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Elbsagen 75

Elbsagen
Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten
Für die Jugend ausgewählt von Prof. Dr. Oskar Ebermann
Verlag Hegel & Schade, Leipzig

76. Der diebische Rabe

In Magdeburg gibt es drei Häuser mit besonderen Namen, die aber alle zueinander in einer gewissen Beziehung stehen. Es sind dies der schwarze Rabe am Knochenhauer Ufer, die weiße Taube daneben und die goldene Sonne auf der Stephansbrücke.

Im Jahre 1598 hatte nämlich ein reicher Brauherr auf der Stephansbrücke gewohnt und am 6. Dezember, gerade an dem Tag, an dem ein Erdbeben und Wetterleuchten früh um 6 Uhr die Bewohner Magdeburgs aus ihren Betten aufschreckte, seine Tochter mit einem reichen Kaufmann vermählt, der seine Wohnung in dem Haus am Knochenhauerufer hatte, das nun Zum schwarzen Raben heißt. Nachdem die jungen Eheleute aus dem Haus der Eltern der Braut nach dem Hochzeitsmahl in ihre neue Wohnung gezogen waren und die junge Frau sich dort von ihrer Dienerin entkleiden ließ, hatte sie in ihrem Zimmer die von ihr an diesem Tage getragenen Kleinodien, einige Ringe und ein kostbares Halsgeschmeide der Dienerin übergeben, um sie aufzuheben. Die Dienerin hatte sie aber aus Nachlässigkeit auf dem Tisch liegen lassen. Als nun am anderen Morgen die junge Frau nach den Schmucksachen fragte, waren sie verschwunden, und da nachweislich niemand in das Haus gekommen war, die Dienerin aber auch nicht sagen konnte, wo der Schmuck hingekommen sei, so kam sie in den Verdacht, die wertvollen Gegenstände entwendet zu haben. Zwar leugnete sie beharrlich und beteuerte ihre Unschuld, allein es half alles nichts, sie wurde gefangen gesetzt und vor die Richter gebracht. Als sie auch dort bei ihrem Leugnen beharrte, beschloss man, die Wahrheit durch die Folter von ihr zu erpressen. Kaum hatte man ihr aber die Daumenschrauben angelegt, so schrie sie vor Schmerz, sie wolle bekennen und gestand auch, dass sie die Diebin sei. Als man sie aber fragte, wo die Kleinodien seien, wusste sie den Ort nicht anzugeben. Man drohte also, sie abermals zu foltern, wenn sie nicht sagte, wo sie diese verborgen habe. Da sagte sie in ihrer Herzensangst, sie befänden sich in dem Haus ihres Brotherrn. Man brachte sie also in das Haus auf dem Knochenhauerufer zurück und führte sie in demselben herum, damit sie das Versteck angeben solle. Allein, natürlich fand sich nichts, und so kamen sie zuletzt auf den Dachboden hinauf. Hier ermahnte man sie nun zum letzten Mal, die betreffende Stelle anzugeben oder den Schmuck selbst hervorzuholen, weil er, nachdem man das ganze Haus durchsucht hatte, eben an keinem anderen Ort mehr sein könnte, und drohte ihr, dass man sie sofort schärfer befragen lassen werde, falls sie abermals Ausreden machen und das Versteck nicht angeben wollte.

Da schaute das Mädchen ratlos um sich. Plötzlich sah sie nach dem durch die Dachluke hereinschimmernden, von der Sonne wunderbar erleuchteten Himmel. Sie hob in der Verzweiflung die Hände und bat flehentlich, Gott möge ein Zeichen geben, dass ihre Unschuld an den Tag komme. Und der Herr erhörte sie auch, denn auf einmal entstand neben dem Schornstein ein sonderbares Geräusch. Eine weiße Taube, die sich dort aufgehalten hatte, flog zur offenen Dachluke hinaus und setzte sich auf das Nachbarhaus. Beim raschen Fortfliegen hatte sie aber etwas Holz oder anderes Geröll losgerissen, das hinter dem Schornstein gelegen hatte und nun zu Boden fiel. Siehe, unter demselben befand sich die Halskette. Als alle Anwesenden auf diese blickten, kam auf einmal der alte Hausrabe, an den niemand gedacht hatte, und der nach seiner Gewohnheit mit der Gesellschaft auf den Boden gelaufen war, herbei gehüpft, fasste die Kette mit seinem Schnabel und versuchte sie beiseite zu schleppen. Damit war das Rätsel gelöst und der wahre Dieb entdeckt, denn man fand bei näherem Nachsuchen auch die übrigen entwendeten Gegenstände hinter dem Schornstein liegen. Natürlich wurde das arme Mädchen sogleich freigelassen. Das Haus aber, wo die seltsame Begebenheit geschehen war, nannte man seitdem Zum schwarzen Raben, das Nachbarhaus, wohin die Taube als Eigentum gehörte, die weiße Taube, und jenes dritte auf der St. Stephansbrücke die goldene Sonne, weil der Vater der jungen Frau in der Nacht vor der Entdeckung geträumt hatte, er sehe über seinem Haus zwei Sonnen, eine golden und hell strahlend, die andere blutrot. Diese hatten im Kern menschliche Gesichter, das aber in der blutroten Sonne war das der Magd. Diese Sonnen rückten einander immer näher und schwammen endlich in eine einzige hell strahlende Sonne ineinander. Er hatte diesen Traum darauf gedeutet, dass die Sonne die Unschuld des Mädchens an den Tag bringen werde, wie es auch geschehen ist.