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Der Arzt auf Java – Dritter Band – Kapitel 2

Alexander Dumas d. Ä.
Der Arzt auf Java
Ein phantastischer Roman, Brünn 1861
Dritter Band
Kapitel 2

Der Tempel

Unsere Leser erinnern sich, dass der Palast Thsermais in dem Tal erbaut worden war, welches zwischen den drei höchsten Gipfeln der Insel, den Bergen Sadjiva, Sari und Gagah, eingeschlossen war.

Nach der Seite des ersten dieser Berge lenkte Argalenka seine Schritte, als er die Bambusumhegung hinter sich hatte, welche die Gärten von den buschigen Höhen trennte, anderen Fuß sie angelegt waren.

Der Eindruck, den die Worte und besonders der Ton Noungals auf ihn hervorgebracht hatten, war so mächtig, dass der Glaube in seine Seele zurückkehrte, und dass er an jedem Kreuzweg, an der Ecke jedes Gebüsches, hinter jedem Strauch, seine geliebte Tochter hervortreten zusehen erwartete. Es schien ihm, als müsste er sich im nächsten Augenblick von ihren Armen umschlungen fühlen.

Dieser Glaube war so fest in ihm, dass der Greis, noch mehr erschöpft durch die erlittenen Entbehrungen als durch das Alter, die Kraft und die Gewandtheit der Jugend wiedergewonnen zu haben schien. Er ging schnell, sprang über die wurmstichigen Baumstämme, die ihm den Weg versperrten, drängte sich durch die Schlingpflanzen, die ihre Gewinde von einem Baum zu dem anderen erstreckten und über seinen Kopf eine Decke bildeten.

So schnell aber auch sein Lauf war, hinderte er ihn doch nicht, einen lauten Lärm zu vernehmen, der vom Tal heraufkam. Er wendete den Kopf und erblickte den Palast Thsermais, der in sich zusammenstürzte.

Bei diesem Schauspiel erzitterten Argalenkas Knie, sein Herz zog sich zusammen und sein ganzer Körper erbebte krampfhaft. Ein entsetzlicher Gedanke stieg in ihm auf. Hatte der Malaie ihn nicht betrogen? War diese Glutmasse nicht das Grab Arroas?

Der Beduis stieß einen Schrei der Verzweiflung aus, sank nieder auf die Knie, streckte die Arme zum Himmel empor und rief den Namen Buddhas.

Aber diese Marter durchzuckte nur die Seele des armen Menschen. Er wendete sich der Hoffnung wieder zu, welche ihm die Kraft verliehen hatte, die wir ihn entwickeln sahen. Da er auf der Welt weiter nichts mehr besaß, klammerte er sich mit wütender Begier an diese einzige Hoffnung, sie festhaltend, wie der Ertrinkende den Zweig, der ihn über dem Abgrund hält.

Er stand auf und setzte seinen Lauf fort, indem er von Zeit zu Zeit stehen blieb, um den Namen Arroas zu rufen, und zwar mit einem so herzzerreißenden Ton, dass die Bäume geweint haben würden, besäßen sie Herzen.

Bald hatte er den großen Wald von Teckholzbäumen hinter sich, der den Berg Sadjiva wie ein Mantel umhüllt, und über dem die nackten Felsspitzen sich erheben.

Die Nacht war vom Himmel herabgesunken. Man konnte das Tal durch den Schein des erlöschenden Feuers erkennen, dessen Funken die Bäume der Nachbarschaft rot färbten, aber der Gipfel des Berges Sadjiva zeigte sich nur noch wie eine finstere Masse an dem gestirnten Himmel.

Vorwärts getrieben durch seinen Schmerz, verließ Argalenka den Fußpfad, den er bisher gefolgt war. Bald stießen seine Füße an die Stücke von Basalt, Lava und Steinen aller Art, mit denen die Seiten des Sadjiva, wie die jedes erloschenen Vulkans der Insel, bedeckt sind. Er erkannte, dass er sich verirrt hatte. Er wollte umkehren, doch nach zehn Schritten stieß er an einen gewaltigen Felsblock, der ohne Zweifel vor langen Zeiten von dem Krater ausgespien worden war, und nun als eine riesige Schildwache hier mitten in der Wüste lag. Argalenka wollte abermals umkehren, allein die Dunkelheit war so dicht, dass er nichts mehr zu erkennen vermochte, und dass es ihm unmöglich war, einen Schritt zu tun, ohne zu straucheln.

Nun bemächtigte sich zum zweiten Mal die Verzweiflung des Beduis. Er warf sich mit dem Gesicht gegen den Boden, und es schien, als hätte seine fromme Ergebenheit in den Willen seines Gottes ihn verlassen. Er wälzte sich im Staub umher und zerfleischte sich das Gesicht und den Körper mit den Nägeln. In die kläglichen Rufe, die er an Arroa richtete, mischten sich törichte Verwünschungen. Er beschuldigte den Malaien, die Menschen, selbst Buddha.

Das finstere Schweigen, welches rings umher herrschte, wurde nun plötzlich durch einen dumpfen Ton unterbrochen, gleich dem des fernen Donners, welcher von Fels zu Fels, von Echo zu Echo, sich fortpflanzte. Jedes Geräusch war in dieser Einsamkeit, welche die Herrschaft des Todes bezeichnete, eine Hoffnung, jede Hoffnung erinnerte den Beduis an seine Tochter. Er hob den Kopf, stand endlich auf und lauschte.

Bald traf ein zweiter Ton, dem ersten ähnlich, das Ohr Argalenkas. Er war in dieser Wüste deutlicher, als zum ersten Mal erschallt, und Argalenka konnte sich nicht darin täuschen. Es war das Gebrüll eines wilden Tieres.

Indem Argalenka alle Illusionen verschwinden sah, die er sich über das Schicksal seiner Tochter gemacht hatte, empfand er eine solche Erschütterung, dass sein Schmerz allmählich zum Wahnsinn wurde. Weit entfernt, dem Todesboten gegenüber zu erzittern, rief er mit fieberhafter Freude: »Gesegnet seist du, der du kommst, meinem Leben ein Ende zu machen. Deine Opfer haben dich an die Klagen des Schreckens, an die Verwünschungen der Wut, an die Krämpfe der Todeszuckungen gewöhnt. Komm näher, um eine Brust zu suchen, die sich nackt und entwaffnet den scharfen Krallen beugt, welche sie zerreißen wollen. Komm näher, um einen Körper zu finden, der sich glücklich fühlen wird, wenn dein blutiger Rachen ihn zerreißt. Komm näher, um ein Herz zu zermalmen, dessen letztes Zucken noch dir danken wird! Zögere nicht, o du, der du Beute suchst. Hier ist eine ruhige und ergebungsvolle, die sich deinen Angriffen darbietet. Komm!«

Gleich einem Liebenden, den das Verlangen verzehrt, wenn er das Liebeszeichen vernommen hat, und der dann eilt, den Augenblick seines Glückes zu beschleunigen, schritt Argalenka der Richtung zu, von woher das Gebrüll ertönte, gehend, wenn er gehen konnte, kriechend, wenn seine Füße ihm den Dienst verweigerten, aller Hindernisse ungeachtet vorwärts dringend und seinen Eifer verdoppelnd, wenn das Geschrei des wilden Tieres, welches in einzelnen Zwischenräumen ertönte, ihm bewies, dass er die Strecke, die ihn von demselben trennte, vermindert hatte.

So gelangte er an den westlichen Abhang des Berges Sadjiva, an die Seite, von der man die Aussicht auf den Distrikt Preangers hat. Die Steine, mit denen die Seiten des Berges bedeckt waren, schienen ihm hier riesige und regelmäßige Gestalten anzunehmen. Er drang immer weiter vorwärts und erkannte, dass er sich bei einem der tausend Tempel befand, mit denen die Frömmigkeit seiner Vorfahren die Insel Java bedeckt hatte, wunderbare Denkmäler der Bildhauerei und Architektur, welche bewiesen, dass dieses Volk an Zivilisation und Macht denen Ägyptens und Hindostans gleich stand, und welche sämtlich in Trümmer fallen, seitdem die Anhänger Buddhas durch die Söhne Mohameds vernichtet und von der Insel vertrieben worden sind.

Das Gebrüll rührte offenbar aus dem Inneren des Tempels her. Ohne Zweifel hatte das Tier seine Höhle in dem Raum, der einst dem Gebet geweiht war. Dieser Gegensatz machte Argalenka noch fester in seinem Entschluss. Er fand einen erhabenen Trost darin, unter den Trümmern der Gottesverehrung seiner Väter zu sterben. Es schien ihm, als billige Gott seine Absicht, weil er gestattete, dass er dieselbe an eben dem Ort ausführte, wo man ihn ehedem verehrt hatte.

Er bahnte sich einen Weg zwischen den umgestürzten Bildsäulen und Verzierungen hindurch, mit denen die Umgebungen des Tempels bedeckt waren, und die von den Wucherpflanzen umschlungen wurden. So gelangte er bis zur Vorhalle des Gebäudes.

Der Tempel hatte gleich den meisten derer, von welchen der Reisende im Inneren der Insel zahlreiche Trümmer findet, die Gestalt eines Hügels. Er wurde durch mehrere übereinander liegende Terrassen gebildet, welche den unregelmäßigen Wellenlinien des Berges folgten, an den sie sich lehnten. Diese Terrassen ruhten auf langen Säulenreihen, bedeckt mit sonderbaren Bildhauerarbeiten, und auf großen Marmorstücken, in denen sich riesige Nischen befanden. In einigen derselben bemerkte man noch verstümmelte Bildsäulen.

Auf dem Gipfel der höchsten Terrasse erhob sich eine gewaltige Kuppel, welche den Platz bezeichnete, wo das Heiligtums Buddhas gelegen hatte. Eine doppelte Reihe leichterer und kleinerer Kuppeln umgaben die größere gleich einer Krone.

Je mehr Argalenka sich dem Ort näherte, wo er den Tod suchen wollte, desto mehr legten sich auch seine Aufregung und seine Unruhe. Allmählich siegten seine religiösen Gefühle über seinen Schmerz, obwohl dieser den höchsten Punkt erreicht hatte. Sein Entschluss wurde dadurch nicht schwankend, aber er fühlte sich wieder ruhiger, und seine Lippen konnten eine Anrufung Buddhas aussprechen.

In dem Augenblick, wo er die weite Öffnung durchschreiten wollte, die an die Stelle der Tür getreten war, ertönte das Gebrüll des Tieres, welches ihn durch die Nacht geleitet hatte, lauter und fürchterlicher unter dem Gewölbe, das es aufnahm; doch zu gleicher Zeit bemerkten die Augen des Beduis eine eigentümliche Erscheinung.

Auf dem äußersten Gipfel des Gebäudes erblickte er einen rötlichen Schein, der sich auf den polierten Steinen des großen Gewölbes widerspiegelte.

Argalenka kannte den Widerwillen aller wilden Tiere gegen das Feuer. Dennoch war es ihm klar, dass der Tiger oder der Panther, dessen Geheul er gehört hatte, in der Nähe des Ortes sein musste, von dem der helle Schein ausging, und dieses Phänomen erfüllte ihn mit Überraschung.

Er schritt durch die Trümmer aller Art hindurch, mit denen das Innere des Tempels bedeckt war, und erstieg die Stufen, deren Steine unter seinen Füßen erzitterten. Mutig näherte er sich so der Höhe, und je weiter er kam, desto heller wurde der Schein; aber erst indem er zu der letzten Terrasse hinaufstieg, welche die Kuppel überragte, konnte er bemerken, was in dem Inneren des Heiligtums vorging.

Dieses Heiligtum hatte eine elliptische Gestalt. Es endete mit einer riesigen Nische, in welcher die Bildsäule Buddhas stand, die durch eine Art von Wunder mitten in dieser allgemeinen Zerstörung unbeschädigt geblieben war.

Der Gott saß mit untergekreuzten Beinen auf einem Fußgestell, welches eine gewaltige Lotosblume vorstellte. Er war in der Haltung des Nachdenkens und des Gebetes dargestellt. Ein leichter Schurz umgürtete seine Hüften. Eine seiner Hände hob das Ende dieses Schurzes in die Höhe, die andere war auf seine Knie gestützt. Er trug das dreifache Halsband und die geheiligte Schnur. Sein Kopf war bedeckt mit der großen indischen Mütze, die einige Ähnlichkeit mit der phrygischen hat. Die Wand der Nische war mit Emblemen und Inschriften in javanischer Sprache bedeckt.

Argalenka würde unter jeder anderen Veranlassung mit frommer Ehrfurcht vor diesem Bild seines Gottes niedergekniet sein, aber er fand hier lebende Wesen, welche seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.

Zwanzig Schritte von der heiligen Nische entfernt war ein großes Feuer von Heidekraut und kleinen Zweigen entzündet worden. In dem Menschen, der dieses Feuer unterhielt, erkannte Argalenka Harruch. Der Panther Thsermais kauerte hinter dem Guebern, die Pfoten weit ausgestreckt und den Kopf hinter dem Körper seines neuen Herrn verbergend, um so viel wie möglich seine empfindlichen Augen vor dem Schein des Feuers zu bewahren.

Was aber der Beduis noch früher bemerkte, als den Panther, Harruch und die Bildsäule Buddhas war eine weibliche Gestalt, die gegen die Mauer gelehnt saß und so regungslos war, dass man sie für eine der steinernen Bildsäulen, welche den alten Tempel schmückten, hätte halten können, wenn nicht zuweilen ein Hauch der Luft den durchsichtigen Schleier gehoben hätte, der ihren ganzen Körper verhüllte.

Diese Frau lehnte den Kopf auf die Knie und schien zu schlafen; aber wenn Argalenka auch ihre Züge nicht erblicken konnte, so hatte er doch schon unter dem durchsichtigen Gewebe, welches sie bedeckte, die Kleidung der jungen Mädchen des Volkes erkannt, den Sacong von grobem Baumwollzeug, durchweht mit glänzenden Blumen, das dunkelgrüne Mieder mit kurzen Ärmeln, welches den Busen in zwei Halbkugeln von Sandelholz einschließt und das bloße Fleisch von der letzten Rippe bis zu dem Gürtel von Metallplatten blicken lässt, welcher den Rock auf den Hüften festhält. Er hatte bemerkt, dass statt des Diadems und der Nadeln von Edelsteinen oder Glas, welche die Muselmänner tragen, die, welche er vor Augen hatte, in dem ebenholzschwarzen Haar nur einige purpurrote Mantegablumen und einige Jasminzweige hatte.

Er glaubte zu träumen. Es war ihm, als sei er unter der Herrschaft irgendeiner Halluzination, denn in dieser Kleidung, dem Wuchs und dem ganzen Wesen derjenigen, deren Gesicht er nicht sehen konnte, erblickte er die Kleidung, den Wuchs und das Wesen Arroas, als sie noch nicht die Geliebte des Franken-Arztes, noch nicht die Favoritin des mächtigen Thsermai, nur die Tochter des Ärmsten aller Bewohner der Herrschaft dieses Letzteren war.

Der Greis stand bleich und zitternd da. Kalter Schweiß perlte ihm von der Stirn. Das Feuer, welches Harruch unterhielt, die Säulen, der ganze Tempel, wirbelten um ihn her. Er wollte sprechen, und die Stimme versagte ihm in seiner ausgetrockneten Kehle. Sein Atem stockte, er streckte die Hände gegen die Gestalt aus, die so sehr seiner Tochter glich, aber er vermochte keinen Schritt vorwärts zu tun.

Der Kies unter seinen Füßen brachte ein leises Geräusch hervor. Der Panther erhob den Kopf, seine Ohren spitzten sich und streckten sich vor, seine Augen erweiterten sich, sein furchtbarer Rachen verlängerte sich in der Richtung, von wo das Geräusch ertönt war, das ihn aufmerksam machte. Er sog heftig die Luft ein. Dann sprang er, wie durch Federgewalt in die Höhe geschnellt, empor, erhob sich drohend, und wieder senkte er den flachen Kopf auf den Boden, das Hinterteil höher als den übrigen Körper, die Luft mit seinem Schweife peitschend, seine ganze Kraft sammelnd wie zu einem blutigen Sprung.

Aber seitdem der Beduis die Frau erblickt hatte, die seiner Tochter glich, wollte er leben. Er fürchtete nun etwas noch mehr als den Tod, und zwar, zu sterben, ohne noch einen Kuss von seinem Kind empfangen zu haben. Der Schrecken, die Liebe, gaben ihm seine Kraft zurück.

»Zu Hilfe, Gueber!«, rief er.

Harruch erhob sich nun ebenfalls. »Ruhig, Maha«, sagte dieser. »Wenn es ein Freund ist, müssen wir ihn schonen; wenn es ein Feind ist, so wird es noch immer Zeit sein, durch deine Krallen meinen Dolch zu unterstützen, wenn ich dich rufe.«

Indem Harruch so sprach, hatte er einen Brand aus dem Feuer genommen, seinen Kris aus der Scheide gezogen. Diesen in der Rechten, das brennende Holz in der Linken, schritt er in der Richtung vorwärts, von wo man ihn gerufen hatte.

Er erkannte Argalenka, steckte die Waffe in die Scheide und nahm den Beduis beim Arm.

»Du bist es, Argalenka?«, sagte er. »Tritt ohne Furcht näher. Das Tier ist ein treuerer Freund als all die, für die man diesen Namen erfunden hat. Maha liebt nur die, welche ich liebe, hasst nur die, welche ich hasse.«

Als Maha den Ankömmling vertraulich mit seinem Herrn sprechen sah, nahm er in der Tat wieder seine ruhige Lage an, nachdem er noch ein finsteres Knurren hatte hören lassen.

Aber Argalenka konnte dem Gueber nicht antworten. Als er von seiner Besorgnis befreit war, hatte sich seiner wieder die ganze Qual der Ungewissheit bemächtigt. Er deutete mit dem Finger auf die regungslose und verschleierte Gestalt und sagte zu Harruch in einer krampfhaften Aufregung: »Da, da, da!«

Harruch senkte traurig den Kopf und antwortete nicht auf die Frage des Beduis.

»Aus Barmherzigkeit, Gueber, im Namen deines Glaubens, im Namen deiner Liebe, im Namen der Leiden, die ich für mein Kind erduldet habe, antworte mir, ist das meine Tochter?«

»Wenn der Regenwind«, entgegnete Harruch, »über die Wohlgerüche atmenden Ufer des Djilivong hinstreicht, sind die Gewässer des Flusses mit rosigen und weißen Kelchen bedeckt, die an den Bäumen, welche den Fluss einfassen, geblüht haben und verwelkt sind. Noch sind es Blumen, aber sie haben nicht mehr die blendenden Farben, noch den süßen Wohlgeruch, wegen welcher man sie liebt.«

»Was sagst du? Sollte meine Tochter tot sein? Hätte man mir nichts zurückgegeben, als ihren Leichnam?«

Argalenka erwartete die Antwort des Gueber nicht. Er stürzte sich auf seine Tochter und wollte sie in seine Arme schließen, aber bei dem Schrei, den der Beduis ausgestoßen hatte, enthüllte Arroa ihren Kopf. Sie blickte ihren Vater an, aber sie schien ihn nicht zu erkennen. Ihre Augen drückten nichts als Gleichgültigkeit und Stumpfsinn aus.

Der Beduis wich entsetzt zurück. »Arme Arroa«, rief der arme Greis, »es ist dein Vater! Der Herr ist nicht mehr da, um sich zwischen deine Liebkosungen und diese kahle Stirn zu stellen, welche deine Lippen in deiner Kindheit so oft berührt haben. Er ist nicht mehr da, um dich zu zwingen, in dein Herz die so natürliche Liebe zu verschließen, welche das Kind für den Urheber seines Lebens empfindet. Du darfst mich lieben, Arroa. Wir sind frei.«

Das junge Mädchen blieb stumm. Sie machte nicht eine einzige Bewegung, welche vermuten ließ, dass sie verstand, was ihr Vater ihr sagte.

»Arroa, Arroa«, fuhr dieser fort, »wenn es sein muss, so werde ich deine Liebkosungen entbehren. Wenn du es verlangst, füge ich mich darein, den Namen Vater nicht mehr von deinem Mund zu vernehmen. Ich bin alt, ich bin hässlich, ich bin arm, und du, ach, du bist leider an andere Küsse gewöhnt als die, welche du von meinen welken Lippen empfangen könntest. Du bist jetzt an die reichen Kleider der Rajahs gewöhnt, und die Lumpen, welche meinen Körper bedecken, erfüllen dein Herz mit Ekel. Ich werde ergebungsvoll zu Buddha beten, dass er die Bestrafung deines Fehltritts auf die schleudere, welche, strafbarer als du, dich die Wollust kennen lehrten. Aber sprich wenigstens, lass mich deine Stimme hören, damit meine anderen Sinne gleich meinen Augen mir sagen: Deine Tochter ist nicht tot!«

Von allen Worten, die Argalenka gesprochen hatte, schien ein einziges das junge Mädchen zu ergreifen.

Als der Beduis von Wollust sprach, hatten die feuchten Augen Arroas in einem eigentümlichen Feuer geleuchtet. Ihre Lippen öffneten sich wie in dem Entzücken des Vergnügens. Ihr Busen hob sich heftig und die Goldfarbe ihrer Haut wurde dunkler.

»Die Wollust«, sagte sie mit leiser Stimme und mit dem monotonen Klang eines Gesanges, »die Wollust, die himmlische Gabe, welche Buddha dem Menschen verlieh, der einzige Schatz, welcher allen anderen Schätzen einen Preis gibt. Wer würde sich bücken, um das Gold aufzuheben, das in den Eingeweiden der Erde verborgen liegt, wenn das Gold nicht der vollkommene Ausdruck der Wollust wäre? Komm, du, den mein Herz sich erwählt und dessen Annäherung sein Klopfen beschleunigt. Die Stunde ist gekommen, wo die Nacht ihren sternendurchwebten Schleier über die Erde breitet, um das große Mysterium der Wiederauferstehung und des Lebens zu verhüllen. Die Schatten vermählen sich dem erlöschenden Licht des Tages, der Wald erbebt wie eine Jungfrau, die das Verlangen erfasst. Die Erde öffnet ihren Schoß den Dünsten, die sie befruchten. Die Blume neigt sich zur Blume, um mit ihr von Liebe zu flüstern, während das vom Wind bewegte Bananenblatt die Brautlieder anstimmt, und der Bengali mit den Flügeln schlägt, indem er dem Rufe seines Weibchens antwortet, während das Liebesgebrüll des Tigers das Gewölbe der mächtigen Wälder erschüttert. Komm auf mein frisches, Wohlgerüche atmendes Lager, meine Seele wartet nur auf die deine, um sich mit ihr zu vermischen, wie die süßen Dünste des Zitronenbaumes sich in der Nachtluft mischen mit dem scharfen Geruch der Gardonia. Komm, mein Mund kennt süßere Worte als das Rauschen der Blätter, als den Gesang der Blume, als das Girren des Bengali, und um dich an mein Herz zu pressen, sollen meine Arme dich mächtiger umarmen, wie der Tiger die Tigerin.«

Argalenka hörte mit schmerzhaftem Staunen auf seine Tochter. Er versuchte sie nicht zu unterbrechen. Als er aber an ihren Warten erkannte, dass ihr Verstand sich verwirrt hatte, verbarg er das Gesicht in die Hände und weinte reichlich.

Arroa fuhr nach längere Zeit in ihren verliebten Äußerungen fort. Allmählich aber wurde ihre Stimme schwächer und sie versank wieder in die Schlafsucht, aus der ihr Vater sie aufgestört hatte.

Harruch saß ernst und schweigend da und stand nur von Zeit zu Zeit auf, um auf die erlöschende Flamme einige Arme voll trockenen Reisigs zu werfen. Die Werte Arroas schienen durchaus keinen Eindruck auf den Guebern gemacht zu haben, aber mehrmals heftete sein Blick sich auf Argalenka mit einem Ausdruck der Teilnahme, der gegen die gewöhnliche Härte seiner Züge abstach. Mehrere Stunden ließ er den Beduis seinem Schmerz freien Lauf geben. Dann schritt er auf ihn zu, fasste ihn beim Arm und zog ihn zu dem Teil des Heiligtums, der von Arroa am weitesten entfernt war. Hier zwang er ihn, sich niederzusetzen.

Argalenka leistete keinen Widerstand. Er fügte sich wie ein Kind dem Willen dessen, dem er unwillkürlich gehorchte.

»Nun«, sagte Harruch, dessen Lippen ein finsteres Lächeln bewegte, »sie haben gewissenhaft ihr Versprechen erfüllt und dir dein Kind zurückgegeben!«

»Ja«, erwiderte der Beduis, der in seiner Niedergeschlagenheit den Sinn nicht erkannte, den der spöttische Ton Harruchs in dessen Worte legte. »Ja, sie haben den armen Vater nicht getäuscht. Buddha, dessen Hand sich schwer auf mein Haupt gelegt hatte, möge ihnen das Böse verzeihen, das sie mir zufügten, da sie endlich mit meiner Betrübnis Mitleid hatten.«

Der Gueber zuckte geringschätzig die Achseln. Das Gefühl des Mitleids, welches sein Gesicht gezeigt hatte, verwandelte sich in ein verächtliches Lächeln.

»Hat dich der Midujak, dessen Wipfel in die Wolken ragt, und der schon ein großer Baum war, als auf allen diesen Bergen die Feuer brannten, welche Ormuzds Hand angezündet hatte, nicht mehr gelehrt, als das Heidekraut, welches in der Dauer einer Jahreszeit zu seinen Füßen geboren wird, wächst und stirbt? Du trägst auf deinem Haupt die Krone der Weisheit und auf deiner Stirn die Zeichen des Verfalles. Hast du denn niemals sagen hören, dass der Mensch in der Wissenschaft des Bösen beinahe ebenso mächtig sei, wie Ahriman, dass er das furchtbare Geheimnis der Getränke erforschte, welche den Verstand verwirren und den Körper leben lassen, indem sie den göttlichen Hauch daraus vertreiben, der ihn beseelt?«

»Was willst du sagen, Gueber?«

»Ich will sagen, dass deine Tochter einen dieser Tränke genossen hat.«

»Wer soll ihn ihr eingegossen haben?«, erwiderte Argalenka, »wer ist der Mensch, so sehr von Gott verlassen, dass er dieses entsetzliche Verbrechen ohne Zweck und ohne Nutzen vollbringen konnte.«

»Ich habe dir nicht gesagt, dass der Wahnsinn deiner Tochter keinen Zweck hat, und dass man ihn uneigennützig hervorrief. Nein, das sage ich dir nicht.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Höre. Wenn ich deinen Augen die Schlingen offenbare, die dich umgeben, wenn ich dir die Hand zeige, welche die Pflanzen und die Insekten zermalmte, das Gift bildete und eingoss, wenn ich dir den Willen bezeichne, der zweimal gelehrige Sklavinnen gefunden hatte, und dieses Mal, weil er fürchtete, minder glücklich zu sein, der dritten Sklavin einen Trank bereitete, damit sie das duldende Werkzeug seiner Absichten werde, wenn ich dir diesen Menschen bezeichne, diese Art höllischen Geistes, der unsere Hülle anlegte, um uns zu verfolgen, verhasst dem Himmel, wieder Erde, unerbittlich seinem Ziel zuschreitend, welches darin besteht, sein verabscheuungswertes Leben durch Blut und Tränen zu verlängern, ohne über die Leichen zu straucheln, mit denen sein Weg bedeckt ist, wenn ich dir das alles beweise, sage, wirst du dann endlich begreifen, dass die Rache zuweilen eine göttliche Eingebung ist, ein heiliges Werk, und wirst du dann im Angesicht dessen, was man aus deinem Kind gemacht hat, nicht dringend verlangen, dass ich dir die Hälfte meiner Rache übertrage?«

»Schon zwei Mal hast Du diese Fragen an mich gerichtet und zwei Mal gab ich dir die gleiche Antwort. Du kannst heute sehen, dass die Zunahme meines Schmerzes mein Vertrauen auf die heiligen Lehren meines Gesetze nicht verminderte. Wenn der Mensch die Verbrechen beging, die du ihm zuschreibst, wird er der Hand Buddhas nicht entrinnen, wie groß auch seine Kraft und sein Stolz sein mögen. Der Hauch Buddhas kann, wenn er es will, die hohen Berge dieser Insel auseinanderblasen, wie die Körner des Sandes am Meer; aber ich will ihn nicht beleidigen, indem ich seine Rache mir anmaße. Die Menschen können mein Herz mit Schmerz übersättigen, aber sie vermögen es nicht mit einem Tropfen Galle zu erfüllen. Sie können alle Tränen rinnen machen, die meine Augen enthalten, aber sie werden nicht einen Fluch meinem Mund entreißen, der nicht die Macht empfing, zu verwünschen.«

Harruch stand auf, zog die Falten seines Sacong zusammen und murmelte: »Armer Thor! Das Schicksal will deinem Herzen nicht eine einzige Qual ersparen. Zwei Mal führte es dich auf meinen Weg, zwei Mal erfüllte es meine Seele mit Mitleid an deinem Geschick, zwei Mal versuchte ich es, dich demselben zu entreißen, zwei Mal bliebst du taub gegen meine Stimme, unerschütterlich in deiner feigen Schwäche, wie ich in meinem Hass. Vielleicht ist es so besser, denn du würdest unfähig zu dem Opfer gewesen sein, welches zu der Erreichung meiner Absichten notwendig ist. Du würdest die Rache gehindert haben, zu deren Teilnehmer ich dich annehmen wollte. Die mächtigen Tiere unserer Wälder suchen die Gazellen und die Tauben nicht auf, um sie Teil an ihren Plänen gegen die Menschen annehmen zu lassen. Der Orkan, der das Meer aufwühlt, die Felsen spaltet, die Wälder niederwirft, wie die Halme eines Kornfeldes, kann nicht durch die Klagen gerührt werden, die er hervorruft. Lebe wohl! Wie auf der Straße von Weltevrede sage ich dir: Trennen wir uns. Verfolge deinen Weg, wie ich den meinen. Du, der du verzeihst, dass ich meinen Namen gegen einen fürchterlicheren vertauschte, der ich mich die Züchtigung nenne, der ich nicht erwarte, dass Buddha, Ormuzd oder Mohamed es übernehmen werden, die drei Menschen zu bestrafen, die mich beleidigten. Ich bleibe auf ihrer Spur, denn der Tag naht, an dem ich ihnen das Böse mit Bösem, die Verzweiflung mit Verzweiflung, vergelten werde. Vernimm dies Stimme des Lori, welcher die Gebüsche verlässt, in denen er schlief, und der nun zu den höchsten Gipfeln auffliegt, um der Morgenröte seinen Gruß zuzuschmettern. Es ist Zeit, den Tempel zu verlassen.«

Argalenka blieb nachdenkend stehen. Der arme Mensch fragte sich, wo er ein Asyl für seine unglückliche Tochter finden könnte.

Harruch las, was in der Seele des Beduis vorging, und sagte: »Höre noch einen letzten Rat. Bleibe nicht in diesem Land, denn das hieße Gott versuchen. Steige in die Provinz Preangers hinab auf dem westlichen Abhang des Berges Gagah, am Fuße des Hügels, auf welchem dieser Tempel errichtet ist. Da wirst dort einen Quell finden, der an dem Fels entspringt, und dessen Wasser sich in einem schmalen Bach in die Ebene ergießt. Folge den Ufern dieses Baches in der Richtung, in welcher die Sonne untergeht. Bald wirst du ihn wachsen sehen, wie das Kind, welches von der Jugend zum Mannesalter übergeht. Er wird Sturzbach, dann Fluss, und endlich so breit und mächtig, wie der Tjilivong, wenn er Weltevrede erreicht. Verlasse seine Ufer nicht. Wenn du das Meer gleich einem grünlichen Streifen am Horizont erblickst, suche den Punkt auf, an welchem der Gipfel des Berges Kavogan, den du vor dir hast, genau einen zweiten Berg bedeckt, den du an dem Horizont erblicken wirst. Mache tausend Schritte in dieser Richtung, und du wirst dann zu deiner Rechten in einem Wäldchen, welches nur eine halbe Wegstunde vom Dorfe Zand entfernt ist, eine verlassene Hütte finden. Diese Hütte erbaute ich, als ich die Cobra Capella in dem Tal von Kavogan verfolgte. Tritt ohne Furcht in meine Wohnung ein. Der Vogel benutzt für sich das verlassene Nest, das er auf seinem Weg findet. In einer Ecke der Hütte, unter einem Haufen von Heidekraut, wirst du Matten finden und die Gerätschaften, welche zur Erhaltung des Lebens notwendig sind. Die Wälder, die Felder und das Meer werden dir reichlich deine Nahrung gewähren. Dort wirst du besser in Sicherheit sein als hier. Dort wird die Gefahr, welche dich noch bedroht, vielleicht von deinem Haupt und dem deiner Tochter abgewendet werden.«

»Ach«, sagte der Beduis, »es sind fünf Tagesmärsche von hier bis zum Ufer des Meeres. Wie kann ich armer, gebrechlicher Greis so weit die Unglückliche führen, die mich weder hört noch versteht?«

»Als ich deine Tochter auf dem Fußpfad, der hierher führt, kommen sah, ritt sie eines von den Pferden Thsermais. Der, welcher sich nicht gescheut hatte, ihr das Köstlichste aller Güter, den Verstand, zu rauben, fürchtete, dass die Füße seines Opfers sich an den Kieseln blutig reißen möchten. Dieses Pferd ist noch in der ersten Umhegung des Tempels.«

»Noch einen letzten Dienst leiste mir, Harruch, hilf mir Arroa auf das Pferd heben.«

Der Gueber tat, was Argalenka von ihm verlangte. Dieser erweckte seine Tochter und führte sie mithilfe des Schlangenbeschwörers zum Tempel hinaus. Das Pferd wurde gesattelt, und Arroa, die, ohne ein Wort zu sagen, ihrem Vater gefolgt war, und ihm wie mechanisch gehorchte, wurde auf den Rücken des Tieres gesetzt, dessen Zügel der Beduis ergriff.

»Ich danke dir, Harruch«, sagte er zudem Guebern, der zur Seite trat, um ihn vorüberzulassen. »Buddha wird dich für das Mitleid belohnen, das du mir zeigtest, und für die Dienste, die du mir leistetest. Meine Gebete sollen ihn täglich darum anflehen.«

Harruch antwortete ihm nicht. Er betrachtete Arroa mit finsterer Aufmerksamkeit. Plötzlich aber rief er Maha, und ohne seinem Gefährten Lebewohl zu sagen, entfernte er sich in der östlichen Richtung, welche die der Provinz Batavia war, mit seiner gewöhnlichen Schnelligkeit.

Argalenka machte sich auf den Weg und stieg die Höhe zu dem Distrikt von Preangers hinab; dann folgte er dem Lauf des Baches, den der Gueber ihm bezeichnet hatte.