenieren. Mein Insasse ist all der Narrheit müde geworden und in einer Art von vernünftiger Laune. Komm, wir wollen über den Wall gehen und bei der Klosterpforte hinein. Ich möchte noch allerhand plaudern.« Damit lenkte er vom Wege ab und auf den Wall hinauf. Ich gestehe es offen, dass ich ihm, obwohl solche Nachtspaziergänge wenig nach meinem Geschmack waren, dennoch auf seine letzten Worte hin mit einer gewissen Spannung folgte. Denn er, den ich von Jugend auf kannte und besser als irgendein anderer zu kennen glaubte, wurde mir immer rätselhafter, und dazu kam mir Moskis Rat, dass ich selber die Augen auftun möchte, wieder in den Kopf. Würde mir ein Licht aufgehen?

Der Wall, auf dem wir schweigend weiterschritten, war noch aus der alten städtischen Zeit erhalten und nicht nach den Forderungen der modernen Befestigungskunst umgestaltet worden. Er zeigte auf der Grabenseite noch den hohen, üppig überrasten Abhang, wo im Frühling die Veilchen in reichster Fülle blühen durften, und war hier oben mit zwei Reihen Linden bepflanzt, welche in der langen Friedenszeit meistens zu stattlichen Bäumen herangewachsen waren und den Weg selbst am sonnigsten Tag mit dichtem Schatten bedeckten. Doch blieben wir nun nicht hier unten, sondern stiegen, da von verbotenen Strecken keine Rede war, auf das alte Parapet hinauf, wo sich allmählich gleichfalls ein Weg gebildet hatte, den man gern zu wählen pflegte. Denn man genoss von hier einer verhältnismäßig weiten Aussicht über das ebene Land hin, bis zu schon ziemlich entfernten Dörfern und Wäldern. Nun war es allerdings Nacht, aber der Genuss darum kein geringerer. Der volle Mond war noch nicht lange aufgegangen und warf sein Licht knapp über die Kronen der Linden hin in die Weite. Im Vordergrund unter uns lag noch alles im milden Schatten, weiterhin aber lichtete es sich magisch. Die kleinen Gärten jenseits des Grabens traten in ihrer einfachen Anlage wunderbar deutlich aus der Dämmerung hervor. Über den See, der sich auch nach dieser Seite hin fortsetzte, breitete sich eine glitzernde Lichtbrücke, und wo es über seine Ufer drüben hinausging, ruhte alles in märchenhaftem, silbernem Duft, wie ein kaum verhülltes Geheimnis, das sich im nächsten Augenblick schon auf das Reizendste vor uns zu offenbaren verheißt. Mit einem Wort, es war schon wert, dass man einmal stehen blieb und seinen Blick hinausschweifen ließ, so traumhaft war das alles und voll eines so berückenden Zaubers.

Das merkten auch noch andere. Nicht weit vor uns zeigten sich mehrere Gestalten, die vom Wall heraufstiegen. So still, wie die Nacht war, vernahmen wir deutlich einen Ruf der Überraschung oder Bewunderung und ein lebhaftes Reden, als ob noch weitere unten geblieben wären, die man herauf zu locken versuchte. Ein paar junge Stimmen klangen hell herüber. Indessen sagte Eugen auch schon: »Es sind wahrhaftig Rudnecks und – das da muss der Bass meiner Mutter sein.«

Zur Erklärung dieses letzteren seltsamen Ausdrucks muss ich hinzufügen, dass er keineswegs bloß einen am Ende doch ziemlich unehrerbietigen Scherz enthielt, sondern der Wahrheit wenigstens nahe kam. Denn die Medizinalrätin hatte infolge eines weiter nicht bedenklichen Halsleidens schon seit ihrer Jugendzeit eine so raue Stimme, dass man sie wirklich mit dem gedämpften Bass eines Mannes vergleichen konnte.

Als wir zu ihnen kamen, fand es sich, dass Eugen richtig geraten hatte: Es waren nicht nur jene Fremden, sondern auch seine Eltern und noch ein paar andere, die den Abend im Garten zusammen zugebracht und nun den gleichen Heimweg eingeschlagen hatten. Man nahm uns auf das Munterste auf, mit allerhand scherzhaften Spitzen über die nicht verborgen gebliebene Studentenkneiperei im Berceau, denen wir lachend standhielten und die wir lustig heimgaben.

»Darin habt ihr völlig recht«, meinte der alte Medizinalrat, als er mir die Hand schüttelte, »wir sind alle miteinander eine leichtsinnige Bande! Sitzen da, Gott strafe mich, bis Mitternacht in der angenehmsten Fieberluft, selbst ich alter Praktikus! Ja ja, Kollege, werden uns wohl auf ein paar Wechselfieberchen rüsten müssen! Nun aber auch genug der Mondscheinfantasien und ernstlich nach Hause und ins Bett!«, schloss er. »Ihr Rheinländer müsst bedenken, dass ich nicht bloß euer Leibarzt sein kann – ihr seid jetzt lange genug krank gewesen. Sie da, Gretchen, kommen Sie herunter! Windbeutel Eugen gewährt Ihnen keine Deckung – konträr!«

Aber das junge Volk, und Eugen natürlich an der Spitze, zog droben lachend weiter und schloss sich unserer gesetzteren Partie erst wieder an, da wir an die erwähnte Klosterpforte gelangten und die Stadt betraten. Mit der Gesetztheit freilich war es auch bei uns nicht gar zu weit her, alle Welt war eben in der besten Laune. Als wir bei der nächsten Straßenkreuzung uns endlich trennen mussten, gab es noch ein langes Hin- und Herreden, Lachen, Scherzen und Bedauern, dass es nun wirklich mit dem Tag vorbei sei und nach Hause gehe.

Während Eugen trotzdem von Neuem mit den anderen weiterzog, hielt der Medizinalrat mich aber bei sich und seiner Gattin zurück und behauptete launig, er habe die Pflicht, den jungen Kollegen in Ordnung zu halten und dafür zu sorgen, dass ich morgen früh hübsch frisch an meine Praxis gehe.

»Und sehen Sie, Kollege«, redete er, da wir nun allein waren und zu dritt in der stillen Straße seinem nicht mehr weit entfernten Haus zuschritten, »um einen Ihrer Patienten ist es auch mir zu tun. Sie merken wohl, dass ich von dem Jungen rede, der Ihnen ja näher steht als uns Eltern. Haben Sie keine Ahnung, was es eigentlich mit ihm gibt? Ich habe ihn schon ernsthaft darauf angesehen, ob es am Ende zu Zeiten in seinem Kopf nicht ganz richtig ist. Er ist sein Leben lang ein Mensch wie kein anderer gewesen, aber neuerdings geht das Ding mir über den Spaß hinaus. Wenn das noch lange währt, so kann es kein gutes Ende nehmen. Die menschliche Natur hält das auf die Dauer nicht aus.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen dieses Rätsel auch nicht lösen«, versetzte ich, »und es quält oder verdrießt mich jeden Tag von Neuem, dass man ihm nie und nirgends auf die Spur zu kommen vermag. Sehen Sie, wie es mir heute mit ihm ging«, redete ich weiter und erzählte, was ich in seinem Zimmer und danach beim Gang durch die Stadt und wieder im Kreis der Bekannten erlebt hatte. »Was ist mit einem solchen Menschenkind anzufangen?«

»Ja, ja«, meinte der alte Herr, der bei meinem Bericht mehr als einmal gelacht hatte, nun verdrießlich, »so ist es mit ihm, und das ärgert mich eben, dass man gar nicht weiß, ob es bloß die radikale Tollheit ist oder ob am Ende noch etwas ganz Besonderes dahintersteckt. Werde ihm denn doch wohl einmal etwas derb aufs Collet rücken müssen!«

Seine Gattin war bisher schweigend neben uns hergegangen. Nun sagte sie mit einem Seufzer: »An das Besondere denke ich eben auch und leider an nichts Gutes. Sonst ist seine Ausgelassenheit doch immer noch eine lustige und heitere gewesen, aber jetzt kommt sie nie mehr von Herzen heraus. Ich habe seither wohl einmal gemeint, es möge mit Margarethe zusammenhängen. Gern hat er sie, das ist sicher genug, und dass sie ihn ganz gehörig plagt, auch. Wenn es ihm ernst wäre, dürfte er drum zuweilen schon etwas außer sich sein. Man kennt das ja. Aber ich sprach vorhin darüber mit der Regierungsrätin ein wenig – sie glaubt nicht daran …«

»Ei was«, unterbrach der alte Herr sie einigermaßen ungeduldig. »Was außer sich geraten! Er ist doch weiß Gott kein sternguckender, flötenblasender Schäfer mehr, sondern mit seinen siebenundzwanzig Jahren ein …« Er lächelte sarkastisch. »… ganz netter Praktikus, der sehr gut begreift, dass da auch nicht der leiseste Grund zum Verzweifeln vorhanden wäre. Wenn es dergleichen wäre, greife ich etwas tiefer.«

»Wie kannst du dergleichen argwöhnen, Heine!«, sagte die Dame hörbar empfindlich. »Du weißt doch, dass er in dieser Richtung niemals Veranlassung zu Klagen gegeben hat.«

So redeten wir im Weitergehen und endlich auch noch vor dem Haus hin und her, denn man zog mich gleichfalls in den Streit, wo ich freilich eher die Partie der Mutter nehmen musste: Ich habe mich schon über seine Stellung zu den Frauen geäußert, und darf hinzufügen, dass man von ihm wirklich niemals etwas erfahren hatte, was nicht auch den meisten anderen in solchen Fahren nachzusagen wäre. Der Medizinalrat freilich hielt nun mit einer gewissen Zähigkeit an dem Gedanken fest und meinte, noch als wir auseinander gingen, ich möge immerhin einmal diese Region ins Auge fassen, ob dort am Ende doch nicht etwas bemerkbar werden dürfte. Die Mutter widersprach von Neuem auf das Lebhafteste.

Damit schieden wir und ich ging nun endlich auch meiner ziemlich nahen Wohnung zu – in ernsteren Gedanken über den rätselhaften Freund, als ich sie bisher jemals mit mir herumgetragen hatte. Denn ich sah wohl, dass sein Wesen und Treiben anderen noch weniger gleichgültig war, als uns, seinen Gefährten, die wir freilich zunächst darunter zu leiden hatten; und dazu kam nun diese seltsame Aufforderung des Vaters und vereinigte sich sozusagen mit dem, was Moski vor ein paar Stunden zu mir gesagt hatte, beide auf ein Etwas hindeutend, das mir, ehrlich bekannt, bisher niemals recht beachtenswert erschienen war. Hatten beide das Gleiche im Sinn oder etwas Verschiedenes?