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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 1.2.

Der Auserwählte – Teil 2

Tony Tanners Tagebuch

Bombay. Die Stadt ist genau das, was mir im Augenblick fehlt. Sie ist wie eine Droge oder ein Aufputschmittel. Um ganz genau zu sein, ist sie wie eine handgeschnitzte, bunt bemalte Keule, die einem in den Nacken geschlagen wird, sodass man tagelang mit dem Gefühl einer unwirklichen Taumeligkeit umhergeht. Der Flug, ich bin gerade ins Hotelzimmer gekommen, war gut. Eine nette Stewardess. Na ja, irgendwie sind sie ja alle nett, schon berufsbedingt. Mein Versuch, Francine systematisch wegzusaufen, ist gescheitert. Mein Magen rebelliert und mein Schädel dröhnt. Weiß diese undankbare Welt eigentlich zu schätzen, wie viel Charakterstärke und Selbstüberwindung dazu gehört, sich zu Tode zu saufen?

***

Es war die ruhige Phase des Fluges. Die Passagiere waren »gefüttert und getränkt«, wie die Stewardessen es unter sich nannten. Nun dösten die meisten Reisenden, einige blätterten gelangweilt in den ausliegenden Hochglanzmagazinen, andere untermalten mit leichten Schnarchgeräuschen die schläfrige Atmosphäre.

Die Stewardess Lucille Chaudieu setzte sich zu ihrer Kollegin in die enge Bordküche, die neben dem Durchgang zur ersten Klasse lag. Die erste Klasse war nicht voll besetzt. Einige

Sitzreihen wurden von indischen Oberschicht-Familien belegt, es gab einige arabische Geschäftsreisende und eine Handvoll Europäer.

»Ich komme immer noch nicht drüber weg, dass du mit Serafina den Flug getauscht hast. Mal abgesehen von dem Knatsch mit den Flugplanern, den du unweigerlich bekommen wirst. Welcher Teufel reitet dich, dass du Rio gegen Bombay tauschst?«

»Ich wollte mich über die Wintersportmöglichkeiten informieren«, antwortete Lucille.

Ihre Kollegin Annette war eine geschwätzige Nervensäge. Aber sie war auch eine sehr nette Nervensäge. Daher tat Lucille ihre patzige Antwort sofort leid, und bevor noch das Augen rollende Erstaunen im Gesicht Annettes in Verärgerung übergehen konnte, lächelte Lucille verbindlich und senkte dann den Blick. »Unsinn, das war es natürlich nicht. Aber auf dem Flug nach Rio war ein Copilot, mit dem ich mal zusammen war und – na ja – er hat mich ziemlich abserviert, und irgendwie wollte ich ihm nicht mehr unter die Augen kommen …«

Lucille zuckte matt mit den Schultern, das vollkommene Abbild enttäuschter Weiblichkeit.

Annette sprang erwartungsgemäß sofort an. »Ach diese Knopfdrücker in der Kanzel, vergiss sie doch alle! Bilden sich ein, was Tolles zu sein, bloß weil sie so ’n Luftomnibus fahren. Aber wenn du eine Pilotenallergie hast, dann solltest du unser Cockpit nicht betreten.« Sie kicherte wissend. »Unser Pilot hat den Beinamen Monsieur Hunderttausend Finger. Ich wette, er kann mit verbundenen Augen die polare Geografie jeder Stewardess der Gesellschaft erkennen, so oft hat er die schon betatscht.«

»Hallo ihr Süßen, eure netten Chauffeure sind fast am Verdursten. Wir wäre es mit einem netten Kaffee, heiß serviert?« Die Worte des Kapitäns tönten männlich-markant aus der Sprechanlage, und Annette drückte beim Klang dieser Stimme instinktiv den Rücken an die Wand.

»Dann bin ich wohl fällig«, seufzte Lucille und bereitete das Tablett vor.

»Danke. Gib dir keine Mühe. Wenn du ihm gefällst, findet er sowieso etwas zu meckern, damit du noch mal kommen musst. Diese Säcke. Der Autopilot ist doch bloß eine Maschine zur Erleichterung männlicher Grapschtriebe. Die Blödmänner sollten ihre Pratzen ständig am Knüppel halten müssen, wie die alten Jagdflieger.«

»Am Knüppel halten – meine Liebe, du vergreifst dich im Ton!«, kommentierte Lucille ironisch.

Annette lief rot an. »Liebelein, ich hoffe, dein Hintern besteht die Qualitätsprüfung!«, konterte sie bissig.

»An meinem Hintern ist nichts auszusetzen. Außer, dass er in dreißig Jahren aussehen wird wie deiner.«

Nach dieser Breitseite drehte Lucille ab und hörte mit einem gewissen Triumphgefühl hinter sich das »Blö«, mit dem Annette ihr die Zunge herausstreckte.

Wie vorhergesagt hatte die Cockpitbesatzung etwas zu meckern und schickte Lucille zurück in die Bordküche, um Ersatz zu holen. Allerdings hatte auch keiner der Herren seine Finger in ihre Nähe geschickt.

»Was ist das denn für ein Typ hier in der letzten Reihe«, flüsterte Lucille, als sie zusammen mit Annette die neuen Cockpit-Aufträge auf dem Tablett zusammenstellte.

»Keine Ahnung. Aber ein bisschen unheimlich ist er schon. Sieht aus, als könne er was vertragen, hat sich aber noch keinen Tropfen Alkohol bestellt. Scheint mit offenen Augen zu schlafen. Und hat sich in den letzten Stunden nicht einmal gerührt.«

»Vielleicht meditiert er ja«, mutmaßte Lucille.

»Du meinst, einer dieser Späthippies auf dem Guru-Trip?«

»Kann doch sein? Oder vielleicht ein Künstler.«

Jedenfalls kein Playboy, der uns auf ‘ne tolle Party einlädt«, beschied Annette mit Resignation. »Obwohl, irgendwas hat er ja. Du hättest ihn sehen sollen, als er sein Jackett auszog.

Nur Muskeln und Sehnen. Ein Körper wie ein Balletttänzer. Herrlich – und im Gegensatz zu den männlichen Tanzmäusen ist er garantiert nicht schwul, darauf wette ich!«

»Es läge an dir, das herauszufinden.« Lucille spähte durch den trennenden Vorhang auf die Sitzplätze der anderen Seite. »Dieser junge Mann«, fragte sie, »was ist mit dem?«

»Sieht nett aus. Ich meine er sieht gut aus und scheint nett zu sein. Er hat irgendeinen Kummer. Versucht sich systematisch zu betrinken, ist aber ein Laie auf dem Gebiet. Wahrscheinlich wird er uns den Gang vollspeien.«

Lucille kicherte. »Er hatte irgendeinen psychologischen Schmöker bei sich, Trennung heißt Wachstum, oder so was. Garantiert hat ihm seine Herzallerliebste den finalen Tritt gegeben. Obwohl, so ganz kann ich das nicht verstehen. Er ist bestimmt hundert pro nett. Der ideale Ehemann. Aber vielleicht ist er pervers – so einer mit Ledersex, Peitsche und Handschellen, oh lala …”

»Annette, du bist unmöglich. Bei dir kommt immer wieder die Klosterschülerin durch. Dieser weißhaarige Mann hinter unserem unglücklichen Liebhaber …?«

»Großes Tier. Kam mit VIP-Pass ins Flugzeug, wollte aber ausdrücklich keinerlei Aufsehen erregen und auch keine Sonderbehandlung. Ein de Montalban.« Annette bemerkte das kurze Blitzen in Lucilles Augen nicht, als sie den Namen hörte.

Ziel erfasst, dachte Lucille.

Aus dem Lautsprecher drangen plötzlich röchelnde Geräusche. Irgendwer stöhnte und schien sich in Qualen zu winden.

Annette fuhr mit einem unterdrückten Schrei auf.

»Wasser, gebt mir Wasser, ihr Holden, es darf auch ein Kaffee sein.«

»Idiotenpack.« Lucille schnappte das Tablett und ging nach vorn. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die beiden hintereinander sitzenden Männer, während sie vorsichtig das Tablett zu balancieren schien.

 

Tony befand sich in jenem Stadium der Trunkenheit, in dem jede Geste einfacher und schneller vonstattenging und das Leben allgemein etwas von seiner üblichen Härte verloren hatte. Dann aber meldeten sich seine Eingeweide, die das scharfe Zeug, das er sich systematisch verabreicht hatte, als störend empfanden.

»Hoffentlich entleere ich mich jetzt nicht auf den Gang«, fuhr es Tony durch den Kopf. »Mein Gott, diese Peinlichkeit. Und dazu ist da hinten noch diese schnuckelige kleine Schwarzhaarige. Mein Gott, das wäre eine halbe Kastration, Tony Tanner, mach dich auf!«

Tony erhob sich aus dem Sitz. Das heißt, er glaubte sich zu erheben, tatsächlich aber schoss er hoch, als hätte ein Schleudersitz gezündet. In Millisekunden stand er halb auf dem Gang, und Lucille, die auf dem Rückweg von der Kanzel war, prallte auf ihn. Einen Moment lang spürte Tony ihr Haar, die weiche Haut ihrer Wange, witterte ihr Parfüm und den Duft ihres Körpers. Erschreckt zuckte er zurück, aber es war schon zu spät. Ein halb voller Becher auf dem Tablett war umgestürzt und hatte seinen Inhalt teils auf Tony Hemd, teils auf die Hosenbeine des hinter ihm sitzenden Passagiers verteilt.

***

Wie ein Blitz überkam Tony die Erinnerung. So hatte er Francine kennengelernt. Das Popkonzert in der Royal-Albert-Hall, lauter aufgeregte, junge Menschen, das Gedränge vor einem Kaffeestand in der Pause, und sie hatte sich umgedreht, ihn gerammt und ihren Kaffee auf sein Hemd gegossen – das einzige weiße, das Tony in diesen Jahren besaß. Sie hatte ihn sprachlos und entsetzt angestarrt und er hatte gesagt: »Hey, geile Idee, damit hast du endlich den Eigelbfleck von meinem Frühstück entfernt!«

Sie hatte geantwortet, dass dieser Trick auch bei seiner Haarfarbe funktionieren würde. Sie hatte nicht die dunkle Stimme, die er erwartet hatte, sondern ein klares, glockenhelles Organ, das nach Kirchenchor und Zurufen auf dem Kricketrasen klang. Und dann hatten sie gelacht. Und es war um sie beide geschehen gewesen. Den Rest des Konzerts hatte Tony nur zur Hälfte mitbekommen, denn neben ihm stand eine junge Schönheit, die mit ihren langen Haaren und ihrer blassen Haut einem Gemälde der Präraffaeliten entsprungen zu sein schien. Eine reine Madonna in knackengen Jeans, die ihrer Begeisterung durch Pfiffe auf zwei Fingern Ausdruck geben konnte. Tony Tanner hatte ein nach Kaffee miefendes ex-weißes Hemd angehabt und neben dem schönsten Mädchen im Umkreis von zwanzig Lichtjahren gestanden.

Francine hatte ihn zu seiner Junggesellenwohnung gebracht. Sie fuhr einen Mini-Cooper, dessen Motor durch illegale Eingriffe die Geräuschkulisse eines Panzerbataillons und die Beschleunigung eines Rennwagens hervorbrachte. Der Mini zeigte deutliche Kampfspuren, und Francine hatte jede Beule liebevoll mit einem Datum, dem Ort der Begegnung und der Marke des Gegners beschriftet. Besonders beeindruckt war Tony von dem 21. Nov. Saville Road, Gaul, einem deutlichen Hufabdruck an der Fahrertür und 17. April, The Mall, Rolls-Royce. Da The Mall die Einfahrt zum Buckinghampalast war, wurde Tony jahrelang von der Frage gequält, ob Francine vielleicht die Queen gerammt hatte. Aber dieses Geheimnis offenbarte sie ihm nie. Wie überhaupt so viele Dinge. Tony liebte diese Frau bis zur Selbstauflösung und hatte doch, außer in jenen Stunden wilder Lust, nie das so männlich befriedigende Gefühl gehabt, sie voll und ganz zu besitzen. Wahrscheinlich hätte Francine gelacht, wenn er ihr das erzählt hätte. Denn gab es je eine Frau, die sich einem Mann so bedingungslos hingab? Und doch – und doch …

***

Tony registrierte den dünnen Kaffeestrahl, der immer noch auf den Kabinenboden tropfte. Er sah es und war dennoch ganz woanders. Der Duft dieser Frau, die er in seiner

Trunkenheit in diese missliche Lage gebracht hatte, dieser Duft nahm ihn gefangen, riss ihn hilflos zurück in das Reservat seiner schmerzhaften Erinnerungen: Francine, die ihn am

Flughafen erwartet hatte, wenn er wieder einmal unterwegs gewesen war. Dann hatte sie sich angeschlichen, tauchte plötzlich neben ihm auf, »Hallo Seemann,« hatte sie gegurrt und ihre exklusiven Beine bis zur Mitte des Oberschenkels aus dem Schlitz ihres Seidenrockes hervorgeschoben, »zehn Pfund und du kannst alles von mir haben, was du willst.« Tony schaute sie an, sein Herz raste und er fühlte, wie alles in ihm zerschmolz und dann fielen sie sich in die Arme, mit dieser Mischung aus Liebe und Begierde, die unvergessliche Tage und unbeschreibliche Nächte garantierte.

***

Oh Gott, das hatte er verloren und würde es nie wieder haben. Gab dieses verdammte Leben einem Mann nur deshalb etwas, um es ihm wieder zu entreißen?

Tony spürte, wie sich sein Mageninhalt in geschlossener Kolonne mit großer Entschiedenheit in Richtung Zunge bewegte. Speichel floss in seinen Mund. Er würgte.

»Schnell, beeilen Sie sich«, zischte die Stewardess und schob ihn in zur Toilettentür.

Tony taumelte los, die Hand vor den Mund gepresst.

Lucille schaute ihm mitleidlos nach. Diesen Trottel war sie losgeworden. Die Sache lief leichter als erwartet. »Verzeihen Sie, es tut mir unendlich leid …«, stammelte sie und schaffte es, einen feuchten Schimmer in ihre braunen Augen zu legen. Sie kniete nieder und begann in rührender Hilflosigkeit die Flecken auf den Beinkleidern des weißhaarigen Herrn mit einer Serviette zu betupfen.

»Bitte, Mademoiselle!« Montalban lachte und hob sie sanft in die Höhe. »Es war nicht ihre Schuld. Ich fürchte, unser junger Freund hat seine Fähigkeit zum Alkoholgenuss weit überschätzt. Bitte regen Sie sich doch nicht auf.« Montalban beugte sich vertrauensvoll vor. »Unter uns, ich besitze noch eine weitere Hose …«

Davon war Lucille überzeugt. Wer derart teuren Stoff von einem guten Schneider ordern konnte, brauchte einen begehbaren Kleiderschrank in Sozialwohnungsgröße. »Sie sind so nett zu mir«, schluchzte Lucille. »Aber es ist so grenzenlos peinlich. Und gerade auf meinem ersten Flug nach Bombay. Ich werde mich heute Abend in mein Hotelzimmer im Regency verkriechen und die Tür zuschweißen.« Montalban lachte. Seine vorher väterliche Manier hatte sich etwas gewandelt. Lucille war eine hübsche Frau, nein, sie war wirklich schön. Sie hatte einen Hüftschwung, der eine ganze Versammlung von Oxfordprofessoren in einen Haufen balzender Idioten verwandeln konnte, und Montalban war Mann genug, um das zu wissen. Er hätte sich übrigens nie in einen der balzenden Trottel verwandelt. Dafür hatte er zu viel südliches adliges Blut in den Adern. Montalban konnte Pferde zureiten, Hunde dressieren, er kannte die edle und tödliche Kunst des Stierkampfes, er war ein ausgezeichneter Fechter. Und aus genau diesen Bereichen bezog er seine Taktiken, wenn es um den Zusammenprall von männlichen und weiblichen Welten ging. Er genoss es, diese Schönheit vor sich knien zu sehen. Aber dieses Motiv war fast zu banal.

»Die besiegte Prinzessin, die vor dem breitschultrigen Assyrerkönig im Staub kniet …«, dachte Montalban. Dann vollendete er seinen stumm formulierten Gedanken: »… und die ihm in der ersten Liebesnacht den Dolch zwischen die Rippen stößt.«

»Bombay ist eine herrliche Stadt. Hätte Sie etwas dagegen, wenn ich heute mit einem Autogen-Brenner vor Ihrer Tür stehe, Ihre Tür aufschweiße und Ihnen die Stadt zeige? Wissen

Sie, ich habe eine Einladung zu einer ganz grauenhaften Gartenparty …« Montalban grinste plötzlich spitzbübisch. »Das ist es, Sie ruinieren mir mein Beinkleid und ich nehme Sie aus reinem Rachedurst mit zu dieser Party. Zusammen mit einer schönen Frau wirke ich nämlich viel eindrucksvoller als sonst. Und vorher schauen wir uns die Stadt an.«

»Und nachher …«, dachte Lucille. Sie warf ihm einen Blick zu, der in Romanen der Jahrhundertwende unter der Rubrik seelenvoll und innig aufgetaucht wäre, und stand dabei auf, damit er ihre Figur voll in den Blick bekommen konnte. »Das ist unglaublich nett von Ihnen, natürlich würde ich gern mitkommen, aber ich weiß nicht, ob ich die richtige Kleidung habe, und manchmal bin ich etwas unsicher in Gesellschaft, wissen Sie?«

»Du bist in der Gefahr, maßlos zu übertreiben, Lucille Chaudieu«, dachte Lucille Chaudieu.

»Du übertreibst maßlos, mein Täubchen«, dachte Montalban und sagte mit verbindlichstem Lächeln: »Also Sie sind einverstanden? Ich werde mich einige Stunden nach der Ankunft bei Ihnen melden, wenn Sie gestatten – im Regency, sagten Sie?«

Lucille nickte ihr Einverständnis und räumte mit ihrem Tablett den Gang.

Montalban schaute ihr nach. Diana, die Jägerin, die geschmeidige Herrin der Wälder, das passte zu dieser Frau. Montalban erlaubte sich die kleine Eitelkeit, Frauen in Kategorien antiker Göttinnen einzuordnen. Leider gab es zu viele Athenes und Hekates. Aber einer seltenen Diana zu begegnen war wirklich einmal aufregend. »Was willst du, meine Schöne?«, fragte sich Montalban und schloss die Augen. Er riss sie erschrocken wieder auf, als ob ein Flakgeschoss die Maschine zu treffen schien. Aber es war nur Tony Tanner, der sich schnaufend und erleichtert in seinen Sitz warf.

 

Tony nutzte seine Tagebucheintragungen seit vielen Jahren, um sich in manchen Situationen ein wenig geistige Klarheit zu verschaffen. So war es auch das Erste, was er nach der Ankunft in seinem Hotelzimmer tat. Dann meldete er sich bei der Direktion und stellte fest, dass man bereitstand, um mit ihm die notwendigen Verhandlungen über den Aufenthalt der ehemaligen Oberherrin Indiens zu führen. Natürlich fühlte sich das gesamte Personal vom Direktor bis zum Liftboy hoch geehrt, diesen Gast beherbergen zu dürfen. Entsprechend reibungslos lief alles ab. Tony hatte es mit Männern und Frauen zu tun, die zur gebildeten Elite ihres Landes gehörten. Hoch kultivierte, weltgewandte, mehrsprachige Kollegen, die Spaß an ihrem Beruf mit absoluter Professionalität verbanden. Wie immer bei solchen Begegnungen fragte sich Tony nach einer Weile, warum es in Indien Elend, Hunger und Korruption geben sollte, wenn dieser riesige Subkontinent solche Prachtexemplare der Gattung Mensch hervorbringen konnte. Er hätte seine Aufgabe in einer knappen halben Stunde erledigen können, hielt es aber für unhöflich. So zog er mit den Indern durch das Hotel, begutachtete Schlafräume und Badezimmer, drückte Toilettenspülungen, testete Klimaanlagen und schaute nach Positionen für Sicherheitsbeamte.

Drei Stunden zog die Gruppe durch das große, viktorianisch anmutende Hotelgebäude. Tony hatte seine beste Zeit seit Wochen, denn bald stellte sich die köstliche Mischung aus Konzentration und Munterkeit ein, die immer dann aufspringt, wenn eine Gruppe Menschen mit Freude an einer Sache zusammenwirkt.

Die Rückkehr in das Hotelzimmer wirkte daher wie ein Absturz. Tony füllte seine Notizzettel aus, machte sich Arbeit, von der er wusste, dass sie im Vorfeld des Besuches noch einmal von anderen gemacht werden würde. Aber er konnte die Zeit totschlagen. Totschlagen, dieses brutale Wort passte zu seiner Stimmung. Aber was kam nach der totgeschlagenen Zeit? Andere Zeiten. Ob es auch bessere sein würden?

Nachdem Tony Tanner die Strecke vom Fenster zur Wand und zurück oft genug abgemessen hatte, mit beiden Fäusten auf den Boden getrommelt hatte, bis das Fleisch blau anlief, und dem Etagenkellner klargemacht hatte, dass er, im krassen Gegensatz zu allen anderen Engländern, keinen Whisky bestellen wollte, wenn er auf den Boden schlug, fühlte er sich müde und schmerzhaft wach zugleich. Es war, als hätte er zu viel Kaffee getrunken. Kaffee – er dachte an die Stewardess, die war hübsch, aber bestimmt eine Zicke, aber sie roch gut und fühlte sich an wie Francine oder so ähnlich.

Schluss, zum Teufel. Tony bremste sich. Er brauchte Ablenkung. Da fiel ihm dieser unmögliche Mister Dorkas ein. Das war es. Noch nie vorher hatte Tony an den Herrn Dorkas so viele positive Gedanken verschwendet wie in diesem Moment.

Er fand den Zettel mit der Adresse, eilte in die Empfangshalle, um ein Taxi zu bestellen. Glücklicherweise wartete schon eines vor dem Portal. Tony ließ sich in den Sitz fallen, und während sich das Taxi dröhnend in Bewegung setzte, genoss er das Gefühl, einer kleinen Abwechslung entgegenzustreben.

Der Taxifahrer unterschied sich in seinem Kommunikationsbedürfnis wenig von seinen Kollegen im Rest der Welt. Tony erfuhr etwas über getürkte Wetten auf der Rennbahn, eine Liebesgeschichte zwischen zwei bekannten indischen Filmgrößen und über ein paar kleinere Krawalle in den schlechteren Außenbezirken der Stadt.

»Kali«, sagte der Fahrer. Als Tony fragend schwieg, fuhr er sogleich fort: »Die Kalianbeter haben hier nie eine besondere Rolle gespielt. Aber in den letzten Jahren hat sich ihre Zahl vermehrt. Vermutlich durch die Scharen von Bauern, die nach Bombay gezogen sind. Es gibt immer wieder Meldungen über Menschenopfer.«

Der Fahrer zuckte die Schultern, während Tony unbehaglich ein riesiges Kinoplakat betrachtete, auf dem eine üppige Schönheit einen leicht fülligen Jüngling anschmachtete, während ein Bösewicht im Hintergrund die Augen rollte und den Krummdolch schwang.

Der Fahrer überholte ein Eselsfuhrwerk, bremste hinter einem Chemietanker und scherte aus, um zu einem weiteren gewagten Überholmanöver anzusetzen.

»Warum fahren eigentlich keine Inder in der Formel-Eins«, stöhnte Tony und krallte sich an den Griff über der Türe.

Das Taxi passte exakt in die Lücke zwischen dem Lastwagen und einem städtischen Bus. Aus dessen Rückfenster schauten Schulkinder und amüsierten sich köstlich über den Europäer, der panisch, mit an den Leib gezogenen Beinen in seinem Sitz hing.

Der Fahrer brauchte keine Konzentration mehr zum Fahren und sprach weiter. Aus dem Auspuff des Busses kamen erstickend schwarze Wolken von Dieselabgasen.

»Man weiß natürlich nie, was wirklich hinter solchen Meldungen steckt. Rache vielleicht, ein Verbrechen, vielleicht wollte einer seine Ehefrau loswerden, ohne die Mitgift zurückzahlen zu müssen. Vielleicht hat die Organmafia zugeschlagen – obwohl die Organe der Slumbewohner keinen guten Ruf haben, zwangsläufig. Ja, aber ein Rest könnte durchaus mit diesen Kali-Verehrern zu tun haben.«

»Von den Kali-Anhängern halten Sie nicht viel?«, vergewisserte sich Tony.

»Ich bin Parse«, entgegnete der Fahrer knapp, so als ob damit die Sache zur Genüge erklärt wäre. Bevor Tony noch etwas sagen konnte, bog der Fahrer ab und kam nach einer Weile zu einer breiten, aber weniger belebten Straße. Er deutete auf ein Geschäft.

Tony betrat den Laden. Herr Dorkas hatte nicht übertrieben. Das hier war ein Schatzhaus. Direkt am Eingang lag der geschmacklose, überteuerte Schund, dazu bestimmt, als Jagdbeute von Pauschaltouristen neben dem röhrenden Hirsch oder der barbusigen Zigeunerin das Wohnzimmer zu zieren. Aber weiter hinten, wo der Laden dunkler war und die Regale enger standen, lagen kleine Kostbarkeiten. Handgroße Götterfiguren aus Metall, die an den Ecken blank poliert waren von den Händen, die diese Statuen seit Jahrhunderten in tiefer Verehrung berührt hatten. Es gab Bruchstücke von Tempelstatuen, scheinbar grobe Steinbrocken, die das Wunder eines Buddha-Antlitzes offenbarten, wenn man sie umdrehte. Es gab tönerne Kunstwerke der Bergstämme, bei denen unklar war, ob sie uralt waren oder neu, weil bei diesen Stämmen die Zeit stehen geblieben war.

»Darf ich Ihnen helfen?« Der Mann lächelte und bot, die Fingerspitzen vor der Brust zusammengelegt, einen Gruß dar.

Tony stotterte erst und erklärte dann, dass ein Mr. Dorkas ihm die Adresse gegeben hätte. Ob der Inder etwas verstand war unklar. Jedenfalls glaubte er nun, in Tony einen Kunstkenner vor sich zu haben und bot an, ihm die besten Stücke zu zeigen, die noch weiter hinten lagen.

Hinter dem Mann zwängte sich Tony durch die Regale.

Plötzlich ertönte von der Straße ein Ruf. »Sie entschuldigen«, sagte der Inder. Er setzte sich gemächlich in Bewegung.

Draußen erhoben sich Stimmen. Es gab ein Geschrei, jemand rannte aus dem Laden.

Tony wurde heiß. Irgendetwas ging vor. Irgendetwas stimmte nicht. Alle seine Befürchtungen, seine Ängste platzten wieder auf wie eine Eiterblase. Er lief los, krachte an ein Regal, riss etwas herunter, das hinter ihm auf dem Boden in tausend Scherben zerbarst. Er gewann den Hauptgang, orientierte sich und rannte auf den Ausgang zu. Blendende

Helligkeit traf ihn, als er aus der Tür trat. Er stolperte, fiel auf etwas Weiches, Warmes. Nicht schon wieder eine Stewardess, stöhnte er innerlich. Dann wünschte er, es wäre eine Stewardess gewesen. Seinetwegen sogar eine Religionslehrerin. Aber Hauptsache lebendig.

Tony rappelte sich auf. Er war über Leichen gestolpert. Es waren die Männer aus dem Laden, zumindest das erstaunte Gesicht des einen Mannes, mit den fürchterlich ins Leere starrenden Augen erkannt er. Sie waren erstochen worden. Gerade eben, jetzt …

Tony starte mit wilden Blicken um sich. War da ein hellhaariger Mann gewesen, der sich eiligen Schrittes entfernte? Er konnte es nicht genau sagen, denn langsam bildete sich ein Kreis aus Zuschauern. Der Kreis zog sich zu. Stimmen wurden wieder laut. Blicke trafen ihn und es waren keine freundlichen Blicke. Tony schaute an sich herunter. Er war von Kopf bis Fuß mit Blut besudelt. Blut, das noch in diesem Moment aus den fürchterlichen Stichwunden quoll.

»Aber ich doch nicht«, stammelte Tony. Er breitet die Arme aus, in dieser internationalen Geste von Unschuld und Hilflosigkeit. Aber der Blutfaden, der seinen Unterarm herunter lief und in einzelnen Tropfen von seinen Fingerspitzen auf die staubige Straße pladderte, machte ihn zu einer Karikatur eines Unschuldigen.

Die Menge begann zu schreien. Frauen kreischten und drohten, pressten ihren Kindern die Hand vor die Augen und drohten mit der freien Faust. Männer schauten sich an, suchten mit den Blicken das Einvernehmen des Waffenbruders, und schoben sich auf Tony zu. Ein Mann hielt einen Strick in der Hand. Ein Stein flog und fuhr krachend gegen die Schaufensterscheibe. Ein zweiter Wurf – es war eine kleine Rotzbacke, die sich halb hinter dem Sari der Mutter versteckt hielt – traf Tony schmerzhaft an der Schulter.

Für einen Augenblick, während Panik sich bis in die letzte Zelle seines Körpers ausbreitete, spaltete sich Tony Tanners Bewusstsein. Er sah sich selbst, schwebte wie ein Sterbender über dem Ort des Geschehens. Er sah sich selbst, dümmlich grinsend, mit ausgebreiteten Armen, vor drei Leichen. Er erkannte die Mordlust, die wie ein schwarzer Dampf über den Häuptern der Menge waberte, er erblickte die Gruppe von Männern, ein Kampfverband, eine kleine Armee Entschlossener inzwischen, die auf den vermeintlichen Mörder zuschritt.

Dann hatte er sein Bewusstsein wieder. Die dunklen Augen der Männer waren ganz nah.

Tony fuhr mit einem Schrei aus seiner Erstarrung auf. Nur der Weg zurück in den Laden war noch offen. Und den nutzte er. Er sprang los, stieß einen seiner Häscher zur Seite und tauchte in die dämmrige Kühle des Ladens ein. Nach einigen hastigen Schritten, die laut in der plötzlichen, erstaunten Stille klatschten, brach auf der Straße Gebrüll auf. Menschen hasteten hinter im her.

Tony trat die Tür eines Büros auf. Kein Fenster, ein abgeschlossener Raum. Zurück! Brüllend wie ein Irrer stürmte Tony aus der Sackgasse, erschreckend genug, um seine Verfolger für den Bruchteil einer Sekunde zurückprallen zu lassen. Das reichte. Tony setzte an ihnen vorbei und hastete einen Gang hinunter. Eine Ecke. Wohin? Hinter ihm johlten die Verfolger. Inzwischen waren sie nicht nur wütend, weil er gemordet hatte, sondern, schlimmer noch, weil er sie bisher an der Nase herumgeführt hatte. Die Sache wurde persönlich. Tony ließ sich an die Wand fallen. Sein Herz raste. Er keuchte. Aus den Augenwinkeln sah er den dunklen Block seiner Verfolger heranstürzen. Vor ihm war es Dunkel.

Tony hatte Angst. Er konnte die Verfolger riechen, eine Mischung aus Schweiß, Wut und Jagdtrieb. Er stürzte vorwärts ins Dunkle. Er stolperte, fiel schmerzhaft auf das Knie, raffte sich hoch, prallte gegen einen Widerstand. Holz. Eine Tür. Wo ist die Klinke. Fieberhaft tasteten seine Hände. Da, die Klinke. Er drückte sie herunter, riss an der Tür. Sie bewegte sich nicht.

Da, ein Schlüssel unter der Klinke. Tony drehte den Schlüssel.

Die Schreie der Verfolger dröhnten in seinem Kopf wie Explosionen. Mein Gott, warum geht diese verfluchte Tür nicht auf. Jetzt, sie geht auf, sie geht auf, sie geht nach innen auf, du Schwachkopf. Tony warf sich mit dem gesamten Gewicht seines Körpers nach hinten. Die Tür schwang knarrend auf. Licht fiel wie ein massiver Gegenstand in den Flur. Seine Verfolger waren so nah, dass die Ersten durch die offene Tür auf die Gasse taumelten, während andere auf Tony aufliefen. Unter dem Gesicht der Körper wurde Tony nach vorn geworfen und schlug gegen die Türkante.

Sein Bewusstsein schwand. Mit der instinktgesteuerten Entschiedenheit eines Reptils kämpfte sich Tony aus dem Gewühl von Menschenleibern. Er duckte sich, trat, stieß mit dem Ellenbogen in weiche Leiber oder krachend gegen erhitzte Schädel, stieß mit dem Finger in die Richtung von Augenhöhlen, kniff, spuckte und biss. Kurz gesagt, er imitierte einen gruppendynamischen Prozess in einer englischen Mädchenschule.

Er schaffte es bis zur Straße. Auf der einen Seite rappelten sich die Verfolger, die ihn überholt hatten, gerade auf und versperrten den Ausweg.

Tony Tanner rannte los. Seine Schenkel schmerzten, seine Muskeln schienen wie glühende Drähte unter der Haut zu liegen. Es war eine kleine Gasse zwischen drei oder viergeschossigen Häusern. Werkstätten lagen an beiden Seiten, kleine Ladengeschäfte, dazwischen eine Garküche, vor der sich eine Gruppe versammelt hatte. Die Menschen schauten erstaunt auf den Europäer, der blutverschmiert an ihnen vorbeihastete. Aus der Verfolgergruppe erhoben sich wieder erregte Stimmen. Tony konnte ausreichend Hindi, um zu verstehen, dass er hier als Mörder gebrandmarkt wurde, als Meuchler, den es zu fangen galt. Das Stimmengewirr wurde dichter, überholte Tony, lief ihm voraus. Jetzt war kein Erstaunen mehr in den Augen der Menschen, an denen er vorbeirannte. Jetzt sah er Verstehen und Entschlossenheit. Ein alter Mann trat Tony in den Weg, leise winkend, zitternd, tattrig, aber voller Vertrauen auf die Unantastbarkeit seines Greisenalters. Tony rammte ihn in der Art eines Rugbyprofis zur Seite.

Der alte Mann kippte zur Seite, riss im Stürzen die Ladentheke eines Gewürzhändlers um.

Eine Wolke scharfer Gewürze staubte auf, der Alte gab winselnde Schreie von sich. »Alles klar, Tanner, bei drei wachst du auf. Also ich zähle. Eins, zwei, drei!«

Ein heftiger Stoß. Das war kein Greis, der Mann war im besten Alter und hatte die Figur eines Ringers. Und er war wütend auf Tony. Tony taumelte von dem Anprall, stolperte über das grobe Pflaster, die Arme lächerlich und hilflos nach vorn gestreckt. Der Mann kam hinter ihn und stieß ihm die Beine weg. Tony knallte auf den Boden, trat zu und erwischte den Mann an seiner empfindlichsten Stelle. Der brüllte wie ein Stier und griff nach Tony. Der war inzwischen wieder auf den Beinen, sodass der andere nur noch einen Hemdenzipfel erwischte.

Tony strampelte, kam aber keinen Schritt weiter, er trat auf der Stelle und quiekte wie eine Ratte. Dann zerriss der Hemdenstoff, Tony schoss raketenartig vorwärts und konnte auf diese Weise den Ring von Menschen durchbrechen, der sich um ihn zusammengezogen hatte. Die Gasse vor ihm war frei.

Aber die Rufe überholten ihn wieder. »Nebengasse, Weg abschneiden«, konnte er vernehmen. Tony Tanner rannte, wie er noch nie im Leben gerannt war und wusste dennoch, dass alles vergeblich war. Sie würden ihn erwischen und in Stücke reißen. Warum also der Aufwand. Stehen bleiben und auf das Ende warten. Warum dieser verdammte Wunsch weiterzurennen, obwohl sein Herz raste, die Lunge nur noch krampfhaft die Luft einsog, jede Stelle seines Körpers aufgeschunden und voller Schmerz war.

Da, eine Abbiegung. Die musste er nehmen. Hinter ihm knatterte es. Er verstand nicht.

Dann fuhr es ihm eiskalt das Rückgrat hinunter. Ein Motor. Ein Zweitakter. Ein Dreirad. Sie jagten ihn mit einem Dreirad. Wie lange noch. Zehn Sekunden, zwanzig, dreißig Sekunden?

Das Knattern wurde lauter, untermalt vom Johlen der Besatzung.

Die Abzweigung, sein Schwung ließ Tony fast gegen eine Hauswand prallen. Ja, da liegt eine Rohrleitung auf der Straße.

Steckt euch euer Dreirad irgendwo rein, ihr Säcke, das bringt mir mindestens zwanzig Sekunden Vorsprung, bis ihr über die Rohrleitung kommt.

Die Straße teilte sich. Verflucht. Der Supermarktkasseneffekt – du wählst immer die Schlange, die langsamer vorwärtskommt, Tanner. Also was wählst du jetzt?

Tony keuchte in die Gasse und erkannte im selben Moment, dass er verloren hatte.

Triumphierende Stimmen erschallten. Sie wussten, dass er sich in dieser Sackgasse gefangen hatte.

Das war’s dann wohl, Tony Tanner. Hoffentlich wird mein Gesicht nicht entstellt, falls meine Eltern mich identifizieren müssen. Wird Francine um mich weinen? So ein elender Zufall.

Tony hatte den Bettler, der zusammengesunken unter einer Schwelle saß, für einen schmutzigen Sack gehalten. Sei es drum. Tony lief keuchend aus und wartet auf das Ende. Der Sack stand plötzlich neben ihm.

Dann wurde Tonys Arm ergriffen. Der Bettler hatte in eine der blutenden Schürfwunden gepackt, die Tonys Arm bedeckten. Tony brauchte eine Weile, bis er erkannte, dass die kreischende Stimme seine eigene war, die Panik, Wut und Schmerz in den Himmel über Bombay schrie.

Der Bettler fasste Tonys Arm mit einer Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte.

Tony ließ sich von ihm in einen Eingang schubsen, in einen engen Raum. Die Tür fiel krachend hinter ihm zu. Gefangen? Gerettet? Tony fühlte sich verzweifelt, schmutzig und elend. Seine Schmerzen spürte er aber nicht, so alarmiert und taub zugleich waren seine Nerven.

 

Beißender Abgasqualm drang in den Verschlag und nahm Tony fast den Atem. Mühsam unterdrückte er ein Husten.

Der Motor draußen heulte in höchsten Drehzahlen. Jemand spielte am Gasdrehgriff.

Tony drückte ein Auge an einen Ritz in der Tür. Er erkannte den Bettler, der gegen den Maschinenlärm anschrie und gestikulierte.

Auf dem Dreirad saßen junge Männer mit Messern und Knüppeln, der Fahrer ließ die Motordrehzahl zu einem wütenden Crescendo anschwellen und begann in der engen Gasse zu drehen. Was wollte er? Die Menschen schrien und schienen ihre Jagd zu organisieren. Der Bettler machte weit ausgreifende Bewegungen, zeigte auf eine gegenüberliegende Mauer und begann dann mit einer Pantomime, die eine Mischung aus Reinhold Messner und Spiderman vor das Auge brachte. Die Verfolger verständigten sich. Wenn ihr Jagdeifer auch vielleicht schon im Abklingen war, diese Schmach galt es auf jeden Fall zu rächen. Der Mann mit der Ringerfigur erschien. Er hatte offensichtlich noch Schmerzen und ging vornübergebeugt mit einwärts gebogenen Knien. Dennoch riss er die Organisation an sich. Er überbrüllte alles, teilte die Menge in Gruppen auf, stieß Unwillige in ihre Abteilung und scheuchte das Dreirad los.

Als ob jemand ein Loch in eine Vase geschlagen hätte, lief der Lärm aus der Gasse ab.

Tony sackte auf dem Boden zusammen. Was sollte das alles?

Der Bettler wartete eine Weile, dann öffnete er die Tür, schlurfte an Tony vorbei, zog einige Bretter zur Seite und stieß eine andere Tür auf, die hinter den Brettern verborgen gewesen war. Irgendwoher nahm er einen indischen, ehemals wohl roten Blouson und bedeutete Tony, das Kleidungsstück über sein von verkrustetem Blut und Schmutz überzogenes Jackett zu ziehen. Das Blouson reichte Tony bis fast zu den Knien, und der Bettler reichte Tony einen Strick, der fortan als Gürtel diente. Er winkte Tony, der nun tatsächlich recht ordentlich und vor allem unauffälliger aussah, und führte den Widerstrebenden schließlich an der Hand durch einen Gang.

Sie durchquerten die Hinterhöfe der Slums, stiegen über Müllhaufen, kamen durch hallende Säulengänge, in denen das Unkraut aus den Fugen wucherte und wo Affen beleidigt fauchend in den Nischen hockten.

Schließlich traten sie auf eine breitere Gasse. An einer öffentlichen Wasserstelle, die aus zwei Wasserhähnen bestand, konnte sich Tony etwas waschen. Er folgte seinem Führer weiter durch ein Labyrinth von Sträßchen, Gassen und Höfen.

Diese Gegend war noch kein Vorort, aber auch kein Slum mehr. Zwischen einigen gemauerten Häusern lehnten sich stabile Hütten mit festen Dächern aneinander. Es gab ein primitives, aber funktionierendes Netz von Stromleitungen, vor jeder dritten oder vierten Hütte ragte ein Wasserhahn aus dem Boden, und die Bewohner hatten sogar einen Abflusskanal gegraben.

Langsam fiel die Anspannung von Tony ab, und der körperliche Schmerz gewann wieder die Oberhand. Er fühlte sich völlig zerschlagen, aber weitaus schlimmer war die innere

Unsicherheit, die Empörung, der Verlust an seelischem Gleichgewicht.

Vor einigen Stunden hatte er sich noch um den Badekomfort des britischen Staatsoberhauptes gesorgt, dann wäre er fast gelyncht worden – und nun hatte er seine Hand vertrauensvoll in die schmutzige Pranke eines Bettlers gelegt, den er selbst unter Aufbietung seines geballten europäischen Gewissens wohl anderweitig glatt übersehen hätte.

Der Bettler schob Tony sanft in eine der Hüttenstraßen. Eine gewaltige Rohrleitung lief auf Eisenständern den Weg entlang. Der Mann zeigt in eine Richtung und erklärte dabei etwas. Tony verstand kein Wort, zumal aus dem fast zahnlosen Mund des Bettlers Speichel in hohem Bogen hervorzischelte. Aber Tony verstand, das war die Richtung in die Stadt.

Ein Schluchzen der Erleichterung drang aus seiner Kehle, seine Augenwinkel wurden feucht. Der Bettler legte den Kopf schräg und schaute ihn unverwandt an. Tony war wütend über die Tränen, die jetzt ihren Weg über seine verschwitzte Wange zeichneten, aber er war zu erschöpft, um sich gegen seine Gefühle zu wehren.

»Hohoho«, machte der Bettler und zeigte seine beiden verbliebenen Schneidezähne. Dann stupste er Tony mit einer kameradschaftlichen Geste an die Schulter, ein »Na, Kumpel, haben wir das nicht fein hingekriegt?«, umarmte Tony und schob ihn dann in Richtung Stadt.

Diese Umarmung, diese so überraschende Geste menschlicher Wärme, gab Tony etwas Kraft zurück. Er setzte Schritt auf Schritt vorwärts. In seiner Verkleidung fühlte er sich sicher.

Dann fiel ihm ein, dass er den Bettler belohnen musste. Bettler brauchen Geld. Er hob das Blouson an und tastete in seiner Hosentasche. Tatsächlich, da waren die Geldscheine. Mehr als dieser Bettler, der ihm das Leben gerettet hatte, je besessen hatte oder je besitzen würde.

Tony drehte sich um.

Aber die Lumpengestalt war schon verschwunden.

Die Rohrleitung gab ihm Schatten, obwohl sich die Sonne inzwischen schon senkte. Es roch nach dem Rauch von Herdfeuern, nach scharf gewürztem indischen Essen. Aus den

Hütten dudelten Transistorradios, und die erregten Stimmen einer einheimischen Seifenoper wehten wie übermäßig bunte Vorhänge aus den Fensteröffnungen.

Irgendein Gebäude überragte die Hütten, und die Rohrleitung machte einen ehrfurchtsvollen Bogen um die pyramidenartige Spitze. In Tony erwachte Neugier. Dieser Tempel, denn genau das war es, musste uralt sein. Und noch vor wenigen Jahrzehnten musste er weit vor der Stadt verborgen im Urwald gelegen haben, bevor die ständig ausufernde Metropole auch ihn in sich aufgesaugt hatte.

Beim Näherkommen hörte er rhythmisches Trommeln, das Tony Tanner in seinen Bann zog. Er umrundete die umstehenden Hütten, fand den Zugang zu dem Portal und trat über einige Stufen in eine Vorhalle. Irgendwo einen Moment sitzen, einen Moment ausruhen.

Tony betrat den Tempel in der Hoffnung auf etwas Ruhe und Rast. Es roch nach Kerzen, Ölfunzeln und Weihrauch. Aber da gab es noch einen weiteren Geruch, den er nicht genau einordnen konnte und der dennoch seine Instinkte merkwürdig belebte.

Einige Beter, zumeist Frauen, standen vor kleinen Steinstatuen. Niemand beachtete ihn.

Tony drang weiter vor. Er ging vorwärts und verfluchte mit jedem Schritt seine soeben erwachte Neugier. Aber nun war es zu spät. Aus einigen Seitenhallen des Tempels schritt eine Schar Menschen und wandten sich in seine Richtung. Tony wurde mitgeschwemmt, zuerst wurde er gedrängt, dann schwamm er förmlich vor der Menschenwelle, bis er in einem Innenhof angelangt war.

Verzierte Säulen umgaben den Hof. Auf der Gegenseite war eine rot und gelb bemalte Doppeltür. Neben der Tür saßen die Trommler, deren Spiel ihn angelockt hatte. Auf der anderen Seite der Tür saß ein weißbärtiger alter Mann. Er war nackt, aber sein Körper war über und über mit weißen Zeichen bemalt. In der Hand hielt er eine Reihe langer Holzbrettchen, die miteinander durch Stricke verbunden waren.

Zwei Männer brachten einen Holzbottich, schaufelten mit bloßen Händen roten Staub heraus und begannen, damit vor der Tür einen größeren Kreis zu streuen. Sie ließen sich viel Zeit, sie arbeiteten sorgfältig und voller Ehrfurcht. Die Menge wartete schweigend. Nicht einmal die Kinder, die sich zwischen die Beine der Erwachsenen gedrängt hatten, gaben einen Laut von sich.

Tony blickte sich vorsichtig um. Er sah auf die ausgemergelten Gesichter von Tagelöhnern, die nicht einmal ein Dach über dem Kopf hatten und mit ihren Familien auf den Gehsteigen Bombays nächtigten. Er sah Frauen, die vier oder fünf Kinder zur Welt gebracht hatten, mit Leibern, die verbraucht und unförmig waren. Ihre Gesichter wirkten uralt, obwohl sie wahrscheinlich jünger waren als er selbst. Er sah die Alten mit ihren zahnlosen Kiefern und den eingefallenen Wangen, vor deren Augen ein Leben in Schmutz, Hunger und Not einen Schleier von Abstumpfung gelegt hatte, sodass sie wie die verdreckten Fenster eines verlassenen Hauses nur noch Leere zu verhüllen schienen. Ein Stück des Nachmittagshimmels schimmerte in dem Viereck, das im Hofdach offen geblieben war.

Tony entdeckte den Kondensstreifen eines Düsenflugzeugs, der sich weiß, wie ein Kratzer auf einer Emailleplatte, durch das dunkle Blau zog.

Welcher Irrsinn, fuhr es Tony durch den Kopf. Da oben fliegen Hunderte von Leuten durch die Stratosphäre, lassen sich von hübschen Stewardessen teures Gesöff servieren, und ich schaue einem Ritual zu, das vielleicht schon existierte, bevor die arischen Eroberer an den Grenzen Indiens erschienen.

Die Trommeln verstummten. Der Kreis war geschlossen. Die Männer brachten den Bottich durch einen Nebeneingang hinaus. Irgendwo meckerte eine Ziege. Tony verstand.

Bloß nicht das, dachte er. Er wollte weg, aber die Menschen hinter ihm standen eng gepresst wie eine Mauer, und jede Bewegung wirkte in dieser Atmosphäre schweigender Erwartung doppelt und dreifach störend.

Es gab keinen Ausweg. Er musste es ertragen. Und es kam so, wie Tony es befürchtet hatte. Die beiden Tempeldiener schleiften einen Ziegenbock herein. Es war ein riesiges, schwarzes Tier, von dem ein widerlicher, scharfer Gestank ausging und den ganzen Hof erfüllte. Die Männer brachten den Bock in den Kreis, wobei sie darauf achteten, die rote

Markierung nicht zu verwischen. Dann blieben sie im Kreis stehen. Der Bock verharrte mit zitternden Flanken ruhig, nur der Schwanz pendelte nervös, die gespaltenen Pupillen in dem hässlichen Kopf schienen die Zuschauer zu mustern.

Die Tür flog auf. Dann ging alles schnell. Zwei Männer, die kurze weiße Hosen trugen und mit breiten roten Wollbändern quer über den Schultern geschmückt waren, traten in den Hof. Sie bezogen im Kreis Position. Der Priester begann mit singender Stimme ein Gebet vorzutragen.

Tony verstand nichts von diesem uralten Sanskrittext, außer einem oft wiederholten Kali Ma.

Nun erschien ein weiterer Mann, gekleidet in Schwarz und Rot. Zwei Messer steckten in seinem Gürtel. In der Hand hielt er ein breites Schwert. Ohne den Moment eines Zögerns schritt er zu dem Ziegenbock, hob in einer fließenden Bewegung die Waffe und schlug dem Tier mit einem einzigen Hieb den Kopf ab. Der Schädel schlug dumpf auf den Boden, ein Blutstrahl schoss aus dem offenen Hals, stieg und fiel rhythmisch unter den letzten Schlägen eines starken Herzens und versiegte dann langsam. Die Tempeldiener hielten den Kadaver aufrecht, bis auch das letzte Tröpfchen Blut in den roten Kreis gesickert war.

Jetzt stieg der Geruch auf, den Tony vorhin gewittert hatte. Blut. Wieder einmal an diesem verfluchten Tag stieg Panik in ihm auf. »Kali Ma« intonierte der Priester.

Mutter Kali. Er war in einen Kali-Tempel geraten. Einen Tempel. Wo die schreckliche, schwarze, blutdürstige Göttin Kali verehrt wurde. Kali, die Zerstörerin, Kali, die Tänzerin auf den Leichenfeldern dieser Welt.

Immer noch war die leiernde Stimme des Priesters der einzige Laut. Aus einem Mauerloch flitzte eine fette Ratte und hob schnuppernd die Nase.

Die Tempeldiener hoben den Kadaver des Ziegenbocks auf und warfen ihn in den Hof, außerhalb des Kreises. Der Schädel flog hinterher. Er krachte gegen eine Steinumfassung. Ein Horn brach ab und schlitterte über den Hof. Die Ratte verschwand kurz und war sofort wieder da.

Die Stimme des Priesters brach ab. Er legte seine Holzbrettchen zur Seite, hob die Hände und ließ sie mit einem lauten Klatschen zusammenfallen. Eine Bewegung ging durch die Menge. Wie es die eng gedrängten Menschen schafften, war Tony ein Rätsel, aber alle fielen in dieses Klatschen ein. Es hatte nichts Aufpeitschendes, sondern erinnerte eher an die dumpfen Paukenschläge einer militärischen Trauerfeier.

Von dem Schwert des Opferpriesters tropfte noch das Blut. Er blieb ruhig, während die beiden anderen Männer an ihn herantraten, die Messer aus seinem Gürtel zogen und wieder Position einnahmen, während sich der Schwertträger durch die Tür zurückzog und sie verschloss.

Das Klatschen wurden schneller, lauter und erregender. Ein dumpfer Ton drang aus den Kehlen der Umstehenden. Die beiden Männer schwangen ihre Messer und begannen sich zu umrunden. Sie machten große Schritte, die an pantomimische Darstellungen von Tieren erinnerten, sie sprangen und ließen die Messer kreisen. Tony hatte es geschaudert, als er die blinkenden Klingen sah und an die Weichheit der nackten, braunhäutigen Körper dachte, die sich so lebendig und geschmeidig in ihrem roten Kreis bewegten.

Der Anblick und die irreale Atmosphäre des Tempels brachten Tony Tanner in einen merkwürdigen Schwebezustand. Die Ereignisse des Tages verblassten. Von den Menschen, die ihn umstanden, ging ein zwingender, ansteckender Strom aus, der ihn mitnahm und dem er sich nicht entziehen konnte. Er wurde für Momente eins mit der Menge, manchmal glaubte er, zu verstehen, doch wenn er sich Erklärungen suchte, fand er keinen Zipfel der Erkenntnis mehr.

Noch einmal steigerte sich das Klatschen, die Trommeln fielen ein, der Priester setzte erneut zu einer Beschwörung an. Die Tür flog auf. Sechs Männer trugen ein Gestell herein, auf dem eine Statue befestigt war. Tony sah sie und erschrak.

Ja, das war sie. Kali, die Schreckliche. Das verzerrte Gesicht schwarz, die Augen aufgerissen, die Zunge hing, gefährlich rot bemalt, aus dem Mund, der in einem stummen Kampfschrei eingefroren war. Zwischen den Lippen schimmerten haifischartige Zähne. Die Gestalt war nackt. Unter dem üppigen Busen hing ein Totenschädel an einer Knochenkette.

Die Göttin tanzte. Ihre vier Arme hielten Waffen und abgeschlagene Köpfe, ihre Füße zermalmten in der Ekstase der Zerstörung Leichen und Schädel.

Schreie steigen aus den Reihen der Zuschauer. Frauen, zahnlose Greisinnen und junge Mädchen kreischten und trällerten, wie Tony es von Nordafrikanerinnen kannte. Diese girrenden Schreie, die schon die Frauen von Troja ausgestoßen haben mochten, wenn ihre Männer die Leichen erschlagener Griechen durch den Staub der Stadt schleiften. Schreie, die zu Gewalt aufforderten, zu Grausamkeit anstachelten, zur Raserei führen wollten. Schreie, mit denen man Männer in die Schlacht schickte oder den Tod gefangener Gegner am Marterpfahl bejubelte.

Die Atmosphäre, die eben noch so ruhig und gelassen gewesen war, begann zu brodeln und zu kochen. Das Klatschen dröhnte in den Ohren, die Schreie stießen wie spitze Nadeln bis in das Hirn, das dumpfe Stöhnen, als würden die letzten Seufzer der Gemarterten imitiert, riss mit. Die Erregung stieg in Wellen auf, umbrandete den Hof, sog jeden Einzelnen in einen Strudel. Hier waren keine einzelnen Menschen mehr, es war auch keine Masse, keine Menge, in diesem Tempelhof stand ein neues, einziges Wesen, gefangen und gebunden und geschaffen und angetrieben von dieser Aura der Raserei.

Tony spürte das Dröhnen wie einen körperlichen Gegenstand, der ihm auf den Bauch drückte und sein Trommelfell in Vibrationen versetzte. Seine Hände zuckten und wollten mitklatschen, als hätte sich eine fremde Macht seines Nervensystems bemächtigt und würde nun die Impulse geben.

Die Kalistatue wurde jetzt im Innenhof herumgetragen. Die schwitzenden Männer liefen durch die Blutlachen auf dem Boden, drehten sich im Kreis, bis ihre Füße von einem Gemisch aus Sand und Blut bedeckt waren und wie unförmige Klumpen wirkten. Schwankend und laut keuchend drehten sie erneut und führten ihre Göttin an den Zuschauern entlang.

Ganz nahe kamen sie an Tony vorbei, der in der ersten Reihe stand. Der Totenkopf an der Kette war ohne Zweifel echt. Halb betäubt fuhren seine Blicke an dem schlanken Leib der Göttin entlang, nur um wieder von Abscheu und Furcht gepackt zu werden.

Deutlich erkannte Tony zwischen ihren Oberschenkeln, an ihrem Schamdreieck, ihrem Venusdelta, dem Zielpunkt männlichen Trieblebens, schimmernde weiße Eberzähne.

Die Vagina dentata, fuhr es Tony durch den Kopf, die Kastrationsmaschinerie, das Drachenmaul aller Macho-Albträume, die Altersversicherung sämtlicher freudianischer Therapeuten und ihrer von teuer bezahlenden Kunden blankgescheuerten Ledersofas.

Tony bremste sich gerade noch, bevor er sich in der instinktiven Bewegung des Michael-Jackson-Griffes von der Unversehrtheit seiner persönlichen Ausrüstung vergewissern konnte.

Die Statue stampfte vorbei. Vor dem Nebeneingang drehten die Träger erneut und blieben stehen. Die Göttin schwankte ein wenig, vielleicht weil die erschöpften Träger nicht ruhig stehen konnten, vielleicht auch, weil sie von dem mitreißenden Lärm der klatschenden Hände erfasst worden waren.

Die Kämpfer im Kreis warfen sich vor der Göttin zu Boden. Sie blieben einige Herzschläge lang ausgestreckt, regungslos, den Kopf auf den Boden gepresst. Dann sprang der Erste auf, und bevor der andere ganz auf den Beinen war, erwischte ihn ein Tritt in die Magengrube, der ihn taumeln ließ. Er antwortete mit einem gezielten Messerstich, der den Arm des Gegners mit einer klaffenden Wunde zurückließ. Dies war kein Tanz mehr, dies war ein Kampf auf Leben und Tod. Die Kämpfer umkreisten einander, duckten sich, sprangen vor, fintierten, machten Ausfälle und zogen sich mit raubtierhafter Geschmeidigkeit zurück.

 

Tony verstand nicht viel von diesem Spiel, aber er erkannte, dass diese Männer Meister waren, tödliche Feinde für jedweden, der nicht so geschickt mit der Klinge war wie sie.

Plötzlich fiel Tony ein Abschnitt aus einem Buch ein, das er vor langer Zeit einmal gelesen hatte. Was war es noch einmal? Graves? Nein, der nicht. Frazer, genau Frazer, hieß der Autor, und sein Buch hatte den Titel »Der goldene Zweig«. Bevor Tony damals ermüdet die gewaltige Schwarte zur Seite gelegt und nie wieder aufgenommen hatte, hatte er die Anfangsseiten überflogen. Da ging es um den Wächter eines antiken Tempels. Diese Position, wenn er sich recht entsann, wurde nur durch Kampf entschieden. Ein Mann tötete den alten Wächter und wurde somit selbst zum Herrn des Tempels. Bis irgendwann einmal ein besserer Gegner kam. Es war eine Kette, die durch Blut und Tod verbunden war. Richtig, Frazer hatte da voll in den Vorrat romantischer Versatzstücke gegriffen. Ein gehetzter Mann, der mit gezücktem Schwert nächtliche Wache rund um das Heiligtum geht.

War er hier Zeuge eines ähnlichen Vorgangs? Der eine Kämpfer jedenfalls, der ältere offensichtlich, trug schon viele Narben. Noch war nichts entschieden. Die Kämpfer bluteten aus einigen Schnittwunden, ihre einst weißen Hosen waren von roten Streifen durchzogen. Aber es gab keinen tödlichen Stich, keine Verwundung, die einen der beiden Kämpfer gelähmt hätte.

Tony hatte einmal in der Nähe des Piccadilly-Zirkus einen Spielsalon betreten, und angezogen von den seltsamen Bewegungen der Spieler hatte er sich einen Helm aufgesetzt und war in die Welt eines Computerspieles abgetaucht. Bald waren Dinosaurier erschienen und er hatte voller Panik vergessen, dass dies ein Spiel war, dass er den Helm nur einfach abzunehmen brauchte, um zurück in die Wirklichkeit zu kommen. Jetzt war es genauso. Aber es gab nicht einmal einen Helm, den er vergessen konnte.

Ein harter Stoß traf Tony in den Rücken. Er kippte nach vorn, verlor das Gleichgewicht und stürzte von der niedrigen Umrandung in den Hof. Wer immer es war, der ihn getreten hatte, er war immer noch hinter ihm und stieß Tony weiter.

Tony stolperte vorwärts und landete in dem Ring der Kämpfer.

Eine Stimme schrie in Hindi. »Ein Weißer, ein Gegner, tötet ihn«, forderte sie.

Ein Weißer! Erinnerten sich diese Menschen an den gnadenlosen, blutigen Krieg, den die Engländer in rücksichtslosester Manier gegen die Kali-Anbeter geführt hatten?

Egal, nur raus hier. Tony riss sich selbst aus dem Bann, der ihn gefangen gehalten hatte.

Er peilte die Träger der Statue an, die sich am wenigsten von allen bewegen konnten. Er kam an ihnen vorbei, erreichte den Nebeneingang und stürzte ins Dunkle. Er kam in einen Stall, dessen durchdringender Geruch keinen Zweifel daran ließ, dass hier die Opfertiere eingestellt wurden.

Die Holzwand bot keinen großen Widerstand, als sich Tony gegen sie warf. Er landete ihn einer stinkenden Pfütze menschlicher Fäkalien, raffte sich schüttelnd auf und rannte weiter.

 

Tony Tanner befand sich in einem Albtraum. Er war in einer Zeitschleife gefangen, die in ihn gnadenloser Abfolge zu neuen Fluchten zu zwingen schien.

Seine Erinnerung war gnädig und speicherte die Bilder nicht mehr. Tony rannte so schnell er konnte, und hinter ihm, wieder einmal, drängten sich die Verfolger, allen voran die beiden Messerkämpfer.

Wenn er es etwas näher in die Stadt schaffte, zu einem Bahnhof – von irgendwo war doch der Pfiff einer Lokomotive in die Stille des Tempels gedrungen – zu einer Omnibushaltestelle, zu einem Taxisammelplatz, dann wäre er gerettet.

Aber er würde nicht gerettet werden. Sie kamen näher. Er konnte ihren Atem im Nacken spüren. Eine vorgestreckte Messerspitze ritzte seine Schulterblätter.

Plötzlich war dieser Mann da. Ein hochgewachsener, kräftiger Europäer. Eisblaue Augen blitzten Tony an. Der Mann hielt eine lange, schwere Eisenstange in den Händen, ließ Tony passieren und senkte dann blitzartig die Stange wie eine Barriere. Die Verfolger rannten gegen das Hindernis, konnten es aber nicht fortdrücken, weil der Weiße es in einem Mauerloch blockiert hatte.

Noch niemals zuvor hatte Tony einen Menschen gesehen, der so gnadenlos kämpfte wie dieser Mann. Die Stange klirrte zu Boden. Einer der Messerkämpfer stieß nach dem Weißen. Der packte den Arm, lenkte ihn um und riss mit dem anderen Arm den zweiten Messerträger in die Bahn des Stiches. Der Getroffene schrie auf, spie Blut und fiel zu Boden. Bevor er den Boden berührt hatte, war sein Kampfgefährte auch tot. Der Weiße hatte ihm den stahlhart vorgestreckten Zeigefinger in das Auge gestochen, tief bis in das Gehirn.

Die Menschen wichen zurück und begannen schrill zu schreien. Die eintretende Verwirrung nutzen Tony und sein Retter. Der Mann deutete schweigend auf eine Leiter an einem der Stützpfeiler der Rohrleitung. Sie kletterten hoch und erreichten das Rohr. Tony kletterte als Erster. Er kam nur langsam voran, denn seine Hände zitterten und erlaubten es ihm kaum, die rostigen Sprossen sicher zu fassen. Der Weiße kam hinter ihm. Ein- oder zweimal hörte Tony ein Krachen, als die Kampfstiefel des Weißen einem Verfolger die Nase eintraten.

Dieser Mann war gnadenlos, aber auch effektiv. Er tötete ohne Gefühl, aber auch ohne Lust und er tötete nur, wenn er es für nötig hielt. In diesem Fall reichten eine gebrochene Nase und ein zerschmetterter Kiefer, um die Verfolger auf Distanz zu halten.

Das Rohr war breit genug, um darauf zu laufen. Aber es war auch glitschig, und die beiden Männer hatten keine Zeit, ihre Füße mit Bedacht zu setzen. So wäre Tony fast abgerutscht, hätte ihn der andere nicht gehalten und hochgezogen.

Sie eilten über die Hüttendächer, verfolgt von einer tobenden Menge, die sich auf dem Weg zusammenrottete und mit allem warf, was sie irgendwie in die Hände bekam. Steine krachten gegen die Wand und hinterließen ein tiefes, unheimliches Dröhnen, das durch das Rohr auf- und abschwang. In vorsichtiger Entfernung waren auch einige Leute auf das Rohr geklettert. Dann machte die Leitung einen Bogen. Unter ihnen war ein Bahndamm mit mehreren Gleisen.

Die Verfolger blieben zurück. Das war nicht mehr ihr Revier. Der Weiße hatte die Führung übernommen. Tony trottete hinterher. Keiner sprach ein Wort. Tony war zu erschöpft, und der andere hatte offenbar kein Interesse an einer Unterhaltung.

Schließlich senkte sich die Rohrleitung und verschwand in einer Böschung. Die beiden Männer kletterten die Schräge hoch und befanden sich an einer Straße, über die der Feierabendverkehr rollte.

Zwischen den Häusern blendete die untergehende Sonne hervor und ließ die Schatten der Autos als groteske Verzerrungen über den Gehweg hüpfen.

»Hier lang«. Das war das erste Mal, dass der Mann überhaupt etwas gesagt hatte.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll …«, begann Tony zu stammeln.

»Dann halten Sie den Mund.« Das klang nun nicht besonders freundlich, aber das wunderte Tony kein bisschen. Schließlich wusste er, dass die schleimige Masse am rechten

Zeigefinger des Mannes eine Mischung aus Augeninhalt und Gehirn sein musste.

Der Mann lotste ihn in eine Nebenstraße.

Was will der mit mir, dachte Tony. Wenn er mich nicht gerade herausgehauen hätte, würde ich denken, dass er mir eins über den Schädel geben will, um mich auszurauben.

»Es gibt einige Fragen«, sagte der Mann.

»Bitte, sofort, aber können wir uns nicht ein etwas lauschigeres Plätzchen aussuchen?«

»Nein.«

Der Mann kam näher. Das Bedrohliche der Situation wurde fast überwältigend, Tony wich zurück.

»Vorsicht!«, rief der Unbekannte.

Aber der Taxifahrer hatte aufgepasst. Tony wurde rückwärts in die geöffnete Tür des Wagens gerissen, und bevor er etwas sagen konnte, sauste das Taxi los.

Der große Mann schaute ihnen bewegungslos nach.

Tony brauchte einige Zeit, bis er die Tür des Wagens richtig schließen konnte. Er war völlig erschöpft.

Dann erst schaute er den Fahrer an. Es war der Parse, der in zu dem Antiquitätenladen gebracht hatte.

»Ich dachte, Sie könnten ein Taxi zum Hotel gebrauchen.«

»Völlig zutreffend«, stotterte Tony. »Aber woher wussten Sie, dass ich …«

Der Fahrer lächelte ihn milde an und machte dann eine raumgreifende Bewegung mit der einen Hand, während die andere schaltete und ein Knie am Lenkrad war. »Bombay ist voller Menschen. Da spricht sich so was schnell herum.«

»Das sind mir zu viele Zufälle. Das gefällt mir nicht an der Geschichte.«

»Wenn Ihnen diese Geschichte nicht gefällt, dann schreiben Sie doch eine andere.«

»Mach ich, mach ich«, seufzte Tony. »Aber erst im Hotel.«

Zurück im Hotel hatte Tony sich über das Treppenhaus, das eigentlich nur für Feuerfälle vorgesehen war, in seine Suite geschlichen. Er hatte sich im Laufe der Jahre angewöhnt, seinen Schlüssel nie an der Rezeption abzugeben. So, das hoffte er, wusste niemand, ob er in seinem Zimmer war oder nicht, das hielt Diebe ab.

Nun lag Tony in einer Wanne, in die er so ziemlich alles hineingekippt hatte, was Schaum und Duft versprach. Der Erfolg war mäßig, denn einige seiner Wunden platzten erneut auf, und bald lag er in einem Gemisch aus Wasser, Blut und Badezusätzen, mithin einer Brühe, die eher als Süppchen für Frankensteins Monster gepasst hätte.

Vor dem Spiegel unterzog sich Tony einer eingehenden Untersuchung. »Wenn ich ein Gaul wäre, würde man mich notschlachten«, stellte er matt grinsend fest. Aber in dem Internat, in dem er einige Jahre durchlitten hatte, musste man oft genug blutiges Rugby spielen, um nicht als Schwuler dazustehen. Das hatte Tony für solche Momente wie diesen gehärtet.

»Nicht für die Schule lernen wir«, brabbelte er, um dann an die Vagina dentata der Kali zu denken und seine Unversehrtheit in gewissen Körperregionen mit einem kindischen Kichern zu bejubeln.

Da war er wieder. Wozu also diese ganze verdammte Höllentour, um Francine zu vergessen, bloß damit er nachher aussah wie ein Stock-Car nach einem Mega-Crash – und doch wieder an sie denken zu müssen. Francine, Dorkas, ein Bettler, Anschläge auf sein Leben, Leichen, Schädel, Gehirn. Parsischer Taxifahrer. Ein Fremder mit eisblauen Augen, ein gnadenloser Krieger. Tonys Gehirn raste. Die furchterregenden Ereignisse, gehörten sie zusammen? Welche Rolle spielte er selbst, und waren die Zufälle eigentlich keine Zufälle? Er dachte an das Gesicht des Alten, der in Tonys Burberry-Mantel gestorben war. Die Fratze des Todes.

Mit eine wütenden Tritt fegte Tony seine ruinierte Kleidung in eine Ecke des Baderaumes. Dann stutzte er, ging zu dem Kleiderhaufen, bückte sich stöhnend und zog etwas aus einer Tasche. Es war eine Einladungskarte. Kupfertiefdruck auf teuerstem Bütten, wie er als Kenner solcher Dinge feststellte. Die Karte hatte mit einer Ecke aus der Jacketttasche geragt und so seine Aufmerksamkeit erregt.

Schnaufend setzte sich Tony auf den Rand der Wanne, um sogleich wieder stöhnend aufzufahren. Auch dort war eine Platzwunde.

»Ich muss dringend zu einem Arzt. Sobald ich in London bin. Den Rückflug muss ich wohl stehend absolvieren.«

Wer hatte die Karte in seine Tasche gesteckt? Der Bettler? Blödsinn. Andererseits – welcher Bettler rettet mal eben so einem Unbekannten das Leben? Der unbekannte Weiße, diese nicht so eindeutig zwischen Retter und Entführer schwankende Gestalt? Oder der Taxifahrer? Na klar. Es musste der Taxifahrer sein.

Irgendein Fahrgast hatte die Karte verloren und der Parse hatte geglaubt, er, Tony Tanner, sei das gewesen und hatte sie ihm zugesteckt, als er die Karte beim Heraushebeln von Tony aus dem Wagen unter dem Sitz entdeckte.

Tony nahm die Karte noch einmal genauer in Augenschein.

J. A. Matanka gibt sich die Ehre, stand da. Einladung zu einem Gartenfest, am … Es war das Datum des heutigen Tages, wie Tony mit Blick auf seine Uhr feststellte. Beginn in zwei

Stunden. In kalligrafischer Schrift stand der Name des Eingeladenen mitten auf der Karte. »Mr. Tony Tanner Esq.«

Kein Zufall, jetzt ist es kein Zufall, dachte Tony, und nichts ist ein Zufall.

»Gut«, murmelte Tony. »Holt Jod, holt heißes Wasser. Es wird Zeit, dass ich auch wieder mitspielen darf. Erster Akt: Ich besuche eine Gartenparty.« Dann rief er den Hotelmedikus und ließ sich verarzten. Es war sowieso an der Zeit gewesen, seine Tetanus-Impfung aufzufrischen.

***

Der Wagen schaukelte souverän wie ein Schiff in leichter See und glitt mit fast aufreizender Lässigkeit über die Schlaglöcher in den Straßen hinweg.

Tony befand sich in einer abgeschlossenen Welt. Aus den Lüftungsschlitzen fächelte gefilterte und gekühlte Luft, Panzerglasscheiben ließen den Verkehrslärm nur als sanftes Rauschen in den Fond der Limousine dringen.

Er saß in einem der etwas betagten Rolls-Royce Silver Ghost, die das Hotel samt Chauffeur für ausgewählte Gäste zur Verfügung stellte. Tony Tanner war ein solcher ausgewählter Gast. Vor der Abfahrt hatte er mit dem freundlichen Hotelmanager geplaudert und ihm die

Einladung zu Matankas Gartenparty gezeigt.

»Ein wichtiger Mann«, hatte der Direktor gesagt und ehrfurchtsvoll mit dem Kopf genickt. »Er besitzt große Produktionsanlagen, Chemie, Anlagenbau, Transportunternehmen. Etwas verzweigt, etwas undurchschaubar, dieser Konzern. Hat nicht immer die beste Presse – aber wie das so ist, die Journaille schlägt Krawall, weil sich das in einer Demokratie so gehört, und in der nächsten Woche gibt es einen neuen Buhmann. Irgendwie gehört es zu den Insignien der Macht, in manchen Presseorganen heruntergeputzt zu werden.«

»Gut«, hatte Tony entgegnet. »Dann darf ich mich sicher geehrt fühlen. Aber ich kenne ihn gar nicht. Wie ist wohl die Kenntnis meiner eher bescheidenen Existenz an das Ohr dieses großen Mannes Bombays gedrungen?« Tony hatte vorsichtig auf eine mögliche Indiskretion des Hotels angespielt. Jedoch sein Gegenüber hatte nur sehr breit gelächelt.

»Sie sind zu bescheiden, Herr Tanner. Britisches Büro für königliche Reiseangelegenheiten klingt doch gewaltig.«

»Klingt wirklich gut«, bestätigte Tony. »Und wir haben auch einen tollen Briefkopf und ein wunderprächtiges Wappen und ein stets gut poliertes Messingschild neben den Eingängen zu den Büros. Nichtsdestotrotz sind wir lachhafte Boyscouts, in deren Fußspuren sich dann erst die wirklichen Autoritäten vom Außenministerium, vom Hofamt und was weiß ich noch bewegen.«

Der Hoteldirektor hatte die Arme ausgebreitet. »Einem Orden sieht man nicht an, ob er durch Tapferkeit oder Hurerei erworben wurde. Und ein offizieller Briefkopf ist ein offizieller Briefkopf, da mögen Sie sich so bescheiden geben, wie Sie wollen. Und da das so ist, möchte sich Herr Matanka vermutlich mit einem Gast schmücken, auf den ein Abglanz der britischen Krone fällt. So etwas macht sich in einer Gästeliste ausnehmend gut, meinen Sie nicht?«

Tony war noch nicht zufrieden. »Schaut er sich vielleicht die Gästelisten der Hotels an?«

»Es gibt auch in dieser Stadt Zeitungen mit Klatschspalten. Berichterstatter, die Tausende von Rupiah täglich ausgeben, um Blicke in alle möglichen Listen werfen zu können. Oder die einem Hotelpagen ein heißes Wochenende ermöglichen, indem sie eine kleine Information gegen einen Stapel Scheine tauschen. Herr Tanner, das ist Indien, und ich denke, Sie verstehen es!«

»Das heißt, dass Sie sich Ihres Personals nicht ganz sicher sein dürfen?«

»Ich versichere Ihnen, dass Sie und alle unsere Gäste hier sicher und bestens aufgehoben sind, Herr Tanner.« Der Hoteldirektor hatte gekonnt eine Portion Balsam und milde Seelenart in seine Stimme gelegt. »Wir sind alle sehr stolz, dass unser Haus erneut des hohen Besuchs Ihres Staatsoberhauptes für würdig befunden wurde. Und das spricht sich zwangsläufig herum. Ich habe darin auch kein Problem gesehen, man muss die Leute schließlich motivieren. Große Ereignisse lassen sich nun einmal nicht verheimlichen. Aber warum machen Sie sich so viele Gedanken? Genießen Sie den Abend. Für den Transport sorgt das Haus!«

***

Die Argumente des Hoteldirektors waren plausibel gewesen. Vielleicht hatte diese Einladung wirklich nichts, aber auch gar nichts mit den scheußlichen Ereignissen der letzten Stunden zu tun. Tony gelang es für kurze Zeit, sich zu entspannen.

Der Verkehr war trotz der abendlichen Stunde nicht abgeflaut. Im Gegenteil, die angenehmeren Temperaturen hatten noch mehr Menschen nach draußen gelockt. Scharen von

Motorrollern drängelten sich zwischen Lastwagen, die auf ihrer hoch getürmten Ladung noch zusätzlich menschliche Fracht transportierten, Dreiräder kreischten mit kreissägenartig heulenden Zweitaktmotörchen und breiten, blauen Abgasfahnen an schwer beladenen Eselskarren vorbei, Straßenkreuzer überholten knarrende, unter ihrer Last fast zusammenbrechende Fuhrwerke, die von hageren, nur mit Lendentüchern bekleideten Männern vorwärts gezogen wurden. Vor den Kinokassen drängelten sich Menschen. Die Geschäfte und Garküchen waren mit matten flackernden Glühbirnen oder grellweiß strahlenden Petroleumlampen erleuchtet. Für Sekunden glitten die Gesichter an Tony Tanner vorbei, Menschen im Gespräch, Menschen bei Verhandlungen. Menschen, die sich beim gemeinsamen Essen vergnügten oder einfach ihre Erschöpfung nach einem harten Arbeitstag bei einem halben Glas Schnaps teilten.

Die Limousine fuhr über einen lang gezogenen Straßendamm. In der Ferne schimmerten Lichter auf dem Wasser. Die Luft, die in das Wageninnere drang, trug den Geruch von Salzwasser mit sich.

»Wir sind gleich da, Sir«, sagte der Fahrer.

Schon von Weitem war das Anwesen Matankas erkennbar. Scheinwerfer hoben einen großen viktorianischen Prachtbau aus dem Dunkel hervor und legten eine Schicht von Lichterglanz und Schlagschatten auf die Fassade. Der riesige Garten war mit Fackelkranz umgeben, Fackeln markierten die Gehwege auf dem gepflegten Rasen, einige Pavillons hoben sich als Lichtinseln von der dunklen Fläche ab.

Die Vorfahrt war standesgemäß. Selbst der knirschende Kies, dieses Versatzstück aller Schnulzenromane im High-Society-Milieu, fehlte nicht und prickelte vornehm unter den Reifen der schweren Limousine.

»Leider kann ich nicht auf Sie warten. Sir«, sagte der Fahrer. »Ich muss dringend zum Flughafen. Aber ein Kollege wird in spätestens einer Stunde hier für Sie bereitstehen.«

»Gut. Dann werde ich mich jetzt gnadenlos vergnügen.«

Tony belohnte den Fahrer mit einem Geldschein und schritt auf den Garteneingang zu, wo Diener in traditionellen farbigen Trachten standen. Wie immer in solchen Momenten zuckte ihm die Angst durch den Kopf, er könnte seine Einladungskarte vergessen haben. Und wie immer in solchen Momenten war die Karte genau da, wo er sie hingesteckt und sich in

Minutenabständen von ihrer fortdauernden Existenz überzeugt hatte.

Berufsbedingt hatte Tony Tanner die Hohe Schule des Party-Survival verinnerlicht. Die drei goldenen Regeln lauteten: Habe immer ein Glas in der Hand, lächele, bleibe in Bewegung und wirke nie einsam. So griff er sich das Sektglas, das ihm, nachdem er seine Einladung vorgezeigt hatte und mit einer Verbeugung und einer weit ausholenden Armbewegung in den Garten geleitet worden war, von einem der Bediensteten auf einem Silbertablett angeboten wurde.

Das schlanke Glas in der rechten Hand gab ihm die gewohnte Sicherheit. Die Linke verschwand salopp in der Tasche, und nun schlenderte Tony mit heiterer Miene über einen Rasen, der jedem englischen Schlossgarten zur Ehre gereicht hätte. Er lavierte geschickt zwischen den einzelnen Gruppen, reihte sich ein, wo eine Traube von Bewunderern und Schleimern eine offenbar besonders wichtige Person umgab, löste sich dann wieder und flanierte zur nächsten Gruppe. Auf jeden Beobachter hätte er wie ein Lebewesen gewirkt, das sich in vollkommenster Weise an das Biotop einer Gartenparty angepasst hatte.

Der Champagner prickelte köstlich auf der Zunge, wärmte den Magen und sorgte nach einer Weile für eine gewisse Lockerheit, die Tony durchaus zu schätzen wusste. Auch das gehörte zu den Dingen, die er gelernt hatte: Trinke gerade soviel Alkohol, bis du anfängst, uninteressante Menschen sympathisch zu finden und Widerlinge erträglich, aber nie soviel, dass du nur ein einziges Wort mehr reden würdest als im Zustand vollkommenster Nüchternheit.

Tony fing freundliche, weibliche Blicke auf und hob dann leicht sein Glas in Richtung der Lächelnden, ließ sich auf kleine Small Talks ein, die im Wesentlichen mit einem Lob des schönen Wetters, des herrlichen Gartens und des köstlichen Champagners begannen, um dann nach kurzer, gegenseitiger Vorstellung des Namens auf den Austausch von Herkunftsländern, Business und eventueller gemeinsamer Bekannter zu kommen, ein höflich-heiteres Abtasten und Ausloten eventueller gesellschaftlicher oder geschäftlicher Möglichkeiten.

Zwischendurch wurde genippt. Wie Geister aus dem Nichts standen stets rechtzeitig Diener neben jedem, der sein Glas leer hatte.

Der Gastgeber Matanka schien nichts von hinduistischen oder islamischen Alkoholverboten zu halten und eher in die Richtung westlicher Fettleber-Aspiranten zu tendieren.

Jedenfalls gab es mehr Personal mit wohlgefüllten Silbertabletts auf dieser Festlichkeit als Flugblattverteiler an den Londoner Universitäten. Und das wollte schon etwas heißen.

Das wievielte Glas hatte er gerade – noch halb voll – in der Hand? Tony konnte sich nicht genau erinnern. Aber es musste schon aus diesem Grund das Letzte sein. Also unterdrückte er den angelernten Reflex des Champagnersüffelns und trug sein Glas als symbolischen Gegenstand mit eleganter Geste vor sich her.

Zwei Musikgruppen unterhielten die Gäste. Eine spielte westliche Musik, die andere bot traditionelle indische Klänge.

Eine Weile lauschte Tony dem auf- und abschwellenden Klang einer Klarinette, dann wandte er sich in die Richtung, aus welcher der Wind die silbrigen Klänge eines Sitars herüberwehte.

Tony löste sich höflich aus einem Gespräch, um sich etwas umzusehen. Auf dem Weg über den Rasen, der an dieser Stelle kaum beleuchtet war und von keine anderen Gast betreten wurde, überfiel Tony eine Erinnerung.

 

Wo war es gewesen? In Wales, vielleicht auch in Schottland. Er hatte mit die Ferien mit seinen Eltern verbracht, und eines Nachts durfte er mit seinem Vater den Sternenhimmel anschauen. Sie waren auf einen Hügel geklommen. Über ihnen spannte sich der klare Sternenhimmel, sein Vater begann, ihm die Bilder zu erklären und die praktische Nutzbarkeit dieser Kenntnis für die Orientierung bei abenteuerlichen Expeditionen hervorzuheben.

Tony war begeistert. Dann war eine Sternschnuppe über den Himmel geschossen, eine Gold schimmernde, wundervolle Tränenspur, schnell und geschmeidig wie ein lebendiges

Wesen vor der ewigen Pracht des Firmaments. Und dann hatte sein Vater über die Tausenden von Tonnen Materie, die jedes Jahr durch solche Meteoriten auf die Erde niederrieseln, gesprochen. Tonys kindliche Begeisterung hatte sich mit einem Gefühl gänzlichen Verlorenseins und einem beängstigenden Bewusstsein der eigenen Winzigkeit überlagert, und die Hand des Vaters, in der er seine eigene kleine kalte Hand geschoben hatte, war ihm wie der letzte Haltepunkt in einem übermächtigen, riesigen Raum vorgekommen. Tony hatte in die Tiefen des Himmels geschaut, und alles begann sich zu wandeln.

Plötzlich spürte er die Unendlichkeit, sein Magen krampfte sich zusammen in der Erkenntnis der unendlichen Räume, in denen diese Lichter schwebten. Räume, deren Ausmaße jeden menschlichen Begriff, jedes menschliche Denken, jedes Verstehen überstiegen, die den Menschen und seine kosmische Heimat zu einem nebensächlichen Nichts reduzierten.

Beinahe verzweifelt, als ginge es um das Überleben, hatte Tony damals versucht, sich an das Ende dieses Raumes zu denken. Aber es gab kein Ende, es gab keine Grenze; seine Gedanken griffen in eine Leere, in der weitere Universen schwebten, taumelten hilflos und zerfaserten bis zur Unerkennbarkeit ins Nichts. Er hatte begonnen, vor innerer Kälte zu zittern, und so waren sie sofort zurück in ihre Pension gegangen. Er erinnerte sich genau, wie er die Nacht schlaflos in seinem Bett verbracht hatte. Er hatte das Vertrauen zu der Erde verloren. Sie war nichts als ein Häufchen Dreck im Nichts, von chaotischen Kräften umhergeschleudert, die mit anderen chaotischen Kräften ein spinnenzartes Gewebe des Gleichgewichtes bildeten, die von erwachsenen Dummköpfen als Naturgesetze den Schülern eingeprügelt wurden. Aber Tony kannte die ganze Wahrheit. Er konnte förmlich das Ächzen des Materieklumpens hören, der sich zwischen anderen Steinbrocken um ein Höllenfeuer wälzte, jede Sekunde bereit sich loszureißen, jede Sekunde gefährdet, bedroht, dem Untergang geweiht.

Am Morgen hatte seine Mutter Tony schweißgebadet in seinem ebenfalls schweißnassen Bett aufgefunden, einen ziemlich heftigen Ehekrach mit ihren Mann gehabt, in dem es um idiotische Ausflüge in der Nacht gegangen war. Sie hatte den Urlaub schlagartig abgebrochen.

»Das uns anvertraute Kind«, hatte sie gesagt, nicht »unser Junge« oder »dein Sohn«. Sie hatte ihn, Tony, gemeint.

In der folgenden Zeit war der kleine Tony zu eine gepriesenen Vorbild an Frömmigkeit avanciert, eine Zierde der Gemeinde und ein Quell der Freude für den Priester. Tatsächlich stahl er sich in die Arme der Kirche wie ein Verbrecher, der zufällig aus der Todeszelle entronnen ist und mit gehetzten Blicken ein Versteck sucht.

Seine Angst, die ihn wie der Blitzstrahl eines boshaften Dämons getroffen hatte, das Gefühl, hilflos über einem Nichts zu wandeln, konnte Tony aber auch in der so fest gemauerten gotischen Dorfkirche nie abwerfen. Und er hatte zu seiner Enttäuschung festgestellt, dass auch anglikanische Priester sich um Banalitäten wie Reifenwechsel eines Automobils kümmerten und ansonsten das Leben durchaus zu nehmen wussten. Sie hockten sich mit der Elite ihrer Schäfchen zum Fünfuhrtee zusammen, zermalmten Napfkuchen zwischen den Zähnen, wischten sich die Krümel aus den Mundwinkeln und intonierten im Gottesdienst irgendwelche alten Formeln und Namen, die Tony auch nicht den Bruchteil einer Sekunde von dem Wissen um die Zerbrechlichkeit des Universums befreiten.

Aus Gründen von Höflichkeit und Rücksichtnahme hatte er noch eine Weile den Nachwuchs-Mystiker gespielt, dann musste er auf das Internat. Das Überleben in dieser verhassten neuen Umgebung hatte alle seine Kräfte in Anspruch genommen, und so wuchs ein Schorf, eine dünne Kruste über seine Angst. Mit einem älteren Mitschüler fertig zu werden, dessen Zimmer schon den brünstigen Mief der Knabenumkleideräume in den Turnhallen hatte, erforderte eine Mischung aus Tücke, Geschmeidigkeit und Kaltblütigkeit, die sich in dieser Zusammensetzung nur bei hoch gezüchteten Laborratten findet oder eben bei den Neulingen jener Institute, in denen Großbritannien seine kommenden gesellschaftlichen Stützen formte, im Klartext, in den hochgelobten Internaten des Landes.

 

Und jetzt, jetzt auf diesem Rasen, bei diesem Gartenfest eines ihm Unbekannten namens J. A. Matanka, erkannte Tony Tanner, dass seine Angst nicht verschwunden war. Er hatte sie nie überwunden, er hatte sie verdrängt, hinter die deckende Wand des Alltags verschoben.

Nun war sie wieder da, nachdem der Tod nach ihm gegriffen hatte. Die Erkenntnis entmutigte Tony Tanner keineswegs. Vielmehr spürte er aus diesem Gefühl eine Kraft entstehen, die er sich aber nicht genauer erklären konnte.

Tony lief weiter wie ein gut eingestellter Automat.

»Wie ich sehe, wagen Sie eine weitere Konfrontation mit dem Teufel Alkohol?«

Die Stimme, die Tony von der Seite ansprach, war tief und samten und hatte jenen gepflegten französischen Akzent, mit dem jeder Werbepsychologe Begriffe wie Erotik,

Sinnlichkeit und Verführung gekoppelt hätte.

Wenn ihn eben noch die existenzielle Erkenntnis der Nichtigkeit allen Seins gemartert hatte, überkam Tony Tanner jetzt das heftige Bedürfnis, diesem weiblichen Menschenwesen das Kleid herunterzureißen und sich in eindeutig wollüstiger Absicht auf sie zu stürzen.

Lucille Chaudieu sah schlicht sensationell aus. Sie trug ein seidenes Kleid in dunklem Rot, das ihr bis zu den Füßen herabfiel. Es war diese Sorte von Gewand, das Tony an moralisch verdorbene Nonnen erinnerte – nur scheinbar züchtig verhüllt und dabei doch den Betrachter keinen Herzschlag lang im Unklaren über den göttlichen Körper lassend, der unter der fließenden Seide atmete.

Jeder Mann musste sich bei diesem Anblick mit schicksalhafter Notwendigkeit die Frage stellen, was Lucille Chaudieu wohl unter dem Kleid trug.

Sie weiß, dass ich mir diese Frage stelle, dachte Tony. Aber sie weiß nicht, dass ich es weiß, dass sie es weiß.

»Nichts«, beantworte er dann laut die ungestellte Männerschicksalsfrage und begann jungenhaft zu grinsen.

»Nichts, was meinen Sie?« Lucille war verwirrt.

»Oh Verzeihung, ich meinte – nichts ist es mit der Konfrontation mit dem Alkohol. Ich bin ohne Widerstand untergegangen. Totale Vernichtung. Andererseits gibt einem der Vollrausch schöne Träume. Ich träumte soeben, mich hätte eine wunderschöne Frau angesprochen.« Tony zögerte einen Moment lang, während er innerlich grinsend die Pointe vorbereitet. »Das Letzte war wohl ein bisschen zu dick aufgetragen?«, fügte er dann hinzu.

Lucille stutzte. Er war ganz anders, als sie erwartet hatte – auf eine höchst angenehme Art anders. Aber wie war er eigentlich?

Sie gingen nebeneinander auf die indische Musikgruppe zu.

»Zu dick aufgetragen? Mir gefiel es. Aber Sie haben recht, es passt nicht zu Ihrem Typ. Nur wirklich begnadete Latin Lover sollten solche Dinge sagen.«

Rumms, Volltreffer, registrierte Tony. Respekt, die Schöne hatte Haare auf den Zähnen. Das Geplänkel begann ihm Spaß zu machen.

»Sie liegen damit natürlich völlig richtig«, konterte Tony. »Ich bin vom Schicksal dazu ausersehen, Frauen wie Ihnen die Tüten aus dem Supermarkt zu tragen und ihnen auf dem

Parkplatz beim Rangieren zu helfen, damit Sie schnell zu ihrem glutäugigen Latin Lover eilen können.«

Sie legte den Kopf leicht in den Nacken und lachte. Ein tiefes und freies Lachen, das sich wie ein aufflatternder Vogel über die Geräusche des Gartenfestes erhob. Der schönste Klang, den Tony seit Langem gehört hatte.

Eine größere Menschenmenge hatte sich um die Musikgruppe versammelt. Fast alle waren Einheimische. Die Musik hatte in diesem Fall wie ein Filter den Westen vom Orient getrennt. Die Verschiedenheit der Typen faszinierte Tony. Er sah Gesichter mit dunkler, fast schwarzer Haut und sanften Augen und daneben standen Männer aus dem Norden, fast weißhäutig mit gemeißelten, scharfen und kühnen Zügen, unter deren überlegen hoch gezogenen Brauen die Blicke hervorstießen, die sich Tony bei den Eroberern vorstellen, als sie in Urzeiten, im Staub ihrer Rinderherden und mit dem Knarren ihrer Ochsenkarren an den Grenzmarken des Subkontinents erschienen waren, mit nichts in der Hand als ihrem Schwert und nichts im Herzen als der Kampfeslust, der Raubgier und dem Selbstbewusstsein des geborenen Kriegers. Tony liebte solche Gesichter. Dahinter standen kräftige Seelen, unbeugsame Charakteren – Männer eben. Oder jedenfalls die Sorte von Männern, die Tony Tanner als Ideal vorschwebten. Die Gegenbilder hatte er ebenfalls gleich neben sich. Junge Inder in modischer europäischer Kleidung, glattgesichtig, mit anliegenden schwarz glänzenden Haaren, oberflächlich und verbindlich, das Futter, mit dem man Software-Häuser, Banken und Börsenparketts der Gegenwart feist und dick werden ließ. Einige Adlige waren auch erkennbar, Maharadschas, die von der jahrhundertealten Gewohnheit der Macht und des üppigen Lebensgenusses aufgedunsen waren, glatt geschliffen von ihrer britischen Erziehung, poliert von ihrer Position in der Gesellschaft, bis sie den faden Schimmer eines matten Edelsteins auf den dicken Bäckchen angenommen hatten.

Er war derart in Betrachtung des martialischen Piratenprofils eines in der Nähe stehenden Kaschmiris versunken, dass Tony seine Begleiterin für einen Moment völlig vergaß.

Dann spürte er ihre Blicke. Er spürte die Blicke dieser dunklen Augen, wie sie sein Gesicht erforschten und sorgsam betasteten, mit mädchenhafter Zartheit und Vorsicht und doch mit der unverkennbaren Forderung einer Frau. Tony rührte sich nicht, ließ diesen Moment einfrieren als könne er einen Film anhalten. Dann wandte er sich ihr zu.

Ihre Blicke trafen sich, kurz nur, aber viel zu lange, viel zu tief, um bloßer Zufall zu sein. Dann sprangen ihre Blicke voneinander ab, erschrocken wie zwei Menschen, die sich in Dunkeln einer Gasse entgegenkamen und sich erst kurz vor dem Zusammenprall erkannten.

Tony spürte einen dicken Kloß im Hals. Einen Herzschlag spürten der Mann und die Frau einen Hauch auf ihrer Stirn, den Flügelschlag von Zusammensein, Begierde und der Liebe, ferne Rufzeichen köstlicher Möglichkeiten, leise Klopfsignale verschütteter Gefühle.

Tony räusperte sich einige Male. »Sie wirken einsam«, sagte er dann, einen Hauch nicht so flapsig, wie es hatte klingen sollen, und dadurch mit dem Anflug einer vorsichtig hoffenden

Frage.

Lucille Chaudieu zog die Augenbrauen mit gekonnter Arroganz in die Höhe. Aber sie hatte gezögert. Ihre Reaktion kam zu spät, einen entscheidenden Moment zu spät. Ein Moment, der sie verriet. Ein Moment, wie das kurze Aufrauschen einer Telefonleitung in einen anderen Kontinent, wie die Stille vor dem endgültigen Urteil, in der alles lebendig, wirklich und möglich war.

»Einsam«, antworte sie ironisch. Ihre Stimme hatte einen übertrieben ätzenden Unterton. »Ich bin durchschaut. Und jetzt kommt der Prinz auf seinem weißen Vorzeigeross, um mich aus meiner Einsamkeit zu erlösen. Wo haben Sie denn Ihren Gaul angepflockt?«

Okay Süße, fuhr es Tony durch den Kopf. Das war’s dann wohl. Vielleicht hätte es etwas werden können, bestimmt hätte es das, aber wenn du nicht willst, dann eben nicht. Auch gut.

Such dir einen anderen Laumann, um diese Emanzenshow abzuziehen, mit mir nicht, ich werde mich nicht selbst kastrieren, bloß weil deine Brüste den Kampf gegen die Schwerkraft noch nicht aufgegeben haben. Also, bringen wie die Sache zu einem Ende, ich habe den Spaß daran verloren.

»Mitnichten Gnädigste, es ist nur so, dass meine Hauskatze Junge geworfen hat und ich würde ihnen gern ein Dutzend herzallerliebst niedlicher Kätzleinchen überlassen, zu dero

Kurzweil in den Mußestunden.«

»Und was würden Sie sonst mit den Tierchen machen?«, fauchte Lucille zurück. Wenn sie nicht ihr Glas in der Hand gehalten hätte, würde sie ihre Hände in die Hüften gestemmt haben.

Tony bejubelte diese Beobachtung innerlich als ersten Punktgewinn.

»Ab in den Sack und dann drei Minuten unter Wasser?«, fuhr sie schwungvoll fort.

»Drei Minuten? Sie unterschätzen uns Engländer. Ich hätte die allerliebsten Wollknäuel in die Mikrowelle gesteckt. Das riecht zwar etwas streng in der Wohnung, aber man kann ihr Maunzen auf Tonband aufnehmen und bekommt von der Royal Society der Tierquäler und Sadisten hohe Summen für solche Aufnahmen.«

Lucille holte tief Luft.

»Ich weiß«, machte Tony ungerührt weiter. »In Frankreich gilt so etwas als Verschwendung, und aus Kätzchen werden Fünfsternegerichte gezaubert – aber wir Briten bevorzugen halt eher geistigere Genüsse.« Jetzt springt sie dir ins Gesicht, dachte Tony dann, meine Güte, was für ein erschreckendes Temperament.

Aber Lucille bremste sich. »Immer noch besser als Fish and Chips oder Plumpudding«, war ihre Replik, die sie selbst als äußerst schlaff einstufte.

»Oh, wie ich höre, geht es um die Genüsse der englischen Küche. Kein sehr lohnendes Thema, wie mir scheint.« Erneut eine Stimme mit einem allerdings kaum hörbaren französischen Akzent. Der Mann sprach knapp und energisch, als sei ihm der militärische Befehlston aus langer Gewohnheit vertraut.

Nun erkannte Tony den Mann. Sie waren im selben Flugzeug gewesen. Er musterte sein Gegenüber: weißes volles Haar, mittelgroß, schlank, Anfang fünfzig. Glatt rasiert, Fältchen um die grauen Augen, aber auch zwei Falten senkrecht über der Nasenwurzel, die zur Vorsicht mahnten. Widerwillig gestand sich Tony, dass der Mann verteufelt gut aussah, dass er Haltung und Stil und Energie ausstrahlte und mit Sicherheit ebenso viel Intelligenz wie Umgangsformen besaß. Trotzdem – die Art, wie er sich neben die Frau stellte – der hundertprozentige Platzhirsch. Hebt sein Geweih und röhrt in der Landschaft herum. Die nervtötende Sorte von Macho, die jeden zum Duell auffordert, der ihrer Holden die Türe aufzuhalten wagt. Ist ja gut, die Frau ist dein Revier. Wirklich, du Bock, ich schenke sie dir.

»François de Montalban«, stellte sich der Weißhaarige vor.

»Tony Tanner«, sagte Tony Tanner. Und dann, in einem Reflex von pfauenhafter Eitelkeit, dessentwegen er sich in der nächsten Sekunde am liebsten selbst geohrfeigt hätte, fügte er hinzu: »Britisches Büro für königliche Reiseangelegenheiten.«

Montalban nickte und tat beeindruckt. »Sie sorgen für den roten Teppich der Queen.«

»Nein, für den Katzenbraten. Ich überlasse Ihnen jetzt diese streitbare Enkelin der schwertschwingenden Jeanne d’ Arc.«

Tony verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung.

»Na na na, junger Mann.« Montalban drohte neckisch mit dem Zeigefinger. »Sehe ich da nicht fundamentale contradiction – Widerspruch – Jeanne d’Arc war doch Jungfrau, une sainte vierge, wie man hören konnte?«

»Ich hatte die Franzosen in solchen Dingen für liberaler gehalten – je vous demande pardon«, gab Tony über die Schulter zurück. Er fühlte sich aufgedreht, zugleich wütend und enttäuscht, ohne dass er den Grund für diesen Wirrwarr an Gefühlen gewusst hätte. Immerhin, jetzt war sein Kopf wieder frei. Ihm ging es besser als je zuvor in den letzten Stunden.

In den dunklen Bereichen am Rand der Rasenfläche registrierte Tony Tanner nun Männer. Ohne Zweifel Sicherheitsbeamte. Schon am Eingang waren sie ihm aufgefallen, aber jetzt schaute sich Tony Tanner die reglosen Gestalten mit größerer Aufmerksamkeit an. Schwarze oder dunkelblaue Pullover mit Segeltuchbesatz an Schultern und Ellbogen, weite Pumphosen, die in die Ränder der Kampfstiefel gesteckt waren. Auf dem Kopf trug jeder ein Barett. Irgendein Abzeichen blinkte manchmal an der Kopfbedeckung auf, aber Tony konnte aus der Entfernung nicht erkennen, wie es aussah. Manchmal drehte einer der Männer den Kopf und schien in ein Mikrofon, das er auf der Schulter trug, zu sprechen, und manchmal drang Knacken oder ein von Rauschen begleitetes Kommando aus einem Funkgerät.

Tony zählte schnell nach, wie viele Männer er entdecken konnte und versuchte, überschlägig auszurechnen, wie viele Matanka insgesamt auf seinem Grundstück haben mochte. Er kam auf 150 bis 200 Mann. Fast zwei Kompanien. Eine kleine Privatarmee. Aber so wie es aussah, waren die Leute gut ausgerüstet, sonst hätte nicht jeder ein unauffälliges Funkgerät gehabt, obwohl er jeweils nur wenige Schritte von seinem Kameraden postiert war. Waffen sah Tony nicht. Sie offen zu tragen, hätte wohl auch dem festlichen Charakter des Abends einen üblen Beigeschmack verliehen. Vielleicht trugen die Männer ihre Waffen hinten am Gürtel, wo sie ihre Arme verschränkt hielten, in treulicher Imitation eines Drill-Sergeants, der in stoischer Ruhe seine Rekruten beim Robben in der Schlammbahn beobachtet. Und diese Ruhe machte Tony auch deutlich, dass die Männer bestens trainiert sein mussten. Sonst wären sie unruhiger gewesen, hätten sich bequemer hingestellt, von Zeit zu Zeit die Position gewechselt.

Matanka hielt sich also eine Palastwache, die es mit jeder Elitetruppe aufnehmen konnte. Das war ein enorm teures Vergnügen. Gut, Matanka war steinreich. Aber wird man durch militaristische Hobbys reich? Allerdings, so erinnerte sich Tony, war es unter indischen Politikern durchaus nichts Ungewöhnliches, sich eine Leibwache zu halten. Insofern war es die einfachste Lösung, diese schweigenden Männer als Sonderausgaben eines politisch ambitionierten Industriellen zu verbuchen.

Trotzdem – die Sache gefiel Tony nicht ganz. Schon ein kläffender Dobermann misshagte ihm, und diese Truppe schlug den wildesten Pitbullterrier vermutlich um Längen.

Während er nachdachte, hatte Tony das angestrahlte Gebäude umrundet und entdeckte einen modernen Anbau an dessen Rückseite. Es handelte sich um einen bungalowartigen Flachbau. Die Außenwände bestanden aus Glas, das Dach wurde durch Stahlträger innerhalb des Baues getragen.

Hier waren nur zwei Wachen zu entdecken. Es waren schmale Gestalten, die unter der Kleidung einen durchtrainierten Körper ahnen ließen, und mindestens einer von ihnen war kein Inder. Sie standen nebeneinander vor einer geöffneten Schiebetür.

Als Tony sich näherte, rückten sie unmerklich zusammen, eine kleine, aber unübersehbare Geste, mit der sie jeden Eindringling zurückwiesen.

Tony nahm einen Schluck aus dem Glas und krähte mit trunkener Stimme »Gunabed allaseits.«

Die Männer antworteten kurz, aber höflich, und Tony zog ab, wobei er sich einer leicht schwankenden Fortbewegungsweise befleißigte, die seinen vorgeblichen Zustand eindrucksvoll dokumentieren sollte. Der Einblick in das Innere des Bungalows war durch rundum herabgelassene Vorhänge verwehrt. Durch Spalten erkannte Tony dennoch eine halb zerstörte

Buddhastatue. Also hatte Matanka hier wohl seine Kunstsammlung untergebracht. Und mitten im Gebäude schien ein Wandbild aufgebaut worden zu sein. Tony konnte nicht mehr als einige farbige Flächen erspähen, zumal er immer noch in schwankendem Rückzug begriffen war, aber diese kraftvollen, ungebrochenen Farben gehörten weniger nach Indien als nach Mittelamerika.

In der Nähe des Hauptgebäudes fand Tony eine gute Beobachtungsposition. Nah genug an einer der Gästegruppen, um nicht als einzeln Stehender aufzufallen, und dennoch mit Blick auf den Bungalow. Dass er sich überhaupt für diesen Anbau interessierte, lag zu 90 Prozent an kindischer Neugier, zu fünf Prozent an einem Instinkt, den er inzwischen entwickelt hatte, und zu weiteren fünf Prozent an seiner Vorliebe für Kunst.

Er entdeckte Lucille Chaudieu. Sie stand völlig allein, sie hatte es nicht einmal für nötig gehalten, die optische Nähe der Herde zu suchen. Sie wandte Tony ihr Profil zu, und er musste schlucken. Es kommt vor, dass man einen Menschen, der sich unbeobachtet glaubt, anschaut und für einen Moment hinter seine Maske blicken, ihn klarer und unverstellter erkennen kann, als sich die Person jemals selbst erkennen könnte. Und so sah Tony Lucille Chaudieu in ihrer ganzen Zerbrechlichkeit, Verletzlichkeit und Zartheit – eine kostbare Figur aus hauchdünnem Porzellan vor einem schwarzen Hintergrund aus Verlust, Schmerz und Verwirrung, dessen Muster Tony nicht genau benennen konnte.

Er überlegte sich, ob er zu ihr gehen sollte. Es war sozusagen die Gelegenheit der Gelegenheiten. Aber andererseits fühlte er sich in der Rolle des »Ladykillers« als glatte Fehlbesetzung. Und überhaupt, Gelegenheit wozu? Damit diese eingebildete Schönheit ihre weißen Zähnchen an ihm wetzen konnte? Oder damit er einen Preis beim Wettbewerb »Wie unterhalte ich mich mit einer Emanze, ohne mir kastriert vorzukommen« gewinnen könnte?

Tony seufzte. Auch der Ausklang dieses Tages schien einer gewissen Kompliziertheit nicht völlig zu entbehren.

Gut, sagte er sich, wenn der Diener mit dem Tablett sich nach links wendet, hat sie verloren. Wenn er nach rechts geht, schlendere ich zu ihr herüber, treffe sich rein zufällig und werde sie mit meinem Charme derart einschäumen, dass sie für den Rest ihres arroganten Lebens an meiner Schlafzimmertür kratzen wird.

Der Tablettträger wandte sich nach rechts, und Tony wollte sich gerade seufzend und mit stark absteigendem Selbstbewusstseinswert dem Spruch des von ihm selbst angerufenen Gerichtes beugen, als er am Rand der Rasenfläche Unruhe bemerkte.

Die Wachen formierten sich zu Fünfertrupps und marschierten im fast lautlosen Gleichschritt um das Gebäude herum. Leise Befehle wurden gezischt. Uniformierte Männer tauchten zwischen Büschen auf und rutschten von den Bäumen herunter, in deren Geäst sie sich verborgen gehalten hatten. Es waren weitaus mehr Wachen, als Tony ursprünglich geschätzt hatte, und es gab sicherlich keinen Grashalm auf dem Gelände, der nicht unter Beobachtung gestanden hatte.

Aus der Ferne erklang das dumpfe Hämmern von Hubschrauberrotoren.

Die gesamte Gästeschar wurde nun von der Dienerschaft auf die andere Seite des Hauses komplimentiert, und dort erkannte Tony den Anlass des Umzuges. In diesem, bisher noch nicht in das Fest einbezogenen Teil des Gartens wartete das Buffet. Lange Tische, von Segeltuchdächern geschützt und von weiß gekleidetem Personal gehütet, bogen sich unter den Köstlichkeiten, und aus den Reihen der Gäste erhob sich beifälliges Gemurmel.

Tony kannte diese Stimmung. Das waren die ersten, noch kultiviert zurückhaltenden Kampfschreie vor der Erstürmung der Kaviarschüsseln. Wenn erst einmal Kaugeräusche den

Small Talk ersetzt hatten und jeder damit beschäftigt war, sich nicht auf den Schlips oder in das Dekolleté zu schlabbern, konnte er sich den Bungalow vielleicht noch einmal anschauen. Aber noch war das Büfett nicht eröffnet. Tony erkannte jetzt auch den Grund.

Der Gastgeber – oder ein sehr wichtiger Gast – schwebte gerade ein.

Die Positionslichter zweier Hubschrauber wurden am Nachthimmel erkennbar und näherten sich schnell, das Dröhnen von Rotoren und starken Turbinen überdeckte jedes andere Geräusch.

Helikopter gehörten nicht unbedingt zu Tony Tanners Freizeitbeschäftigungen, aber er kannte sich gut genug aus, um die Maschine, die nun zu einer Runde um das Gelände ansetzte, als eine CH-54 zu identifizieren. Das war einer der schwersten Hubschrauber aus westlicher Produktion, und wer mit so einem Fluggerät einschwebte, auf dem noch in großen Buchstaben die Aufschrift »J. A. Matanka Industries« in der Glanzkuppel nächtlicher Stadtlichter erkennbar wurde, der schlug mit diesem Auftritt jede Vorfahrt im Rolls-Royce um Längen.

Hinter einer Baumgruppe flammten Lichter um eine Landefläche auf. Der Hubschrauber schwebte donnernd über den sich wie wild windenden Wipfeln und stieg dann langsam ab.

Blätter wurden von den Bäumen hoch gewirbelt, der Winddruck des riesigen Rotors versetzte selbst noch die weißen Tischtücher des Buffets in Schwingung, und die Damen fassten ihre Handtaschen fester.

Was nun folgte, erinnerte Tony an eine Mischung aus dem Auftritt eines Popstars und dem Hofzeremoniell eines besonders Etikette verliebten Maharadschas.

J. A. Matanka, um genau den handelte es sich nämlich, wie Tony von einem der Diener erfuhr, wartete, bis die Drehflügel endgültig zum Stillstand gekommen waren, entstieg seinem Hubschrauber und nahm dann auf dem Weg in Richtung Haus die Parade applaudierender und knicksender Gäste ab.

Für sich genommen wirkte Matanka wenig eindrucksvoll – ein mittelgroßer Mann jenseits der Fünfzig, mit dunkler Hautfarbe, schütterem Haar und leichtem Bauchansatz. Im

Zusammenhang mit einer Schar von illustren Gästen, die in seine Nähe drängten, gefolgt von einer Gruppe von sich höchst wichtig gebenden Taschenträgern und umgeben von einigen Leibwächtern bekam er jedoch jenen Glanz, den allein die Macht zu verleihen imstande ist.

Während sich Matanka zu einem Rednerpult begab, landete der zweite Hubschrauber. Es war eine Bell UH-Twin, wie Tony beiläufig bemerkte. Beiläufig deshalb, weil seine

Aufmerksamkeit den Haltevorrichtungen beiderseits der Pilotenkanzel galt. Was konnte man auf diese Halterungen aufsetzen? Scheinwerfer? Geräte für physikalische Messungen? Die Stichwörter, die Tony zuerst durch den Kopf fuhren, lauteten »Raketenbehälter« und »Maschinengewehre«. Auf jeden Fall handelte es sich auch hier um eine Privatmaschine, die allerdings in Tarnfarbe lackiert war und unzweifelhaft militärisches Aussehen hatte.

Als das Flappen auch dieses Hubschraubers verklungen war, begann Matanka seine Begrüßungsrede. Er hatte eine tiefe, volltönende Stimme, deren vibrierender Bass durch die Lautsprecher noch stärker betont wurde. Und er schien eine ausgesprochen anregende Rede zu halten, denn Applaus und beifälliges Lachen unterbrachen ihn immer wieder aufs Neue.

Interessanter für Tony war allerdings die Gruppe, die aus der Bell UH-Twin heraussprang und eine große flache Kiste durch die Schiebetür an der Seite bugsierte. Die Kiste schien beträchtliches Gewicht zu haben. Beim Herausholen fiel sie auf den Boden. Es gab eine heftige Diskussion, dann wurden einige Männer des Wachpersonals herbeigerufen, die in gemeinsamer Anstrengung die Kiste hochwuchteten und mühsam auf das Haus zutrugen. Ihren Gesichtern war die Anstrengung deutlich anzusehen. Im Kielwasser der Kiste schlenderten einige Männer und verbrauchten ihrerseits eine Menge Energie, indem sie sich in Oxfordenglisch anschrien, mit hochgerecktem Zeigefinger dozierten, auf die Kiste deuteten, mit zusammengerollten Plänen winkten, Fotos schwenkten und triumphierend Papiere zückten.

Tony schlenderte unauffällig in die Nähe der Streithähne. Jetzt blieben sie stehen und steckten die Köpfe über den Papier zusammen. Die bukolische Szene dauerte nur einige Sekunden, dann platzte die Gruppe wieder auseinander und war wieder in heftigste Diskussionen verstrickt. Die Worte »Zertifikat«, »Altes Reich« drangen bis zu Tony durch.

Der war zwischendurch von dem Verdacht gepeinigt worden, Matanka hätte eine Schauspielgruppe zur Belustigung seiner Gäste engagiert. Aber der waschechte Oxford-Tonfall belehrte Tony Tanner eines Besseren. Außerdem, kein Schmierendarsteller hätte eine derart überzogene Darstellung eines Wissenschaftlers abgegeben. Nein, diese Exemplare mussten echt sein.

Die wissenschaftlichen Koryphäen zausten sich inzwischen schon an den Kragen. Der Name »Jesco von Puttkammer« fiel mehrmals, entweder mit dem Beiklang größter Bewunderung oder mit jener krächzenden Verachtung, mit der ein frommer Mann die Orte der Sünde benennen würde. Die Szenerie drohte, ins Chaotische abzugleiten. Die Männer mit der Kiste waren stehen geblieben und hatten ihre Last abgesetzt. Aus der Gruppe um Matankas Rednerpult eilten einige der Taschenträger und bereicherten den Wirrwarr um ihren jugendlichen, energiegeladenen Aktionismus. Sie sprangen zwischen Wachmannschaften und Wissenschaftlern hin und her, begannen Befehle zu brüllen, die von den Uniformierten mit stoischer Miene ignoriert wurden, wühlten in ihren Büffelledertaschen, deuteten hektisch auf ihre Rolexuhren und zückten als letzte Herrschaftsgeste ihre Handys.

Welcher Impuls Tony jetzt in Bewegung setzte, wusste er selbst nicht zu sagen. Ja, in diesem Moment kam sich Tony Tanner vor, als säße er in seinem Körper wie in einem Bus, den er zu einem unbekannten Ziel steuerte. Tony entsorgte sein Champagnerglas unauffällig aber nachdrücklich mit einem Wurf in das nächstgelegene Gebüsch. Dann mischte er sich unter die Gruppe. Er wuselte zwischen den Leuten herum, blaffte einem verdutzten Wachmann an und strich mit einem händeringenden, Augen rollenden »von Puttkammer« an einem Wissenschaftler vorbei. Es klappte ausnehmend gut. Die Wissenschaftler hielten ihn für einen Jungmann aus Matankas Hofstaat, und die Jungmannen aus Matankas Hofstaat waren wiederum der festen Überzeugung, Tony Tanner gehöre zu den verrückten Wissenschaftlern, die den neuesten Kauf ihres kunstsinnigen Chefs begleiteten.

Tony achtete darauf, immer in Bewegung zu bleiben. Schließlich bat er einen der Wachmänner, doch für Verstärkung zu sorgen. Der war dankbar für diesen schlichten, aber einzig angemessenen Vorschlag unter all dem Getöse, sprintete los und kam nach kurzer Zeit mit einem Dutzend Kameraden zurück. Die Kiste wurde erneut angehoben, und man nahm Kurs auf den Bungalow. Tony umkreiste die Gruppe wie ein Zerstörer seinen Konvoi, achtete darauf, überall zu sein, aber nicht lange genug, um ihm die Frage nach seiner Existenzberechtigung bei dieser Aktion stellen zu können. Schließlich ritt ihn der Teufel, und er ging den Kistenträgern voraus und zeigte ihnen prestigeträchtig, wenn auch völlig unnötigerweise, in welche Richtung sie sich gefälligst zu bewegen hätten.

Die Kiste wurde die Treppenstufen zum Bungalow hochgewuchtet, wobei auch die beiden Wachmänner mit anpacken mussten, und dann zwischen Buddhastatuen und realistischen

Holzfiguren japanischer Zen-Mönche abgestellt. Die Uniformierten keuchten und rieben sich die schmerzenden Hände, während sie dem nun ausbrechenden Streit über den besten Aufstellungsplatz für das neue Kunstwerk zuhörten. Es handelte sich, soweit war Tony schon auf dem Laufenden, um ein ägyptisches Relief.

Er nutzte den Lärm, um sich zur Seite zu drücken. Der Bungalow war viel größer, als er gedacht hatte. Einige Zwischenmauern aus grob behauenem Felsstein unterteilten den Raum und dienten dem Aufhängen von Gemälden. Tony schlich weiter, bis er zu einer Glastür kam, hinter der ein dunkler Flur in das Haupthaus führte. Er zögerte, hatte die Hand schon auf der Klinke, als das Licht in dem Flur anging und Tony in einen panischen Rückzug trieb. Für einen Moment hüpfte er umher und war sich unangenehmerweise darüber im Klaren, dass er dabei wie eine verschärfte Version von »Mister Bean« wirken musste, dann entdeckte er einen Spalt zwischen einer Mauer und einem Vorhang und schlüpfte hinein. Im gleichen Moment ratterte er im Geiste sämtliche möglichen Ausreden für seine Aktion durch, um dann festzustellen, dass nichts dergleichen existierte.

Gedanken über Einbruchssicherungen, Bewegungsmelder, Trittsensoren, Videoüberwachung und blutrünstige Schweißhunde fuhren ihm durch den Kopf.

Er hörte die Schritte zweier Männer, dann ertönte das tiefe Organ Matankas, und die streitenden Stimmen verstummten sofort. Schuhe schlurften zum Ausgang, die gläserne Schiebetür wurde zugeschoben.

Und wieder einmal an diesem Tag hoffte Tony Tanner aus einem Albtraum aufzuwachen, und wieder einmal wurde ihm diese Gnade versagt. Er bewegte sich mit kleinen Schritten den Spalt entlang. Seine Aktion hatte keinen rationalen Sinn mehr, sondern war nur noch Ausfluss einer langsam aufsteigenden Panik. Er wollte nur näher an den Ausgang herankommen, das Gefühl haben etwas zu tun, sich mit dieser lächerlichen kleinen Fluchtaktion selbst beruhigen. Dennoch achtete er darauf, den Vorhang nicht in Bewegung zu versetzen und keine Geräusche zu machen.

Die beiden Männer hatten in einer Sitzgruppe Platz genommen, an der Tony vorhin vorbeigekommen war. Jetzt erkannte er die zweite Stimme. Es war Montalban. Zuerst konnte Tony keine Worte unterscheiden, sondern vernahm nur den Klang der Stimmen. Die beiden Männer hatten ganz offensichtlich Meinungsverschiedenheiten. Das anfänglich ruhige Murmeln der Stimmen steigerte sich bis zu ärgerlichen Ausrufen und gegenseitigem Unterbrechen.

»Sie haben ja keine Ahnung, welcher Aufwand damit verbunden ist – es geht nicht allein um die Kosten – ich kann mir den Strom nicht aus den Rippen schneiden – Umweltauflagen, papperlapapp, aber wenn mir die Leute krepieren, kann ich das auch nicht einfach so in den Zeitungen schön schreiben lassen, auch wenn es meine Zeitungen sind …« Das war Matanka.

Jetzt wo er ärgerlich war, dröhnte sein Organ fast so wie eine Bronzeglocke.

»… gerade jetzt brauchen wir – absolut entscheidend – es geht hier nicht um persönliche Eitelkeiten, sondern um den Dienst an der Sache …« Das war Montalban. Er redete betont beschwichtigend, und so sank die Lautstärke wieder ab, und das Murmeln wurde unverständlich.

Aber jetzt wollte Tony mehr wissen. Er arbeitete sich bis zur Mauerecke vor und stand nun fast unmittelbar hinter den Männern. Erst als er Position bezogen hatte, fiel ihm ein, dass er nun leicht zu entdecken war, falls nur einer der beiden aufstehen und zufällig einen Schritt in seine Richtung tun würde.

Die Stimmen waren verstummt. Hörbar war nur das Kratzen eines Kugelschreibers über Papier und das Rascheln, als einer der beiden das Papier faltete.

»Wir müssen über die Konzentration sprechen«, setzte François de Montalban neu an.

»Ich sagte es schon, lassen Sie mich überlegen wie oft, etwa ein Dutzend Mal, dass die Behälter das nicht hergeben. Wir haben Versuche gemacht, soweit ich das meinen Chemikern überlassen konnte – erste Undichtigkeiten traten bereits nach fünf Minuten auf, die Lecks nach sieben Minuten, und der Materialfraß nach zehn Minuten. Nur die Erhöhung des Drucks kann der Ausweg sein, mehr kann ich ihnen nicht raten.«

»Und ich sagte Ihnen ebenso oft, dass wir dann gleich auf dem Boden bleiben können – mehr Druck, mehr Materialstärke, mehr Gewicht, mehr Aufwand, größere Flugzeuge.

Außerdem wissen wir ja inzwischen, dass erhöhter Druck erhöhte Temperatur bedeutet. Und was schließen wir daraus? Entweder geht die Tonnage für eine Kühlapparatur drauf oder

Bum!«

»Oder Bum«, wiederholte Matanka versonnen. Er lachte versöhnlich. »Vergessen wir über allen Differenzen nicht, dass wir eine gemeinsame Aufgabe zu erledigen haben. Und das heißt, dass wir eine Lösung finden werden. Jetzt wollen wir uns den weniger ernsthaften Dingen des Lebens widmen. Ich muss mich zeigen, sonst leidet mein Ruf als Gastgeber.«

Sessel wurden zurückgeschoben, und ihre Füße kratzten hässlich auf dem Marmorboden, dann entfernten sich die Schritte der beiden Männer.

Ich muss hier raus, bevor Matanka die Alarmanlage für diesen Bereich aktiviert, fuhr es Tony durch den Kopf. Er zwängte sich aus seinem Versteck und schlich gebückt zum Ausgang. Auf dem niedrigen Tisch lagen kreuz und quer einige unbeschriebene Blätter. Im Vorbeigehen steckte Tony die beiden obersten Blätter ein.

Die Schiebetür war geschlossen, aber als er kräftig an einem Griff zog, öffnete sich knackend eine Sperre und eine Türhälfte glitt zur Seite. Ein milder Nachtwind wehte ihm ins Gesicht, Musik erklang aus einem Teil des Gartens. Kein Mensch war zu sehen.

Gerettet, dachte Tony und schob die Tür mit dem Außengriff zu. Dann vernahm er aus Richtung des Haupthauses, sehr leise, aber dennoch unüberhörbar, das hässliche und aufdringliche Schnarren einer Alarmglocke.

Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Jetzt half nur die schneidige Attacke. Er riss die Tür wieder auf, steckte den Kopf durch den Spalt und rief laut: »Hallo, ist hier jemand?« Nichts rührte sich. Tony schob sich noch etwas weiter in den Bungalow hinein. »Hallo«, schrie er noch einmal mit aller Lautstärke, die ihm zur Verfügung stand. »Ist hier jemand?«

Matanka und Montalban erschienen am gegenüberliegenden Ende des Raumes. Als sie Tony entdeckten, der halb im Raum, halb noch im Garten in dem Türspalt steckte, entspannten sich ihre Gesichter. Aber Tony hatte durchaus die flüssige Bewegung bemerkt, mit der Montalban die Hand wieder unter seinem Jackett hervorzog.

»Verzeihung, wenn ich Ungelegenheiten mache«, sprudelte Tony, »es wäre mir sehr peinlich, aber ich hoffte Gelegenheit zu erhalten, einen Blick auf diese Kunstwerke zu werfen und darum habe ich einfach einmal hereingeschaut.«

»Bitte, bitte«, Matanka war plötzlich ganz der aufmerksame Gastgeber. »Ich bin hoch erfreut, dass sich einer meiner Gäste nicht nur für das Büfett interessiert. Das ist recht selten, müssen Sie wissen. Aber kommen Sie doch bitte herein, Ihre Position zwischen Tür und Angel ist sicherlich etwas unbequem, Herr …?«

Montalban zeigte sich als Grandseigneur der alten Schule und stellte Tony vor.

Matanka nickte verständnisvoll. »Richtig, wir sind uns zwar noch nie persönlich begegnet, aber Sie verstehen sicherlich meinen Drang, meine Gästeliste mit einem Funktionär des Büros für königliche Reiseangelegenheiten schmücken zu können. Im Gegensatz zu meinem Freund Montalban hier wirke ich neben einer schönen Frau nämlich nur noch hässlicher.«

Matanka kicherte fett, kehlig und gut gelaunt. Er schüttelte Tony die Hand.

Sein Gesicht war von Pockennarben bedeckt, aber das durfte einem Gesprächspartner kaum auffallen. Denn beherrscht wurde Matankas Gesicht von einem schwarzen Augenpaar unter buschigen, zusammengewachsenen Brauen. Niemals zuvor hatte Tony Augen in dieser extremen Färbung gesehen. Sie waren so schwarz, dass die Pupillen nicht erkennbar waren, und sie waren so groß, dass manchmal, wenn Matanka die Lider etwas zusammenkniff, nichts Weißes mehr schimmerte, sondern nur noch unheimliche Schwärze sichtbar war.

Kontaktlinsen, dachte Tony, das müssen Kontaktlinsen sein. In dem Moment, in dem er diesen Gedanken hatte, wusste er, dass er hier keinen Verdacht formuliert hatte, sondern einen Wunsch. Lieber Gott, mach, dass Matanka Kontaktlinsen trägt, sonst – ja, was sonst?

Tony riss sich von dem Blick des anderen los und deutet auf ein Fresko an einer Zwischenwand. Matankas Augen schienen leer zu sein, eine dunkle Tür, hinter der sich alles verbergen konnte, was menschliche Ängste und Fantasien jemals in Worte und Bilder gefasst hatten.

Und es war, als wären diese Augen ein Strudel, als würden sie einen Sog ausüben, sich am Gegenüber festsaugen wie die Tentakeln eines Kraken.

Für einige Sekunden blieb diese scheußliche Empfindung noch in Tony bestehen, dann wurde er wieder Herr seiner eigenen Gedanken.

»Mittelamerika, nicht wahr?«, sagte er und zwang sich zur Ruhe. »Ich sah es von draußen, das heißt, eigentlich nur einen Teil, aber es machte mich neugierig.«

»Sie kennen sich mit diesen faszinierenden Kulturen aus?«

»Eigentlich nur oberflächlich. Ich habe die Ruinenstätten gesehen, war aber schon immer fasziniert von den Maya, Azteken, Olmeken, Tolteken und wie sie alle heißen. Wissen Sie, das war am Anfang natürlich auch kindliche Vorliebe für Schauergeschichten. Menschenopfer, herausgerissenen Herzen und so …«

»Menschenopfer« Matanka kicherte glucksend.

Tony vermied es, seinem Blick zu begegnen.

Sie traten vor das Fresko.

»Sie haben in Ihrer Aufzählung mittelamerikanischer Kulturen die Mixteken vergessen«, dozierte Matanka. »Genau dieser Kultur entstammt dieses Wandbild. Ich gestehe, dass es eine Menge Beziehungen und einiges an Bestechungsgeldern kostete, es außer Landes und hierhin zu bringen. Andererseits liegen mit Sicherheit noch dutzendweise Tempel im Dschungel, ohne dass auch nur ein Archäologe davon weiß. Der Verlust für die Menschheitskultur dürfte also nicht so groß sein wie meine Freude, dieses Werk im Original zu besitzen.«

Tony deutete auf eine Gestalt im linken oberen Viertel des Bildes. Es handelte sich um ein unförmiges, fast nilpferdartiges Ding, mit gewaltigem Bauch und menschlichen Armen und

Beinen, das auf einer Art Podest zu hocken schien. Einen Kopf besaß die Figur nicht.

Matanka beantworte die ungestellte Frage mit einem Schulterzucken. »Sie wissen, dass vieles noch im Unklaren liegt. Das macht ja auch einen Teil des Reizes dieser Kulturen aus. Die Wissenschaftler behelfen sich damit, dieses Ding als unbekannte Gottheit zu interpretieren. Oder sie nennen es unbekanntes Monster, was ich für geradezu überbordend originell halte. Für viel faszinierender halte ich die beiden Gestalten hier unten.« Matanka meinte zwei reich geschmückte Männergestalten, die beiderseits eines runden Schildes, der einen Totenschädel und einige Verzierungen trug, abgebildet waren. »Die Haut der Männer ist schwarz,« erklärte Matanka. »Das hat aber nichts mit der realen Hautfarbe zu tun. Es ist die Farbe des Krieges und des Todes.«

»Und die Farbe Kalis«, entfuhr es Tony.

»Und auch die Farbe der Kali. Aber nicht nur das. Sagt Ihnen der Begriff ›Kalaratri‹ vielleicht etwas?«

Tony schüttelte den Kopf. Matanka schien das Thema zu lieben. Er geriet regelrecht in Fahrt.

»›Kalaratri‹ bedeutet Kali in ihrem Aspekt als die alles verhüllende Dunkelheit. Die Nacht, welche die Erde umfängt, wenn sie geschaffen oder zerstört wird. Und da wir ja allesamt der festen Überzeugung sind, dass die Erde schon erschaffen wurde, da wir weiterhin allesamt wissen, dass wir uns im Zeitalter der Kali, dem Kali-Yuga, im Westen ›Eisernes Zeitalter‹ genannt befinden, dürfen wir schließlich die Folgerung ziehen, dass der derzeitige Zustand der Welt eben mit Kalaratri zutreffend bezeichnet ist. Natürlich bedeutet es nicht eine wirkliche Dunkelheit. Eher eine Verdüsterung des Wissens, Verhüllung der Seelen, Verblödung der Menschen.« Wieder kicherte Matanka. »Die Vorstellung hat für mich etwas durchaus Reizvolles. Da brüstet sich die heutige Zeit damit, die Epoche des Wissens zu sein – weltweiter Nachrichtenaustausch, Informationsgesellschaft, Daten-Highway und natürlich dieses ganze hochnäsige Internet-Getue – und tatsächlich herrscht Kalaratri: Dunkelheit, Unwissen, Verwirrung, Irrsal, Verfall. Keiner weiß genau, was überhaupt stattfindet.«

»Das klingt so, als könnten Sie Redenschreiber im Vatikan werden.«

»Der Vatikan, ja, aber wer weiß, vielleicht ist der Papst ja auch nur ein Produkt der Verdunkelung? Wie war das mit den falschen Propheten in der Apokalypse? Junger Mann, heute darf man niemandem mehr trauen! Die Zuflucht zu den alten Gesetzen ist aber auch keine Garantie. Nur der Wandel ist beständig.«

Matanka legte Tony vertrauensvoll die Hand auf die Schulter. »Wissen Sie«, fuhr er dann fort, »deshalb hat dieses Wandbild für mich etwas Tröstliches. Es ist sozusagen ein ewig wahrer Kommentar zu den Wirrnissen unserer verrückt gewordenen Epoche. Es enthält die beiden Dinge, die unsere Weltgeschichte seit jeher bestimmt haben und immer bestimmen werden: Männer und Waffen. Das ist das einzige Credo, das wirklich ewig Bestand haben wird.«

Von Montalban war ein zustimmendes Hüsteln zu hören.

Tony erinnerte sich an die Wachmannschaften und an den Hubschrauber mit der undefinierbaren Halterung. Ihn fröstelte. Vielleicht war es auch die Berührung durch Matanka gewesen. War es nicht so, als wäre die Haut dort, wo Matanka seine Hand hingelegt hatte, kalt und gefühllos geworden?

Du beginnst durchzuknallen, sagte sich Tony. Ruhig bleiben. Stell noch eine halbwegs intelligente Frage und dann ab durch die Mitte.

»Ist denn wenigstens, trotz aller geistigen Verwirrung heutzutage, klar, was dieser Schild mit dem Totenkopf obendrauf zu bedeuten hat?«, brachte Tony schließlich mit relativ gefasster Stimme heraus.

»Wieso Schild?«, entgegnete Matanka. »Die zweidimensionale Darstellung lässt alles offen – es könnte ja auch eine Kugel sein.« Die Stimme bekam etwas Lauerndes.

»Selbst der Rumpf eines U-Bootes würde von vorn gesehen wie eine flache Scheibe wirken«, warf Montalban gut gelaunt ein.

»Um es Ihnen genau zu sagen, Herr Tanner, auch hier ist die Interpretation umstritten. Herkömmlich würde man sagen, es ist eine Opferszene. Der Mann mit der Fackel links setzt den Opferstapel in Brand. Aber wer weiß? Vielleicht ist das, was für eine Fackel gehalten wird, in Wahrheit als eine Art Schlauch zu verstehen. Dann würde etwas eingefüllt. Aber was? Und da schauen wir auf die Gestalt rechts, die in einem Gefäß rührt. Vielleicht ein indianischer Alchimist?«

Tony wurde von dem unangenehmen Gefühl überfallen, dass er hier einer Prüfung unterzogen wurde. Aber er wusste nicht, warum er überhaupt getestet werden sollte. Er wollte doch nur noch eine einigermaßen intelligente Bemerkung machen und dann den Rückzug antreten. »Diese verknoteten Bänder, dort rechts unten, erinnern mich irgendwie an das Anch-Symbol, das ägyptische Götter tragen.« Das war ein absoluter Schuss in den Ofen, beschimpfte sich Tony selbst, als der Satz heraus war. Wie ein Student im ersten Semester. Höchst gradigst peinlich.

Aber Matanka war gnädig gestimmt. »Hmm ja, in der Tat, das war mir noch nicht aufgefallen, diese Ähnlichkeit. Es soll eine Waffe sein. Genauer gesagt eine Geißel, ein Attribut des

Adlerkriegers, der darüber abgebildet ist. Aber ich denke, wir sollten uns nun wieder in die Gesellschaft mischen. Nein, nein, nicht durch den Garten. Wir gehen durch das Haus, Herr Tanner. Warten Sie, ich gehe vornweg.«

Sie gingen in Richtung auf den Flur. Matanka zeigte mit einer weiten Geste auf ein Ölbild, das an der Wand befestigt war. »Jan van Eyck, Genter Altar, die Tafel der gerechten Richter. Ich hoffe, das sagt Ihnen etwas?«

Es sagte Tony überhaupt nichts, daher murmelte er nur einen unklaren Kommentar, der Begeisterung ausdrücken sollte.

Während sie durch das Haupthaus gingen, plauderte Matanka munter weiter und offenbarte sich als Waffenliebhaber.

»Ich habe mir erlaubt, einige neuere Stücke meiner Sammlung draußen im Garten auszustellen. Jeder Sammler ist auch ein wenig eitel und möchte seine Schätze präsentieren – wenigstens in den meisten Fällen.« Matanka kicherte wieder, als hätte er gerade einen guten Witz gemacht.

Sie traten auf die Treppe des Hauses und stiegen zum Garten hinunter. Die Gäste hatten das Büfett inzwischen abgeräumt und waren, sozusagen auf höherer Ebene, zu den geistigen Getränken zurückgekehrt. Einzelne Gruppen standen herum, neben der Musikkapelle drehten sich Paare auf einer Tanzfläche.

Matanka steuerte auf einen Tisch zu, neben dem vier Wachen Posten bezogen hatten und so den Wert der ausgestellten Objekte eindrucksvoll unterstrichen.

Auf blutrotem Samt lagen dort Schwerter, Messer und Dolche.

Liebevoll deutete Matanka auf ein schweres einschneidiges Messer. »Ein Khaiber-Messer der Afghanen und Pathanen. Die britischen Expeditionstruppen haben öfter unangenehme Erfahrungen mit den Trägern dieser Waffe gemacht. Das hier ist ein Khanda-Schwert. Eine äußerst schwere Waffe – kann einem Mann mit einem Hieb den Arm abtrennen. Dieser Dorn hinten am Griff dient als zweiter Handgriff, falls das Schwert beidhändig geführt werden sollte.«

Matanka ging an den ausgestellten Waffen entlang, berührte jede fast zärtlich mit den Fingerspitzen, während er seine Erläuterungen abgab. Diese Ehrfurcht und Sanftheit im

Zusammenhang mit Kriegsgeräten erschien widersprüchlich.

»Ein Zafar Takieh«, fuhr Matanka fort. »Ihnen wird der seltsame Griff auffallen, der eher zu einem Spazierstock zu gehören scheint. Das kommt daher, dass diese Schwerter traditionell vom Maharadscha in der Hand gehalten wurden, wenn er Recht sprach. So konnte sich der Fürst auf das Schwert stützen. Das ist ein Pata – der Griff ist zugleich als Armschutz ausgebildet, der Unterarm verschwindet vollständig darin. Es erinnert ein wenig an eine Prothese, finden Sie nicht. Ja und hier ist ein Prunkstück: ein Talwar aus Lahore. Herrlich?«

Das dunkle, zufriedene Lachen Matankas ließ Tony Tanner erschauern.

»Natürlich nicht – Frauen sind gefährlicher als Schwerter«, setzte Montalban trocken in Matankas Kunstpause. Für einen Augenblick waren die drei Männer in kichernder Vertrautheit vereint. Dann nahm Matanka den Faden wieder auf.

»Sehen Sie, Herr Tanner, diese Scheiben, die senkrecht zum Griff angebracht sind und die Hand schützen sollen, sind das typische Merkmal für ein Talwar-Schwert. Es ist selbst für Experten schwierig, die einzelnen Herstellungsorte zu unterscheiden, aber dieses Exemplar wurde eindeutig in Lahore gefertigt, irgendwann in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Das ist natürlich ein japanisches Schwert, aber ich gestehe, auf dem Gebiet kenne ich mich nicht aus, auch wenn ich die Kunst der japanischen Schwertschmiede ebenso bewundere wie diese exquisite Mischung aus verfeinerter Kultur und Gnadenlosigkeit, welche die Samurai charakterisiert.«

Sie waren am anderen Ende des Tisches angekommen. Neben dem langen Samuraischwert lag nur noch ein Dolch. Aber Matanka schien diesem Ausstellungsstück keine Aufmerksamkeit mehr widmen zu wollen.

Das wiederum reizte Tony, und er fragte danach.

Matanka sah ihn mit seinen unangenehm schwarzen Augen offen an. »Ich hatte offen gestanden gehofft, dass Sie mich danach fragen. Kleine Dinge werden ja so leicht übersehen. Aber Sie haben die Prüfung bestanden.« Matanka hob den Dolch, der sich in einer Scheide aus Silber mit einer Fellverzierung um die Öffnung und Knocheneinlagen an den Seiten befand, hoch. »Eigentlich recht unauffällig, wenn man von der Kunstfertigkeit der Scheide einmal absieht. Aber sozusagen ein Stück mit Vergangenheit. Ein tibetischer Dolch, er soll nKum mPhosa gehört haben. Der Name sagt Ihnen vermutlich nichts und es wird Ihnen auch nichts sagen, dass dieser tibetische Regionalfürst in einem Annex zum Gesar-Mythos besungen wird. Machen wir es kurz – sehr alt, sehr mythisch, sehr wertvoll. Leider ist das Stück aber nicht vollständig.«

Auf Tonys erstauntes Stirnrunzeln hin deutete Matanka auf die Scheide. »Sie sehen hier eine Schlaufe. Ursprünglich, so will es zumindest der Mythos, soll hier eine Peitsche befestigt gewesen sein. Natürlich keine normale Peitsche. Sie ließ sich zu einer Art Knoten falten und sie war aus der Haut einer heiligen Kobra gefertigt, die nKum mPhosa bei einem seiner

Raubzüge in das indische Tiefland getötet hatte.«

»Keine sehr eindrucksvolle Waffe, so eine Peitsche, meine ich.«

»Nun, alles weist darauf hin, dass eine Peitsche sich sehr wohl als Waffe eignet. Wenn man mit ihr umgehen kann. Aber das gilt für jede Waffe«, erwiderte Matanka. »Dem Mythos nach konnte nKum mPhosa meisterlich damit umgehen. Er konnte einen Kriegselefanten umwerfen, indem er die Peitsche um eines seiner Beine schlang und zog. Denn eine gute Waffe gibt dem Krieger zugleich Kraft. Zumindest im Mythos ist das so. Da müssen Waffe und Benutzer zusammenpassen wie Schwert und Held der Nibelungensage – oder wie Artus und Excalibur.« Matanka zog den Dolch aus der Scheide. Es gab ein leises zischendes Geräusch, als die Klinge an der Fellverzierung vorbeizog. »Hier nehmen Sie!«

Bevor Tony die Hand zurückziehen konnte, drückte Matanka ihm die Waffe auf die Handfläche. Der Dolch war viel schwerer, als Tony Tanner es erwartet hatte.

Angewidert und zugleich fasziniert starrte er auf den Gegenstand in seiner Hand. Der Griff war fast schwarz und von den verschwitzten Händen, die ihn umfasst hatten, abgeschliffen.

Dennoch waren Reste einer Figur erkennbar. Tony hob den Dolch, um ihn in der matten Beleuchtung besser betrachten zu können. Ein kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken. Es war eine Kali-Figur. Oder zumindest, soweit konnte er klar denken, ein weiblicher Dämon des tibetischen Lamaismus. Eindeutig war das Gesicht auszumachen, zugleich schön und grausam verzerrt mit Eberzähnen, die zwischen den vollen Lippen hervorlugten, üppigen Brüsten über einem elegant gebogenen Leib, der zwischen den Schenkeln als Zierde einen roten Edelstein trug.

»Legen Sie Ihre Finger richtig um den Griff«, tönte Matankas Stimme durch das Rauschen in Tonys Ohren. Seine Stimme hatte wieder diese tiefe Vibration, schien wieder das auf- und abschwellende Dröhnen einer Bronzeglocke zu imitieren.

Tony schwankte leicht, seine Knie wurden weich. Wo war er?

»Schließen Sie die Hand, spüren Sie die Kraft dieser Waffe!«

Konzentriere dich, Tony Tanner, fuhr es ihm durch den Kopf. Lenke dich ab, denke an etwas anderes, denk dir irgendeine Schweinerei aus, denke an den Geschmack eines Hundehaufens, aber bringe diese Stimme aus deinem Schädel. Tony konzentrierte sich auf die Waffe. Für einen Augenblick fühlte er sich freier. Der Dolch lag noch immer offen auf seiner Handfläche. Die Klinge war ebenfalls seltsam – zwei parallele Schneiden, die sich nach der Hälfte der Länge zueinander krümmten und so eine fingerlange dünne Spitze von quadratischem Querschnitt formten.

Wozu braucht man diese Form, was hat das für einen Sinn, Waffen sind die praktischsten Geräte dieser Welt, konzentriere dich auf diese Frage, Tony Tanner, los, mach schon …

 

»Ich stoße ihnen damit die Augen aus!« Eine neue Stimme war plötzlich in seinem Kopf. Sein Herz begann zu rasen, das Pumpen brachte seinen Körper in Bewegung. Woher kommt diese Stimme?

»Ich stoße die Spitze durch den Sehschlitz ihrer Helme. Ich stoße bis in ihr Gehirn.«

»Haben Sie keine Hemmungen, Herr Tanner, es ist ein faszinierendes Gefühl, eine solche Waffe in den Händen zu halten, genießen Sie es …« Wieder die dröhnende Stimme Matankas, wie von weit her.

Steck dir deine Faszination samt deinen Mordgeräten, wohin du auch immer willst, du A … Dieses Dröhnen …

»Ich stoße die Spitze in die Lücken zwischen den Maschen ihrer Kettenhemden. Ich ziele gut und spüre, wie die Spitze an dem Eisen vorbei gleitet und ihr lebendiges Fleisch trifft. Ich ziehe den Dolch heraus und ein Strom von Blut quillt über ihr Kettenhemd, als hätte ich eine Flasche entkorkt.«

Diese Stimme in Tonys Kopf. Er schnappte nach Luft. Jemand schien neben ihn zu treten. Er spürte, wie eine Hand die seine umschloss und seine Finger fest um den Griff drückte.

Die Stimme Matankas erklang, nein, es war keine Stimme, es war Glockenklang, das Dröhnen einer riesigen Glocke, wenn sie die Reiter aus dem weiten Tal zu einem Kriegszug zusammenrief. Unfug, keine Glocke, eine Stimme, eine verdammte Stimme eines verdammten Industriebarons.

Die Glocke schwang und dröhnte, ihr Klang schien sich zu verfestigen, wurde zu Metall, wandelte sich zu Erz, das seinen Schädel auskleidete wie ein Gewölbe.

Der Klang einer Kriegstrommel.

Quatsch, verdammter Quatsch, das ist mein Pulsschlag, mein Herz, meine Pumpe,

Professor Barnard, ihr Einsatz, das Gerät gerät außer Kontrolle – hähä – Gerät gerät – eine Alliteration, du bist ein Poet, Tony Tanner – ein Poet – nur der Pulsschlag – wo bin ich …

Das Schlagen der Trommel, erregend, mitreißend, fordernd.

Tony riss die Augen auf. Rotes Licht sickerte durch die Lider. Rotes Licht? Woher kommt rotes Licht?

Ein dumpf roter Himmel überwölbte ihn. Tony stand auf einer weiten Ebene. Im Hintergrund erkannte er die drohenden Massen steil aufragender Bergmassive. Oder war es der Rauch? Überall waren Feuer, und Säulen von stinkendem, schwarzem Rauch wälzten sich wie fette Maden himmelwärts. Eine Explosion erschütterte die trübe Luft und ließ ihn zusammenzucken.

Ein Schlachtfeld, er war auf einem Schlachtfeld! Das Dröhnen in seinem Schädel wandelte sich, wurde zu einem Teppich von Geschrei, Schreien, Kreischen, Jammern,

Triumphgebrüll und Schlachtrufen. Sein Herz pochte wie wild, es hörte auf, sein Herz zu sein, nein, er war nur noch ein Anhängsel dieses pumpenden Organs.

Tony machte einige steife Schritte vorwärts. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Dunkle Gestalten umringten ihn, verkrallten sich ineinander, wimmelten wie ein Haufen Würmer, wälzten sich am Boden, hieben aufeinander ein, knüppelten sich nieder, rangen miteinander, würgten sich, bissen, stachen, schlugen, schossen. Er sah zwei Kämpfer, die sich gegenseitig die Augen ausgedrückt hatten und nun in hysterischem Kreischen, jeder die Daumen in den leeren Augenhöhlen des anderen, einen taumelnden Tanz vollführten. Er sah Männer, die mit der einen Hand die Eingeweide in ihren aufgeschlitzten Bauch zurückdrückten und mit der anderen Hand den Kopf eines Feindes zu einem roten Brei aus Blut, Hirn und Knochen prügelten. Er sah Pferde dreibeinig vorbeihumpeln, während das Blut aus dem abgeschlagenen Stumpf spritzte, und er sah Männer, denen kaum noch die menschliche Gestalt anzusehen war, brennend aus einem Panzer kriechen.

Schüsse knallten, Maschinengewehre hechelten von allen Seiten, das Jaulen von Granaten trieb das Krachen der Einschläge vor sich her, Erde wurde zu riesigen Pilzen hochgeworfen und wirbelte menschliche Gliedmaßen, Pferdeköpfe, Waffenteile mit sich hoch.

Vor seinen Füßen krochen zwei Feinde vorbei, der vordere einarmig und beinlos, aus seinen Stümpfen eine Spur von blasigem Blut zurücklassend, der hintere, der Verfolger, mit aufgerissenem Leib, aus dem der Darm meterlang wie ein gelblicher Schlauch heraushing und einen betäubenden Gestank ausstieß. Beide konnten nichts mehr sagen, aber ihr Grunzen und Keuchen aus blutigen, zahnlosen Mündern, weit entfernt von allem, was jemals menschliche Laute gewesen sein mochten, zeigten ihre Lust an der Vernichtung des anderen.

Tiefflieger fegten über das Feld und rissen mit hämmernden Maschinenkanonen wahllos eine Schneise von wimmernden Krüppeln in die Kämpfer. Eine Lanze wurde triumphierend erhoben, der Kopf, der sie krönte, spuckte noch tierische Schreie des Hasses gegen den Feind.

Die Trommel schlug. Das Herz hämmerte und ließ jedes Stückchen von Tonys Haut mitschwingen wie das Fell einer riesigen Pauke.

Mit jedem Schlag bröckelte etwas in Tonys Innerem ab, wurden sorgfältig geknüpfte Umgrenzungen zerrissen, pfleglich gehütete Hemmungen weggefegt. Der Dolch in seiner Hand zitterte und vibrierte, antwortete auf das Beben seines Körpers, mehr noch er zitterte vor Kampfeslust, vibrierte vor Blutgier. Und Tony war bereit, seiner Waffe die Nahrung zu geben.

Zorn ergriff sein Wesen, überschwemmte wie eine rote Flut sein Bewusstsein, rann, sickerte und rieselte in die verborgenste Provinz von Tonys Sein. Hass durchfuhr ihn, der große, gute, göttliche, rotgoldene Hass, der einen Mann lebendiger macht, der ihn wie ein eisernes Skelett aufrecht hält, der ihn wie stählerne Muskulatur unbesiegbar macht. Jede Faser seines Körpers vibrierte vor Hass, jede Pore schwitzte Hass aus, jedes Härchen ließ knisternde Funken des Hasses springen.

Und dann sah Tony den Feind. Er stand ganz in der Nähe. Tony machte noch einen Schritt in diese Richtung. DER FEIND. Ich werde dich töten, dachte es in Tonys Kopf. Mein Hass wird dich vernichten, du widerwärtige Kröte, ich werde dich in den Boden stampfen, ich werde deinen Schmerz trinken, ich werden deine Qual zu meinem Zelt machen, deine Schreie sollen mein Lager sein, ich werde mich in deine Haut kleiden. Ich werde deine Kinder in das Feuer werfen, ich werde deine Weiber von meinen Hunden schwängern lassen, ich schlitze dich auf, ich schneide dich in Stücke, ich reiße dir dein Gekröse heraus und stopfe es dir in dein Maul …

 

Tony hörte ein Brüllen und erkannte voller Freude, dass es aus seiner Kehle strömte. Das Gebrüll des jagenden Löwen, das Fauchen des springenden Tigers – wilde Freude am Töten durchpulste ihn. Er sog gierig die blutgeschwängerte, rauchige rot schimmernde Luft in die Nüster, lauschte dem vieltausendstimmigen Chor der Schlacht, diesem männlichen, triumphierenden, berauschenden Klang, diesem Lied, das einen Ton, ein Gefühl, einen Geschmack bejubelte, den einen metallenen Faden lobpries, der fest und untrennbar in den

Teppich dieser Welt verwebt ist, seit der erste Mensch die Hand gegen den anderen erhob, seit das erste Raubtier das Aroma frischen Blutes auf der Zunge verspürte, seit in Urzeiten der erste Einzeller einen anderen Einzeller verschlang, um sein Leben mit dem Leben des anderen zu stärken.

Noch einige Schritte, dann würde er ihn haben, den Orgasmus des Tötens, des Vernichtens, des Zerstörens.

Ein fremder Klang durchdrang das Gelärme der kehligen Stimmen.

 

Was war es. Eine Erinnerung? Eine Erinnerung – an was, Tony fühlte sich stürzen, er versuchte zu bleiben, wo er war, aber dieser Klang riss ihn mit. Lachen. Das Lachen einer Frau.

Das Lachen von Lucille Chaudieu, klangvoll und offen.

Als wenn jemand einen Film geschnitten hätte, befand sich Tony wieder auf Matankas Gartenparty. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er hatte nur einige Schritte weg von dem Ausstellungstisch gemacht. Vor sich sah er eine ins Gespräch vertiefte Gruppe und darin einen Mann, auf den er sich zubewegt hatte. Es war ein kleiner dicklicher Europäer mit rotem Gesicht und einem spärlichen Kranz weißer Haare auf dem roten Schädel. Er stand friedvoll auf dem Rasen und schien sich mit seinem Nachbarn trefflich zu unterhalten. Tony aber schaute auf den Mann, und in seinem Bewusstsein zogen noch die letzten roten Wolken vorbei, in deren Wahnsinn gehüllt er gerade eben bereit gewesen war, diesen Mitmenschen in Stücke zu schlagen.

Keiner der Gäste hatte Tony beachtet. Lediglich Matanka und Montalban hatten ihn aufmerksam beobachtet, wie Forscher ein Versuchskaninchen betrachten mochten.

Tony wendete sich zurück zum Tisch und legte den Dolch sanft auf die Samtdecke.

»Eine herrliche Waffe, wirklich«, sagte er dann etwas matt. »Sie hat so etwas – Suggestives.«

Matankas filzige Brauen wanderten die Stirn hoch, wenn auch die Schwärze seiner Augen nichts von seinen Gedanken verriet. Tony hatte ihn beeindruckt.

»Nicht wahr«, bestätigte er dann. »Nicht viele Menschen wissen das wirklich zu schätzen.«

»Ich kann es«, versicherte Tony. »Und wenn Sie mich nicht mit Ihrem gesunden Sammlermisstrauen beobachtet hätten, wäre ich doch glatt in Versuchung geraten, dieses schöne Stück heimlich in die Tasche zu stecken.«

Matanka atmete tief durch. »Sie wären – sicherlich ein – würdiger Träger …«

 

Sie wechselten noch einige höfliche Worte, dann konnte sich Tony von den Herren trennen.

Er steuerte den nächsten Tablettträger an und leerte einige Gläser im Sturztrunk, um sich dann mit dem letzten verbliebenen Glas, unter den bewundernden Blicken des Inders, zwischen die Gäste zu mischen.

»Sie werden noch unter einer Brücke enden, junger Mann.« Das war Lucille Chaudieu. Seine Retterin.

Tony lächelte die schöne Französin an und hob das Glas. »Eine kleine Feier im kleinsten Kreis. Ich mit mir. Ich bin gerade dabei, den Verstand zu verlieren – und das muss unbedingt begossen werden.«

»Sie verlieren den Verstand?« Lucille lächelte maliziös. »Bei einem Mann ist das doch kein großer Verlust.«

Tony nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. »Gnädigste, Sie schätzen die Männer falsch ein. Vielleicht liegt es daran, dass sich nur Männer einer gewissen Intelligenzkategorie in das Leuchten Ihrer Schönheit wagen, oder aber Sie selbst tendieren eher zu den Herren, die sich weniger durch geistige Potenz als durch anderweitige solche auszeichnen.« Er genoss seine Replik und wartete auf die fällige Ohrfeige. Es war sowieso alles egal, also warum nicht ein wenig Spaß haben und dafür einen Abdruck dieser köstlichen fünf Finger riskieren? Aber der erwartete Einschlag blieb aus.

Tony leerte sein Glas endgültig und knallte es zielgenau, aber mit zu viel Schwung auf ein bereitgehaltenes Tablett. Der Diener knickte unter dem Einschlag des Glases fast zusammen, rettete aber mit großem Geschick den gesamten Inhalt seines Silbertabletts.

Als sich Tony wieder Lucille zuwandte, traf er auf den Blick ihrer sanften Augen. Es nahm ihm den Atem.

»Kann ich etwas tun, um Ihren so überaus reichhaltigen Verstand vor dem vorzeitigen Verlust zu retten?«, fragte sie dann sanft.

Tony ergriff ihre Hand und legte sie an seine Lippen. »Wie schön, wenn es sein könnte. Aber nur eine reine Jungfer vermag mich vor dem Feuer des Wahnsinns zu bewahren. Und

Sie sind nicht rein, meine Schöne, Sie sind absolut nicht rein.«

Die Hand wurde freigegeben und pendelte an Lucille Chaudieus Seite wie ein fremder Gegenstand, während sie in einer Mischung aus Verwunderung, Ärger und einem anderen, fremden Gefühl Tony hinterher sah. Der machte einige Schritte, drehte sich noch einmal zu ihr hin und vollführte eine Verbeugung, die in ihrer Perfektion jedem spanischen Höfling zur Ehre gereicht hätte.

»Da man sich ja bekanntlich im Leben immer zwei Mal sieht«, begann er, »und da dieses unsere zweite und mithin letzte Begegnung war, darf ich Ihnen noch einen Rat auf den weiteren Lebensweg geben. Hängen Sie sich nur an Männer mit Verstand. Ich versichere Ihnen, es gibt wirklich welche.«

»Ja, es gibt sie, und sie füttern mit dem Yeti zusammen das Ungeheuer von Loch Ness«, schrie Lucille Chaudieu.

***

»Ein bemerkenswerter junger Mann«, sagte Montalban, der plötzlich an ihre Seite trat.

»Ein bemerkenswerter Idiot«, antwortete Lucille Chaudieu.

»Na, na, na.« Montalban schnalzte wohl gelaunt mit der Zunge. »Höre ich da etwa eine Spur von gekränkter Eitelkeit?«

Sie sah ihn von der Seite an. »Wenn man seit dem vierzehnten Lebensjahr jeden Kerl flachgelegt hat, den man flachlegen wollte, ist etwas Selbstbewusstsein wohl entschuldbar. Finden Sie nicht?«

»Absolut, meine Schöne, Sie haben jedes Recht dazu.« Er legte ihr seine Hand in den Nacken und schob sie leicht in die Richtung einer Gruppe, die sich um Matanka gebildet hatte. Unter seinen Fingerspitzen spürte er deutlich, wie sich ihre Muskeln in Abwehr verhärteten, und er ließ seine Hand heruntergleiten und gab der Geste damit einen freundschaftlich aufmunternden, völlig unerotischen Charakter.

Innerlich jubelte François de Montalban. Was war das für ein herrliches Spiel! Ein Abenteuer, ein prickelndes Wagnis! Viel erregender als der Moment, an dem er sich zum ersten Mal zwischen die feuchten Schenkel der Zimmermädchen im elterlichen Schloss geschlichen hatte, erregender als der Moment, in dem zum ersten Mal eine Kompanie Soldaten auf seinen Befehl losmarschiert war, ja, selbst erregender noch als der erste Schuss im Krieg, wenn man den anstürmenden Feind über Kimme und Korn des Karabiners anvisiert und nach der krachenden Betäubung des Schusses und des Rückschlags die rote Rose erkennt, die man auf des Gegners Stirn gemalt hat, und selbst erregender als der erste Einritt in die Arena, in der ein gereizter Stier darauf wartete, seine fünf Zentner Wut endlich auf ein menschliches Ziel losbinden zu können.

Denn ein Stier konnte einem mutigen Mann nicht viel antun, außer ihm als Trittstufe für die Erhöhung seines männlichen Lebensgenusses zu dienen. Ein Stier konnte einen Mann nur töten oder verkrüppeln. Aber diese Frau, das wusste Montalban, und er fühlte bei diesem Gedanken wohlige Schauer, diese Frau konnte einen Mann vernichten. Sie konnte seine Seele fesseln, seine Gefühle in den Staub werfen, sein Inneres nach außen wenden, bis er nur noch ein um Gnade winselndes Etwas war. Vielleicht wusste diese Frau nicht einmal etwas von dieser Fähigkeit in sich.

Aber Montalban wusste es, und er war begeistert. Welch ein Spiel, welch ein Glück. Er begann unter Lucilles fragenden Blicken laut und kräftig zu lachen. Der Tod war überall – und das machte das Leben so schön und lebenswert.

 

Neben einigen Uniformierten stand Matanka und schaute zu Montalban. Ihre Blicke begegneten sich, Montalban nickte leicht. Matanka schaute mit seinen schwarzen Augen den Uniformierten neben sich an und ließ dann seinen Blick auf Tony Tanner schweifen, der dem Ausgang zustrebte. Matanka nickte. Der Uniformierte schaute einen anderen Uniformierten an, deutete leicht auf Tanner, streckte dann Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand heraus und führte die Finger mit einer blitzschnellen Bewegung an seiner Kehle vorbei.

Der andere Uniformierte nickte und entfernte sich. Einer der hilfreichen Geister am Tor eilte sofort, um Tonys Wagen herbeizurufen.

In der Zwischenzeit lehnte Tony an der Pforte und sehnte sich nach den Zeiten, in denen er noch einen klaren, einigermaßen funktionierenden Verstand gehabt hatte. Eine Gruppe von Gästen ging an ihm vorbei und wartete außerhalb auf ihren Wagen. Der rundliche Mann, den Tony fast angegriffen hätte, war unter ihnen.

Tony beugte sich zu einem der Diener und fragte in vertraulichem Flüsterton nach dem Namen des Mannes. Es dauerte eine Weile, dann hatten zwei Männer des Personals, nicht ganz so unauffällig, wie es Tony sich gewünscht hätte, die Identität des Mannes herausgefunden.

»Karel van der Plaaten, Niederländer, Experte für Flugsicherung, Beamter bei der EU in Brüssel. Mehr kann ich dem Gästebuch nicht entnehmen, Sir.«

Tony bedankte sich artig und bestieg seinen Wagen. Es war nicht die opulente Limousine, die ihn hergebracht hatte, aber immerhin ein Fahrzeug der Oberklasse. Auf dem Rücksitz nahm ein Karton viel Platz ein. Dem Fahrer war das sichtlich peinlich und er erging sich in ausschweifenden Erklärungen über Fahrten zum Flughafen und verrückte amerikanische Ladys, die Sonderwünsche in Menge hätten.

Für Tony machte es keinen Unterschied. Er setzte sich hinter den Fahrer und genoss es, einem anderen alle Verantwortung zu überlassen. Der Wagen fädelte sich zwischen mehrere abfahrende Wagen ein und beschleunigte mit leisem Surren auf der Straße.

»Es tut mir leid, Sir, eine Panne, der Motor, ich verstehe es auch nicht …«

Die Stimme des Fahrers riss Tony aus seinem Schlaf. Das Rucken des Wagens hatte er im Halbschlaf gespürt, jetzt schreckte er endgültig hoch. Sie standen auf einer dunklen Straße. Links waren unbeleuchtete Häuser, rechts erstreckte sich eine weite dunkle Fläche, die weit hinten von den blinkenden Lichtern einer Industrieanlage begrenzt wurde.

Schlaftrunken beugte sich Tony nach vorn, als helles Scheinwerferlicht den Innenraum des Wagens erfasste und mit scharf geschnittenen Schatten füllte. Mit quietschenden Reifen bremste ein Geländewagen in Tarnbemalung an der Seite. Uniformierte Männer sprangen heraus, rissen die Tür auf und zerrten Tony nach draußen. Sein Kopf schlug schmerzhaft an den Türholm. Halb betäubt lehnte er am Wagen, während ihn ein Mann mit eisernem Griff am Kragen packte und seinen Kopf nach hinten, auf das Wagendach drückte. Ein Messer blitzte auf.

Tony versuchte zu röcheln, aber jedes Geräusch ging in dem Krachen unter, mit dem ein weiterer Wagen das Geländefahrzeug rammte und halb herumriss.

Schattenhaft registrierte Tony eine große Gestalt, die ihm bekannt vorkam. Der Mann, der Tony festhielt, wurde von einem wuchtigen Schlag in die Nieren erschüttert, der Griff um

Tonys Kragen lockerte sich, der Mann kippte mit einem Stöhnen nach hinten, das Messer entglitt seiner Hand. Der Angreifer sprang auf die Motorhaube des Geländewagens und ließ die Spitze seines Kampfstiefels gegen die Kehle eines weiteren Uniformierten prallen. Der röchelte, griff sich an den zerschmetterten Adamsapfel und stürzte zu Boden.

Der Angreifer achtete nicht weiter auf ihn, sondern landete einen Treffer in den Unterleib des dritten Uniformierten. Als sich dieser mit einem Schmerzensschrei krümmte, packte der große Mann die Haare und rammte seinen Schädel gegen die spitze Kante der geöffneten Wagentür. Den Vierten schleuderte der Tollkühne gegen die zerschmetterte Motorhaube seines Wagens. Der aus dem Kühler schießende Dampf machte den schreienden Kerl für einen Moment blind, dann durchbohrte die abgerissene Stoßstange seinen Bauch.

Es blieb nur noch der Fahrer. Der riss eine Pistole hervor, zielte aber nicht auf den Angreifer, sondern auf Tony. Der Schuss ging los, Tony spürte neben sich den Einschlag in die Karosserie und duckte sich instinktiv. Dann krachte der Kopf des Fahrers auf den Kotflügel, sein Genick zerbarst mit hässlichem Knacken unter den Händen des Riesen.

 

»Los doch.« Tony taumelte vorwärts, der andere schob ihn energisch weiter. Hinter sich ließen sie drei beschädigte Automobile und fünf Leichen. Aus dem Kühler des

Rammfahrzeugs zischte noch immer Dampf.

Der Mann schob seinen Arm unter Tony Achsel und schleppte ihn durch die dunkle Straße. Aus den Häusern klangen Rufe, eine Frau stimmte ein klagendes Geheul an.

Der Mann führte Tony immer weiter. Er sagte kein Wort, und Tony selbst war kaum in der Lage, sich aufrecht zu halten, geschweige denn etwas zu sagen. Der Tod griff nach ihm. Er glitt in einen unbekannten Schlund. Es war nicht die Wirkung des Alkohols, es war real, es war nah, es nahm Besitz von ihm. Er roch wieder das Blut des Schlachtfeldes. Schwankend taumelte er vorwärts, nur halb noch in dieser fürchterlichen Wirklichkeit, während ein dünner Blutstrom über seine Stirne rann und von der Braue auf seine Wange tropfte. Wie lange würden ihn Zufälle am Leben lassen – und wollte er eigentlich leben?

Lieber Gott, lass es endlich zu Ende sein, hämmerte es in seinem Kopf. Er wollte stehen bleiben, aber der Arm des kräftigen Mannes schob ihn immer wieder vorwärts.

Dann waren da weitere Männer, es gab eine Rangelei, bei der er auf den Boden gestoßen und sofort wieder hochgehoben wurde. Kräftige Arme fassten um seine Beine, seine Hüften, seine Schultern. Man trug ihn mit eiligen Schritten wie einen Verletzten die Straße herunter.

Tony strampelte und konnte noch den Kopf wenden – sein Retter, sein Entführer, was auch immer dieser Mann war, stand im Licht einer Laterne. Nein, er stand nicht, er beugte sich und zerrte an einem Band, das seinen Hals würgte. Er riss mit beiden Armen daran und drehte sich um die eigene Achse, wie ein angeschossenes Krokodil, das völlig verrückt geworden ist.

Jeremy Steele fiel auf die Knie. Er keuchte und riss an dem Band, das sie um seinen Hals gelegt hatten und das ihm die Luft abschnürte. Durch die dunklen Wolken einer beginnenden Ohnmacht sah er die weiß gekleideten Jünglinge, die Tony Tanner forttrugen. Er musste sich zuerst um sich selbst kümmern. Seine Finger tasteten an dem Band. Das Blut pochte in seinen Schläfen, seine Lunge brannte wie Feuer. Dann brachte er seine Fingernägel unter das Würgeband, tiefer und tiefer, riss mit aller Kraft, es krachte, und er hatte den Hals frei. Er ließ sich zu Boden fallen und japste und keuchte nach Luft. Dann schaute er sich im Schein der Straßenlaterne das Band an. Er entdeckte einen Klettverschluss mit Handschlaufe.

Verblüfft richtete sich Jeremy Steele auf. Sie wollten ihn nicht umbringen. Sie wollten ihn für eine kurze Zeit ruhigstellen oder beschäftigen. Tatsächlich hätte jeder, der nicht mit einem derartigen Aufwand an Wut und Kraft auf das Band losgegangen wäre wie Steele dieses Ding in kürzester Zeit, ohne ernsthafte Atemschwierigkeiten, lösen können. Er stieß ein raues Lachen aus. Jeremy Steele war verwirrt. Er war verwirrt über seine Angreifer, die so blitzschnell aus den Hauseingängen hervorgesprungen waren, ihn mit dem Würgeband unschädlich gemacht und Tanner entführt hatten. Und er war verwirrt über sich selbst.

Bisher war das Leben des Jeremy Steele so logisch und folgerichtig gewesen wie die Blaupause einer Atomwaffe, die unter dem Neonlicht eines Ingenieurbüros liegt. Jetzt gab es eine Unklarheit. An einer Stelle waren zwei Abzweigungen möglich, und das beunruhigte ihn.

Was nun? Was nun mit seinem Leben, mit all den Jahren, in denen er nur gesucht, geforscht, gefragt hatte, in denen er sich selbst über den körnigen Stein seines alltäglichen Schmerzes rieb, sich formte und schliff, bis er selbst zu einer edelsteinharten Spitze geworden war, die er heute auf die Existenz von Tony Tanner setzen wollte.

 

Er hatte seine Werkzeuge bereit. Geschärfte, geschliffene, metallisch schimmernde kalte Foltergeräte, deren bloße Form in ihrer obszönen Eindeutigkeit schon einen Hauch jener

Qualen auszudünsten schienen, die sie hervorrufen sollten. Geräte, die wie Krallen, Klauen oder Reißzähne jener monströsen Wesen wirkten, die einen Menschen in den dunkelsten Stunden seiner Albträume heimsuchen und ihn schreiend und schweißgebadet auffahren lassen. Geräte, deren Mischung aus Grausamkeit und genialer Funktionalität alles übertrafen, was unser an Perversitäten reiches Jahrhundert bisher hervorgebracht hatte. Geräte, die seinen Hass auf diesen Tony Tanner abkühlen sollten, den Mann, dem er den Tod seiner ganzen Familie zuschrieb.

Steele hatte sein Zimmer in einer Absteige, deren Adresse nur in den Reihen hart gesottenster Sextouristen und krimineller Organhändler unter der Hand weitergegeben wurde. In diesem Haus verlangte niemand einen Ausweis. Niemand stellte Fragen. Schreie wurden geflissentlich überhört, und ein Geldschein reichte aus, um eine Leiche verschwinden zu lassen, egal ob es sich um ein, von einem haarigen Japaner zu Tode gequältes Baby aus den Slums oder um einen Erwachsenen, dessen schlackernde Überreste leer wie ein ausgeräumter Karton waren, handelte.

Er wusste, was kommen würde, er hatte es in der Vorstellung schon so oft erlebt und durchgespielt, dass die Wirklichkeit nur noch wie eine flüssige Masse in die verzerrte Form seiner Hassfantasien einzufließen brauchte. Er würde Tanner die Haut stückchenweise abziehen, ihm das Fleisch langsam von den Knochen schaben, er würde ihm die Lider ausreißen, um ihm jeden Ausweg in die schützende Dunkelheit einer Ohnmacht abzuschneiden, er würde ihn über jede Brücke der Peinigung, durch jedes Tal krampfig zuckender Vernichtung schleifen, ihn in den brodelnden Kessel menschlicher Verzweiflung stürzen, ihn in jeder Sekunde zu tausendfachem Sterben treiben und ihm die Erlösung des Krepierens doch verwehren.

Tony Tanner musste zahlen. Bezahlen, bis seine Qual wie schwarzer Schnee auf die zerstörte Landschaft von Steeles Leben niederrieseln würde. Und dann, wenn Tanner soweit war, dass auch Steele ihn nicht mehr zurückholen konnte, dann war der Weg von Jeremy Steele ebenfalls an seinem Ende angelangt.

Auch dieses eigene Ende, diese seit so langem erhoffte Auslöschung seines gequälten Ichs, kannte Steele. Er hatte sich für russische Handgranaten entschieden. Dieser Abgang passte zu seiner Sicht des Daseins – ein schneller, lauter, brutaler, gewalttätiger Abgang, der seiner Nachwelt eine ganze Menge zum Saubermachen hinterlassen würde.

Aber das war vorbei. Jedenfalls für den Augenblick. Dieser Tanner – hatte er mächtige Freunde oder geschickte Feinde? Würde er überhaupt jemals wieder auftauchen? Und war er wirklich der Mann, den er so lange Jahre gesucht hatte? War er Täter oder vielleicht gar Opfer, ein Getriebener, einer, dem die Herrschaft über sein eigenes Leben völlig entglitten war? Zweifel begannen zu nagen, Unklarheiten erzeugten den silbrigen Klang ferne fallender Wassertropfen und unterhöhlten seine Gewissheit. Steele wusste nicht, welche Abzweigung in der Blaupause seines Lebens aktiviert werden würde. Aber er hatte gelernt zu warten.

Wie ein Tiger im Dschungel würde er weiterhin im Schutz gezackter Schatten lauern. Alles war aufgeschoben. Nichts war aufgehoben.

Steele nahm das Würgeband und steckte es in die Tasche. Es konnte noch nützlich sein. Langsam setzte er sich in Bewegung und entzog sich dem Lichtkreis der Laterne.

Es war der Duft von exotischen Blüten, der Tony Tanner aus seiner Ohnmacht weckte und ihn wie auf einer sonnenbeschienenen Allee in die Realität zurückführte.

 

»Das ist aber nun mal wirklich ein Zufall«, stöhnte Tony und begutachtete unter mühsam halb geöffneten Lidern den ihm wohlbekannten Taxifahrer.

Der lachte ihn mit seinem weißen Gebiss an. »Sie glauben noch an Zufälle, Sie Optimist!«

»Was zum Teufel ist optimistisch daran, an Zufälle zu glauben?«

»Nun, das Konzept des Zufalls erlaubt demjenigen, der ihm anhängt, Ereignisse als im Wesentlichen getrennt von seinem Dasein zu interpretieren. Im Klartext: Man glaubt, es ginge einem nur deshalb was an, weil es einem zustößt, aber es könnte auch jedem anderen zugestoßen sein.«

»Und das ist nicht der Fall?«

»Das ist keineswegs der Fall.«

»Gegenvorschlag?«

»Versuchen Sie es mit Ursache und Wirkung.«

»Einspruch abgelehnt.«

Tony stützte sich auf die Ellbogen und schaute sich erst einmal vorsichtig um. In seinem Kopf schien noch immer das Echo des schmerzhaften Knalles, mit dem er gegen den Türholm gestoßen war, zwischen den Schädelwänden hin- und herzuflattern. Vorsichtige Bewegungen waren angebracht.

Er befand sich auf einer Liege in einem ansonsten leeren Raum. Die Wände waren weiß gekalkt und hatten weder Schmuck noch Türen oder Fenster. Ihm gegenüber war der Raum offen, nur ein luftiger heller Vorhang, der sich manchmal im leichten Nachtwind blähte, diente als Abtrennung. Von dort her kam auch der starke Duft nach Blüten – er ließ an die schweren fleischigen Blütenblätter seltener Orchideen denken.

Jetzt vernahm Tony auch das sanfte Plätschern eines Brunnens und das leichte Rauschen, das der Wind aus dem Laubwerk eines Baumes zaubert. Er wollte zu einer Frage ansetzen, aber der Inder unterbrach ihn mit einer Handbewegung.

»Wenn Sie sich in der Lage fühlen, Fragen zu stellen, dann können Sie wahrscheinlich auch gehen. Und in diesem Fall werden sich viele Ihrer Fragen von selbst beantworten.«

Tony nickte brav und richtete sich mit der Hilfe des anderen auf. Die ersten Schritte fielen nicht leicht, und er musste sich an der Wand abstützen, aber Tony beantwortete die besorgten Blicke des Inders mit einem Lächeln, das tapfer wirken sollte, in Wirklichkeit aber lediglich verzerrt aussah. Er schlurfte weiter. Der Inder hielt ihm den Vorhang auf, und zog Tony sachte durch den Ausgang.

Sie befanden sich in einem großen Gartenhof, der auf allen Seiten von Säulengängen begrenzt war, über denen sich weitere Stockwerke in den nächtlichen Himmel erhoben. Den

Mittelpunkt des Gartens bildete ein großer Brunnen. Seine Fontäne stieg aus einer Schale bis in die Höhe des ersten Stockwerkes, dann ergoss sich das Wasser aus der obersten Schale in eine zweite und dritte tiefer liegende und plätscherte dann wie ein durchsichtiger Vorhang in das Becken am Fuß des Brunnens. Über Gruppen von blühenden Büschen erhoben sich einige Bäume, zwischen deren Blättern Früchte schimmerten. Der klagende Ruf eines Pfaus erklang, aus einem Busch zwitscherte ein Nachtvogel.

Sie kamen an einem Raum vorbei, ähnlich dem, in dem Tony erwacht war. Der Vorhang war zur Seite gezogen und gab freie Sicht auf einen Tisch, um den drei Frauen und ein Mann saßen. Der Mann war fraglos Europäer oder Nordamerikaner. Seine Zeigefinger lagen auf großen Spielsteinen, die mit lateinischen Buchstaben beschriftet waren, und er versuchte, daraus Worte zu legen. Die Frauen unterstützten seine Bemühungen.

Im Vorbeischlurfen, Tony wurde in diesem Moment instinktiv langsamer, so als wäre er erschöpft, erkannte er »V– r – h – ng«. Damit konnte Tony nichts anfangen, aber das Wort entstammte sicherlich nicht der englischen Sprache. Die Endung passte auch nicht gut ins Französische. Polnisch, Niederländisch, Deutsch? Nun gut, es konnte ihm egal sein. Der Mann warf Tony einen wirren, glasigen Blick zu, zeigte lallend auf ihn und hätte sich erhoben, wenn ihn die Frauen nicht davon abgehalten hätten.

Tony konnte plötzlich enorm beschleunigen und fragte sich, als er die Nische hinter sich gelassen hatte, aus der undefinierbares Brabbeln ertönte, ob er in einer Irrenanstalt gelandet sein könnte. Die Besorgnis löste sich in Luft auf, als er dem Hausherrn vorgestellt wurde.

Es war ein kleiner, schmächtiger Greis mit einer großen, kühnen Adlernase und den hageren, scharfen Zügen eines Asketen. Die Strenge seines Gesichtes hätte abschreckend gewirkt, wäre sie nicht durch die Lachfalten um die sanften Augen gemildert worden.

»Prabhanadrat Dhevasatri«, stellte er sich vor und begrüßte Tony mit einer tiefen Verbeugung. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie in meinem Hause begrüßen zu dürfen, Herr Tanner.«

»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Allerdings war die Einladung eher unkonventionell.«

Dhevasatri rieb sich lächelnd die Hände. »Wohl wahr. Aber es war, wie sagt man so schön, Gefahr im Verzug.«

»Darf ich fragen, welchem Umstand ich meine – äh – Rettung – oder sollte ich es Wechsel des Gastgebers nennen, verdanke?«

»Sehen Sie den Brunnen im Garten? Die drei Schalen sollen den guten Weg unserer parsischen Religion darstellen: rechtes Denken, rechtes Reden, rechtes Handeln. In Ihrem Fall stand das rechte Reden zugegebenermaßen im Hintergrund, aber die Prinzipien des rechten Denkens und des richtigen Handels wurden von meinen jungen Leuten geradezu prachtvoll befolgt. Wir haben das Richtige getan, das sollte erst einmal als Antwort genügen.«

Tony öffnete den Mund, um seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, dass diese Auskunft ihm absolut nicht genüge, aber sein Gesprächspartner ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen.

»Sie sehen so aus wie einer dieser Helden in den seltsamen Filmen aus den USA. Action-Filme nennt man, glaube ich, diese eigentlich unerfreulichen Streifen, in denen muskulöse Männer in verschwitzten Unterhemden blutverschmiert durch die Gegend rennen und sich dem traurigen Geschäft des Mordens hingeben. Ich denke, wir sollten Ihr Aussehen verbessern. Kommen Sie bitte mit.«

»Was ist mit meinem – Begleiter geschehen«, fragte Tony. Sie gingen über einen langen Flur ins das Innere des Hauses.

»Ihrem Begleiter. Dem geht es gut. Wir haben ihn nur für eine Weile ruhiggestellt. Aber er hat sich derart dumm angestellt, dass meine Späher kurz davor standen einzugreifen, um ihm zu helfen. Er trägt zu viel Zorn in sich. Er ist ein sehr gefährlicher Mann, Herr Tanner.«

»Bombay ist eine sehr gefährliche Stadt. Hier wird man massakriert, nur weil man ein Weißer ist.«

Dhevasatri wurde merklich hellhörig, und Tony musste sein Erlebnis im Kali-Tempel schildern.

»Und Sie sind sich ganz sicher, dass sich der Ausruf auf Ihre Hautfarbe bezog?«

»Nun mein Hemd kann es zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr gewesen sein. Warum fragen Sie?«

»Ach, nur so.« Dhevasatri zögerte, dann fügte er hinzu: »Nein, nicht nur so. Aber die wirklichen Gründe würden Sie nicht verstehen. Oder seien wir optimistisch – noch nicht. Aber setzen Sie sich doch, unser Arzt kommt gleich. Inzwischen werden wir Ihnen eine Erfrischung schicken.«

Die Flüssigkeit in der Schale, die Tony gereicht wurde, sah wie süßliche, grüne Limonade aus. Umso überraschter war Tony, als sie ihm herzhaft, scharf gewürzt und sämig wie Sahne über die Zunge rann, in der Kehle höllisch brannte und seinen ganzen Körper mit einer wundervollen Wärme erfüllte.

Sein Kopf wurde schlagartig frei, als hätte eine der appetitlich-knackigen Hausfrauen aus der Fernsehwerbung für Haushaltsreiniger über die unvermeidlich eklig verfetteten Kachel gewischt und sie mit holdem Glanz versehen.

Vom Flur her erklangen Stimmen. Tony verstand nur Satzfetzen: »Er ist – ein Auserwählter …«

Tony musste grinsen. Die sprachen doch wohl nicht von ihm? Von ihm, Tony Tanner, der bei fast jeder Mannschaftswahl im Sportunterricht übrig geblieben war und vom Sportlehrer zwangszugeteilt wurde, während die sportlichen Helden, von den Mädchen gebührend angehimmelt, die Augen motzend verdrehten und ihm in vorauseilender Schuldzuweisung die mögliche Niederlage anlasteten?

Aber das Hindi-Wort hatte doch noch eine andere Bedeutung – richtig, es konnte »Gezeichneter« heißen. Und das passte nun wieder hervorragend. Gezeichnet war er wirklich.

Seine Fingerspitzen betasteten vorsichtig die dicke Beule an der Stirn, von der aus ein krustiger Streifen geronnenen Blutes zu den Brauen herablief.

Dhevasatri erschien mit einem jungen Arzt, und Tony musste sich, obwohl ihm das ungeheuer peinlich war, ausziehen und auf eine Pritsche legen. Seine Kleidung wurde unterdessen in einem Korb abgeholt und kam am Ende der Behandlung frisch gereinigt zurück.

Der scharfe Geruch von Desinfektionsmitteln füllte den Raum. Der Arzt sprach, und

Dhevasatri übersetzte. »Der Doktor meint, dass Sie keine Stunde zu früh zu einer Behandlung gekommen sind. Einige Wunden waren stark infiziert. Außerdem gibt es in ihrem Rücken einen Einstich, der Ihnen, wenn er nur einen Millimeter seitwärts gewesen wäre, das Rückenmark durchtrennt hätte.«

Solche medizinischen Feinheiten waren Tony im Augenblick herzlich egal. Er bemühte sich um eine stoische Haltung, aber seine Indianer-kennen-keinen-Schmerz-Attitüde musste er oft genug vergessen. Zischend sog er die Luft durch die Zähne, wenn der Arzt wieder einmal mit der sadistischen Gründlichkeit seines Standes in einer offenen Stelle herumporkelte.

Er versuchte sich abzulenken. An einer Wand entdeckte er die geflügelte Sonnenscheibe, das Symbol des Ahura Masda. Seit wie vielen Jahrhunderten mochte dieses Symbol schon existieren?

»Seit ungefähr 2.500 Jahren«, sagte Dhevasatri.

»Ich habe diese Frage nicht formuliert, ich habe diese Frage nur gedacht«, dachte Tony.

»Aber aus Ihrer Blickrichtung war zu erkennen, um was es ging. Und die gestellten Fragen sind immer die gleichen. Alles bloß eine Angelegenheit von Schlussfolgerungen«, antwortete Dhevasatri.

Tony begann zu singen. Nachdem er »Hail Britannia« und »Mary had a little lamb« zum Besten gegeben hatte, krächzte er »Satisfaction«, »Downtown«, »Lucy in the Sky« und »Thriller«, woraufhin der Doktor seine Instrumente krachend in eine metallene Nierenschale pfefferte und den Patienten für geheilt erklärte.

Eine zweite Schale des Getränkes versetzte Tony Tanner in eine Stimmung, die unter anderen Umständen als Übermut zu bezeichnen gewesen wäre.

***

Beim Abschied druckste Tony herum. Er stand hier, aus einer vermutlich lebensbedrohlichen Situation errettet, medizinisch versorgt, gekräftigt und in Kleidern, die kunstreich geflickt und sauber duftend waren, und suchte nach einer Möglichkeit, seine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bitten.

Aber Dhevasatri nahm ihm auch diese Sorge. »Ich habe eine Bitte an Sie, Herr Tanner, Sie würden mir damit einen großen Dienst erweisen. Sie kennen vielleicht meinen Freund Dorkas in London?«

»Oooohhh jaaaa«, Tony wieherte wie eine rossige Stute, obwohl er eigentlich überrascht sein sollte. »Und ob ich den kennen.«

Dhevasatri lächelte. »Könnten Sie Dorkas vielleicht dieses Kästchen zukommen lassen? Keine Sorge, es ist nichts Illegales, kein Rauschgift, keine unerlaubte Ausfuhr oder Ähnliches. Aber es ist eine Situation, in der Eile geboten ist, und wenn Sie persönlich dieses Kästchen nach London bringen und übergeben, dann wäre das der schnellste Weg überhaupt.«

Natürlich erklärte sich Tony bereit, auch wenn der Name Dorkas seine Jubellaune auf ein eher alltägliches Maß heruntergeschraubt hatte. Der Gegenstand, um den es ging, war ein quadratischer Kasten von der Seitenlänge eines Papierblattes, aus dunklem Holz und allseitig mit Schnitzereien verziert. Mit misstrauischen Blicken musterte Tony das Dekor, musste aber nirgendwo das Abbild der Kali entdecken. Dhevasatri deutete auf einen verschnörkelten Schriftzug auf dem Deckel. »Zur rechten Zeit, am rechten Ort, der rechten Hand«, übersetzte er.

Der Taxifahrer, dessen Fahrstil in der Nacht noch mehr Ähnlichkeiten mit der Technik eines finnischen Rallye-Profis offenbarte, brachte Tony sicher in sein Hotel. Dort schlief Tony einige Stunden, während auf dem Flur eine Gruppe weiß gekleideter Jünglinge seinen Schlaf bewachte wie ein eifersüchtiger Drache einen Goldschatz.

Einige weitere Stunden später hatte er Bombay weit hinter sich gelassen und strebte in einer Reiseflughöhe von 9.000 Metern dem britischen Mutterland entgegen. Die Tatsache, dass unter den Stewardessen kein bekanntes Gesicht war, registrierte er mit einer gewissen Enttäuschung. Er trank mehrere Gläser Mineralwasser und schlief dann ein.

Die Tatsache, dass Tony Tanner im Schlaf lächelte, ließ darauf schließen, dass er nicht von seinem Aufenthalt in Bombay träumte.

Fortsetzung folgt …