Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 1.1.
Tony Tanners Tagebuch
London. Meine Wohnung ist so kalt und leer. Francine hat mich verlassen. Sie wollte nicht mehr damit leben, dass ich »nie da« bin. Kinder wollte sie, eine Familie. Dass ich viele wichtige Sonderaufgaben für die britische Regierung habe – wie sollte ich es ihr sagen?
Verantwortung? Ich mache alle Reisepläne für die Royals und die britische Regierung, ich wähle Hotels und treffe die Sicherheitsvorkehrungen. Meinen Job eben. Francine, du wolltest, dass nur du wichtig bist, und meine Verantwortung solltest du sein. Nicht mein Job in der British Travel Agency.
Francine, du brauchtest einen Clerk, und ich war keiner. Ich bin immer unterwegs; wo es ging, hast du mich begleitet, beim Vorchecken von Hotels und dem Bereisen von Stationen, die von Staatsgästen besucht werden sollen. In letzter Zeit bist du nicht mehr mitgefahren. Ich bin wehmütig. Francine, unsere schöne Zeit, ich liebe dich. Ich habe das, was an dich erinnert, Francine, weggegeben, ich möchte nur das eine Bild behalten. Dein Bild in meinem Herzen. Es gehört zu meiner Geschichte. Etwas habe ich noch, die kleine Statue, die wir in Ägypten gekauft haben. Gekauft ist ein wenig untertrieben. Der Alte im Basar von Alt-Kairo hat sie mir regelrecht aufgedrängt, er ist uns nachgelaufen, ich habe einen Spottpreis bezahlt, weißt du noch, Francine? Die kleine Statue. Sie ist echt, sie ist wertvoll. Sie stellt den Hermes Trismegistos dar. Und er wollte sie unbedingt uns geben; wusste er nicht, dass sie kostbar ist?
Heute werde ich sie verkaufen, Francine, diese kleine Statue, die mich an uns beide erinnert.
Mr. Dorkas, der Antiquitätenhändler
Mr. Dorkas übertrug gerade die Handschrift aus einem alten Buch in ein selbst gezeichnetes Schema. Er war mit der Übersetzung aus einem späteren Jahrhundert unzufrieden und hatte schon einige Hinweise auf Ungenauigkeiten entdeckt und dokumentiert. Zudem hatte er festgestellt, dass bestimmte Buchstaben kleine Zinken hatten, und er stellte sie nun in eine neue Reihenfolge, um daraus einen verborgenen Text zu gewinnen. Einzelne Wörter hatte er auf diese Weise schon entdeckt: WISSEN, SUCHE, BUCH. Mr. Dorkas war völlig vertieft. Endlich bot sich ihm ein Schlüssel an, der seine wissenschaftliche Suche bereichern würde, wie er hoffte. Doch die Ladenklingel riss ihn aus seiner Konzentration. Missmutig ging er aus dem Hinterzimmer ins Geschäft und hoffte, den Kunden bald wieder loszuwerden.
»Mein Name ist Tanner«, stellte sich der Kunde vor. »Ich möchte gern diese Figur verkaufen, es ist ein Hermes Trismegistos. Vielleicht haben Sie daran Interesse, oder vielleicht kennen Sie einen Interessenten?«
Mr. Dorkas blickte seinen Kunden an, der nun ins Licht der Thekenlampe trat, um die Figur auszuwickeln. Dorkas näherte sich dicht an Tony Tanners Gesicht und forschte darin.
Tony wurde dabei etwas unwohl. Der dickliche Herr Dorkas, was sollte diese Nähe? Er blickte sich kurz im Laden um. Auf alten, durchgebogenen Regalen standen und lagen verschlissene Bücher, dazwischen antike Gegenstände, Präparate in blinden Gläsern, Mikroskope, eine Schlangenhaut wellte sich über ein staubiges Klavier, das über und über mit Stapeln alter Zeitschriften zugepackt war. Die Wände hingen voll mit wahllos verteilten, dunklen Bildern.
Dorkas’ Atem war nun ganz nah bei ihm.
Tony musste diesen merkwürdigen Bann einfach brechen und sagte: »Entschuldigung, ich habe mich nicht rasiert. Bin nicht dazu gekommen!«
»Nein nein, ich – ich glaubte, dass ich Sie kenne, bitte entschuldigen Sie. Tanner, Ihr Name ist mir nicht bekannt. Aber Ihre Augen, Ihr Gesicht – ich möchte Sie etwas fragen?«
»Oh, fragen Sie bitte. Ich bin viel unterwegs auf der Welt. Eigentlich habe ich ein gutes Gedächtnis für Menschen, denen ich bereits begegnet bin. Aber ich glaube, wir kennen uns nicht. Ich fahre allerdings des Öfteren an Ihrem Geschäft vorbei, habe auch schon mal versucht, durch die Scheiben hineinzuschauen, und jetzt, wo ich diese Figur hier gern verkaufen möchte …«
Dorkas schob Tony zur Seite und machte einen verstaubten Stuhl frei. Tony setzte sich vorn auf die Kante der Sitzfläche, und Dorkas fand einen Platz auf einer Truhe neben einem Packen Schellackplatten. »Sagt Ihnen der Name Weiss etwas, Mr. Tanner? Es ist ein deutscher Name!« Dorkas wirkte wie elektrisiert. Er nahm Tony die kleine Statue aus der Hand, und der Gedanke an seine Studien in dem alten Buch war völlig verflogen.
»Weiss, deutsch. Nein, ich spreche zwar auch Deutsch, das bringt mein Beruf mit sich, aber Weiss als Name, nein, keine Erinnerung an jemanden mit diesem Namen!«
Dorkas bot Tony Tee an. Tony hatte Zeit, und etwas Gesellschaft in der momentanen Leere tat ihm gut. Dorkas plauderte los, aber Tony hatte das Gefühl, dass alles, was Dorkas sagte, eher versteckte Fragen waren.
»Ja Deutschland, ich war einmal in Bad Wildungen und in Kassel. Schön dort, habe dort einen Sammler für syrische Öllampen. Unverheirateter Mann, lebt für seine Sammlung, großer Experte. Sammeln Sie auch?«
»Nein, kann man nicht sagen. Es muss auch Unverheiratete geben die nichts sammeln!«
»Na ja, die Familie. Wir wollen einmal sehen – ein Hermes. Diese Figur ist sehr schön und selten, ist sie aus Ihrer Familie?«
»Ich habe sie in Kairo gekauft. Es freut mich, dass sie Ihnen gefällt. Was mache ich damit, ich möchte sie nicht mehr besitzen, die Erinnerung – ich möchte eine Erinnerung löschen!«
»Herr Tanner, Erinnerungen können nicht gelöscht werden. Man kann sie vielleicht auf ein Abstellgleis schieben, sie vergehen aber nie, ja, ich habe sogar die Theorie, dass sie weitervererbt werden kann, die Erinnerung. Aber verzeihen Sie mir meine esoterischen Überlegungen. Lassen Sie die Figur hier in Kommission, ich denke, dass ich schon bald einen Interessenten dafür habe. Schauen Sie doch bitte wieder rein, vielleicht übermorgen? Ich würde mich wirklich sehr freuen!«
Tony trat gedankenvoll aus dem Laden. Dieser Dorkas, war der vielleicht schwul? Und dieser Name Weiss, das hatte eine Bedeutung, wie das ganze Treffen mit Dorkas irgendeine Bedeutung haben musste, diese Fragen, dieses ungespielte Interesse, Bad Wildungen? Was war mit Bad Wildungen?
Tony Tanners Tagebuch
London. Ich habe schwer geträumt. Gestalten haben nach mir gegriffen, und ich habe mich klein und sehr schwach gefühlt. Werde mich heute im Fitnessstudio bei Harpers wieder aufbauen müssen. Monster mit qualligen Leibern, und ich wusste im Traum, dass man sie »Wildungen« nennt; hatte einen Arm gelähmt. Ich übersetze mir das so, dass die Einsamkeit mich quält und mein leeres Bett, Francines Duft. Der Arm ist mein Teil von Francine, jetzt ist er lahm, weil sie weg ist. Ich wollte sie anrufen, aber ich erreiche sie nicht, und ein Bekannter sagte mir, sie sei nach Wales zu Verwandten gefahren.
***
Tony Tanner kam erschöpft, aber glücklich aus Harpers Body-Studio. Er hatte ein tüchtiges Programm hinter sich und einige Versäumnisse der letzten Wochen aufgeholt. Jane Harper, die alle Baby Jane nannten, hatte ihn gelobt und ihm eine neuartige Lotion für nach dem Duschen geschenkt. Babys Lob prickelte auf seiner Seele und die Lotion auf seiner Haut, und er würde jetzt zur Carving Knife Inn gehen, um sich ein Tartan Bitter schmecken zu lassen und zu sehen, ob sich noch einer von den alten Kumpels dort sehen ließ.
Zur Carving Knife musste er nicht weit gehen. Babys Lob tut mir gut, dachte er, und Wildungen greifen mich an. Alles ist so anders, seit Francine fort ist, was geht vor mit mir? Bei einem zweiten Bitter wollte er dann nachdenken, wie alles weitergehen würde; nie vorher hatte er sich innerlich so unruhig und angespannt gefühlt.
Er trat auf die Fahrbahn und hatte sie schon über die Hälfte überquert, als von rechts ein Wagen auf ihn zuraste, viel zu schnell, viel zu plötzlich. Tony konnte im Nachhinein nicht mehr sagen, wie er es im letzten Moment geschafft hatte, aus dem Weg zu kommen. Vor Sekundenbruchteilen hatten ihn noch die Scheinwerfer des Wagens geblendet, jetzt lehnte er heftig atmend an einer Hauswand und rieb sich die schmerzende Schulter. Das Auto verschwand mit aufheulendem Motor in der Brompton Road.
Tony konnte kaum glauben, dass die Schmerzen von dem heftigen Anprall an die Hauswand stammten, zuerst hatte er geglaubt, der Wagen habe ihn wirklich gerammt. Er ließ sich einige Sätze mit »blöder Idiot« und »endseniler Rowdy« einfallen, säuberte dann seinen Mantel und suchte seinen Hut.
In der Carving Knife trafen nach und nach die jüngeren und älteren Junggesellen ein. Frauen ließen sich hier eigentlich nie blicken, was kein Wunder ist, da Carving Knife eigentlich im Cockney-Reim »Frau« bedeutet, aber mit dem Hintergedanken Frauen als schartige, bissige Messer bezeichnet. Die üblichen Gäste dachten hier über sich und das Leben, die Steuern und die Frauen nach, tranken ein paar Biere und hörten der Musik oder einem Gespräch am Nebentisch zu. Tony ärgerte sich über seinen angeschlagenen Arm und sinnierte beim Bier, schaute in die blitzenden Spiegel und Gläser hinter der Theke und verschluckte seinen Ärger. Ein Mann neben ihm philosophierte über Tony Blairs Körpergröße im Verhältnis zu seiner Schlagfertigkeit, ein anderer wollte diese Gedanken um Spekulationen über Blairs Sexleben bereichern. Nach einer Stunde war Tony Tanner beruhigt, hatten doch andere Leute wohl ganz andere Probleme als er. Er beschloss, nach Hause zu gehen. Er bezahlte mit einigen blassgoldenen Pfundstücken. Als er zur Garderobe ging, waren sein Mantel und sein Hut weg, geklaut, das musste ja so kommen, dachte sich Tony, an einem Tag wie diesem, jetzt kommt die schwarze Zeit in deinem Leben. Er fragte in die Runde, ob jemand etwas gesehen habe.
Zwei Gäste sprangen auf und meinten, der »Kerl« sei doch eben erst mit Hut und Mantel zur Tür hinaus, den müsse man noch kriegen, und andere waren sofort bereit, mit Tony auf die Straße zu laufen, um den »Kerl« zu fangen. Einige ballten kampfeslustig die Hände. Tony lief auf die Straße, und die anderen folgten mit einem unübersehbaren Sicherheitsabstand.
War es denn ihr Mantel, der da gestohlen worden war?
Die Lichter von Reklamen, Laternen und Fenstern glitzerten auf der regennassen Straße.
Tony sah sich um. Dann knallte etwas weiter weg ein Schuss, und Passanten begannen dort zu rufen. Tony sprintete los. Autos hielten an. Leute stiegen aus. Tony erreichte eine kleine Gruppe von Menschen, die sich um den Mann am Boden geschart hatten. Ein älterer Herr hielt den Sterbenden in den Armen und redete auf ihn ein, dass gleich der Krankenwagen kommen würde.
Tony erkannte seinen eigenen teuren Burberry-Mantel sofort an dem Verletzten.
Der Dieb war ein alter Mann mit grauen Bartstoppeln, der ihn rührend anlächelte, als wolle er sagen: Diesmal ist es nicht gut gegangen.
Tony hob seinen Hut auf, der heute zum zweiten Mal im nassen Dreck lag, und suchte wieder die Augen des Alten.
Der Alte lächelte noch immer. Fratzenhaft. Er war soeben gestorben.
Tony fühlte einen dumpfen Schmerz in sich. Er blickte umher und drehte seinen Hut verlegen in den Händen. Gegenüber fuhr gerade eine schwere Vandenplas-Limousine los. Hatte der Hellhaarige am Steuer herübergesehen und gegrinst? Tony hatte plötzlich ein ganz neues Gefühl in sich, etwas, was ihm sagte, dass er vorsichtig sein müsse, wachsam, nichts dürfe ihm mehr entgehen. Er horchte in sich hinein. Es war keine Angst. Es war das Gefühl eines ungeheuren Mutes.
»Wer knallt denn einen alten Mann nachts in London ab?« Constabler Wyman wusste darauf keine Antwort.
Tony und die anderen Kneipenbesucher erklärten die Geschichte vom gestohlenen Mantel, den jemand jetzt hochgeschlagen hatte, um damit das Gesicht des Toten zu bedecken. Tony fröstelte. Constabler Wyman ließ ihm gegenüber keinen Zweifel an seiner Theorie, dass der Anschlag vielleicht auch dem Besitzer des Mantels gegolten haben konnte, und Tony setzte seinen nassen Hut auf und stapfte gedankenschwer nach Hause.
Tony Tanners Tagebuch
London. Am Montag, dem ersten Arbeitstag nach dem Wochenende, wurde meine Kollegin Peg schwer vergiftet, weil sie von meinem Schreibtisch eine Flasche mit Korrekturflüssigkeit genommen und benutzt hatte, wobei der Flasche gefährliche Gase entströmten. Zwar gibt es auch die natürliche Erklärung eines Produktionsfehlers, aber die Ereignisse vor dem Wochenende haben mich nachdenklich gemacht. Die »Wildungen« scheinen real zu werden. Ich bin vorsichtig geworden.
***
»Hallo Mr. Dorkas, hier spricht Tony Tanner. Ja. Wir waren verabredet wegen der Statue des Trismegistos, ich konnte leider nicht kommen. Haben Sie schon eine Neuigkeit für mich?«
Tony lauerte auf irgendeinen emotionalen Unterton in Dorkas Stimme.
»Ich glaube, Mr. Tanner, ich werde die Statue selbst behalten. Es ist dumm, so etwas zu sagen, aber ich halte es lieber mit der reellen Seite des Geschäftslebens. Also, ich würde sie ganz gern selbst behalten, wenn ich sie bezahlen kann. Ich will nicht verhehlen, dass es ein wertvolles Stück ist, aber vielleicht können wir uns beim Preis treffen. Das sollten wir nicht am Telefon besprechen, wollen Sie nicht auf einen Sprung vorbeikommen?«
»Gut. Leider geht es nicht in dieser Woche. Ich muss morgen nach Bombay, Sie müssen wissen, dass ich für das staatliche Reisebüro arbeite. In der kommenden Woche bin ich zurück …«
»Oh, Sie sagen Bombay, Herr Tanner, lassen Sie mich einen Moment nachdenken, das könnte sich treffen! Würden Sie mir einen Gefallen tun, vorausgesetzt, Sie hätten etwas Zeit in Bombay?«
»Kommt drauf an, Zeit habe ich sicher …«
»Haben Sie keine Sorge. Wenn Sie meinen Kollegen dort besuchen könnten, er hat einen Laden in Bombay, und ihm Grüße ausrichten würden, wissen Sie, es ist ein sehr guter Laden, und Sie können dort sicher auch seltene Stücke finden, und er wird Ihnen sicher faire Preise machen …«
Der drängelt mich ja ganz schön, dachte Tony Tanner, und preist mir den Laden ja regelrecht überschwänglich an. »Soll ich vielleicht etwas für Sie schmuggeln, bei so was bin ich kein Neuling!«
»Oh, Sie haben mich missverstanden, das meine ich nicht. Aber ich bin sicher, dass es sich für Sie lohnt, also, versprochen?«
»Gut. Ich berichte Ihnen, wenn ich zurück bin. Wie ist die Adresse?«
»Herskin Road 111. Sein Name ist Ranga Prabhubad. Er spricht ganz gut Englisch.«
»Gut. Herskin Road 111. Ranga Prabhubad. Bis nächste Woche, Mr. Dorkas!« Dorkas legte auf und strich sich über die Augenbrauen. Er hatte Tony Tanner nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ranga Prabhubad war kein Kollege. Er kannte ihn nicht einmal. Aber er hatte seine Anschrift und seinen Namen. Die Adresse hatte er in der Hinterlassenschaft von Fritz Weiss gefunden.
***
Die Espressobar von Arcangelo Celestini lag an einer kleinen Seitenstraße, keinen Steinwurf von einem wenig genutzten Seiteneingang des Vatikans entfernt. Dieses diskrete Tor, nicht mehr als ein hohes Doppelportal in der ansonsten schmucklosen Rückfront eines der vatikanischen Ämter, war bei Kirchendiplomaten beliebt, sodass von Zeit zu Zeit schwere Limousinen mit leise brummenden Motoren hindurchschwankten und jedes Mal in Gefahr gerieten, sich die Außenspiegel an den Wänden der eng stehenden Häuser abzubrechen. Natürlich gab es auch Diener der Kirche, die das Tor zu Ausflügen in jene weit weniger löblichen Gefilde nutzten, die man dem Zuständigkeitsbereich der direkten Konkurrenz der Seelen rettenden Mutter Kirche zuschreiben musste.
Arcangelo Celestini hatte sie alle in seiner Bar gesehen, diese kirchlichen Würdenträger, unter deren sorgfältig eingeübtem Frömmlertum die Geilheit alternder Lebemänner sichtbar wurde, während sie in der Verkleidung eines Bankangestellten das Ende eines Ausfluges in die Verschlingungen körperlicher Begierde mit einem Espresso feierten; biedere Landpfarrer, die mit einer Mischung aus verstohlener Faszination und robuster Empörung durch das Sündenbabel der Ewigen Stadt wandelten; junge Priesterschüler mit glatten Gesichtern und sittsam niedergeschlagenen Blicken, alle noch im arroganten Aufschwung zum Stadium der persönlichen Heiligkeit und unbeleckt von der unweigerlich kommenden Stunde, in der die verfluchte Schwäche der menschlichen Natur ihnen die Flügel verbrennen würde, um sie zu zynischen Karrieristen oder lächelnden Weisen zu machen.
Und dann die Touristen – Blümchenkleider, Sandalen, Shorts – dazu die unvermeidliche Videokamera, ersatzweise ein Kulturführer, auf der Suche nach dem »echt italienischen Ambiente«; Liebespaare, die fast noch in der Bar übereinander herfielen, siamesische Zwillinge, gierig Blicke von den Augen des anderen saugend, Pärchen, bei deren Anblick er fast schon das Aneinanderklatschen schweißbedeckter, nackter Körper in einem der billigen Hotels der Umgebung zu hören vermeinte.
Arcangelo Celestini kannte sie alle, begrüßte sie alle mit einer Freundlichkeit, die nicht nur geschäftsmäßig war, und servierte ihnen seinen berühmten Espresso mit der leicht arroganten Eleganz des echten italienischen Kellners.
Aber dieser Mann, der vor einigen Minuten die Bar betreten hatte, beunruhigte Arcangelo Celestini. Es war nichts am Äußeren des Besuchers, das seine innere Alarmklingel in unangenehme Schwingung versetzte. Der Mann war durch die Tür gekommen, hatte sich am Tresen postiert, die Hände auf die blank polierte Marmorplatte gelegt und einen Grappa bestellt. So stand er seither, ohne eine Regung. Er stand vor seinem Abbild, denn die Rückwand der Bar war völlig verspiegelt. Aber der Fremde betrachtete sich mit jenem lieblosen Desinteresse, das ein Reptil seiner Umgebung widmen mochte, wenn es gerade nicht in Jagdstimmung war.
Das war es wohl – dieser Hauch völliger Fremdheit, absoluter Abgeschiedenheit, die diesen Mann umgab. Er wirkte wie ein Tiefseetaucher, wie ein Astronaut auf einem lebensfeindlichen Planeten, vielleicht sogar wie ein Roboter, der sich in diesem Moment selbst in den Ruhezustand geschaltet hatte. Sein Name war Jeremy Steele.
Jeremy Steele war ein hartknochiger Mann mit einem verbissenen Gesicht. Alter und Gram hatten seine Haut ebenso zerfurcht wie die Mühen und Entbehrungen, die er immer wieder auf sich nahm, um seinen Körper zu stählen. Seine Augen wirkten gleichmütig, konnten aber unvermutet aufblitzen und hatten dann die Kälte von blauem Eiswasser.
Steele bemerkte die Blicke des Barbesitzers. Ihm war klar, was jetzt in dessen Kopf vorging. Es war ihm egal. Solche Dinge betrafen ihn nicht. Er wartete.
Die beiden Männer, auf die er wartete, kamen pünktlich. Sie betraten die Bar, zögerten an der Schwelle, schließlich kam einer auf ihn zu.
»Signore Steele?«, fragte er.
Steele nickte. Mit einem Ruck, als müsse eine eingerostete Maschinerie gewaltsam aus der Lethargie gerissen werden, leerte er sein Grappaglas und bestellte drei Espressi. Die beiden Männer lehnten sich in eleganter Lässigkeit neben ihn an den Tresen. Derjenige, der ihn zuerst angesprochen hatte, holte einen Umschlag aus der Tasche. Der andere Mann sagte nichts, schaute aber aufmerksam in der Bar umher. Zuständig für die Sicherheit, dachte Steele.
Arcangelo Celestini fächerte aus dem Handgelenk drei Untertassen auf die Marmorplatte.
Steele schob sie unwillig zur Seite, um Platz zu schaffen.
In dem Umschlag war nur ein Blatt Papier. Der Mann zog es feierlich heraus und drehte es so, dass Steele die bedruckte Seite sehen konnte. Es handelte sich um eine Fotokopie. Oben und unten waren parallele schwarze Streifen zu erkennen. Steele brauchte einen Moment, um die Ursache dieser Markierungen zu erkennen. Das Originalblatt hatte offenbar schon in dem Hackwerk eines Reißwolfes gesteckt.
Der Finger des Mannes glitt die Liste entlang bis zu einem Namen, fuhr dann nach rechts auf eine handschriftliche Eintragung. »Telefonische Stornierung, 21.15«, war dort zu lesen.
Steeles Herz schlug kräftiger. Er hatte den Kopf des Formblattes gesehen. Italia Regionale, Flug 766, Palermo – Bologna, 21.20 ab, 22.55 an, 17. Mai 1992.
Der Tag, an dem sein altes Leben aufgehört hatte, zu existieren. Der Tag, der Steele erschüttert und vollkommen verändert hatte. Seine stummen Vorwürfe an unbekannte Mächte und Götter hatte Jeremy Steele längst eingestellt. Es gab es keine Gewöhnung an den Schmerz dieses Tages, keine Gnade des Vergessens, nicht einmal der Segen sanften Dämmerns in der schattigen Kühle einer gnädigen Verblödung war ihm vergönnt.
Im Gegenteil, der Schmerz wurde stärker und stärker, klarer, schärfer, schneidender wie die Klinge eines Bajonettes, das wieder und wieder über den Wetzstahl gezogen wird.
Da standen die Namen: Helena Steele-Alessi, Albano Steele, Julia Steele, Franko Steele, Romina Steele. Buchstaben, Namen, Spuren eines Lebens, das einmal das seine gewesen war.
Er begegnete ihnen täglich – eine Wand in seiner Wohnung war mit einem plakatgroßen Bild seiner Familie bedeckt. Einer Familie, die schon aufgehört hatte zu existieren, bevor der Film aus der Kamera genommen worden war. Da standen sie zusammen – Helena, seine Frau, schaute aus großen braunen Augen, die aber nur denjenigen täuschen konnten, der die energischen Linien übersah, die sich neben ihrem Mund eingegraben hatten.
Daneben Romina, die Älteste – sie kam auf ihn, eher ein nordischer Typ, blauäugig, eine klare Schönheit mit scharfem Verstand, eine Mischung aus Jungfrau von Orleans und Florence Nightingale, ebenso schnippisch wie sensibel und in permanentem Grabenkrieg mit ihrem Bruder Albano.
Der hatte sich wohlweislich möglichst weit von der Schwester entfernt platziert und bemühte sich, seinem milchbärtigen Jünglingsgesicht einen Ausdruck zu geben, den er Alain Delon in »Der eiskalte Engel« abgeschaut hatte. Albano war in dem Alter gewesen, in dem er begonnen hatte, mit seinem Vater »Männergespräche« zu führen, er war der ideale Partner, um über die Leistungen von Fußballern und Boxern herzuziehen, der Genosse nächtlicher Chips-, Schokolade- und Fernsehorgien, bei denen Vater und Sohn in kichernder Kumpanei per Fernbedienung den Pornofilm wegdrückten, wenn Helena schlaftrunken in den Raum kam und unnötigerweise Bemerkungen über Cholesterin, Insulin und langes Aufbleiben verteilt hatte.
Dann die Zwillinge – Julia, schon in ihrem Kindergartenalter eine herzzerreißende Schönheit mit dunklen, fragenden Augen, drängte sich an ihre Mutter.
Franko, die Nervensäge, der Zappelphilipp, das kleine Genie, war auf die Arme seines Vaters geklettert. Jeremy Steele konnte sich Frankos Engelsgesicht ohne die kleinste Spur einer Regung anschauen. Seit jener Nacht …, Steele erinnerte sich an jeden Moment.
Das Warten auf dem Flughafen, der Blumenstrauß und die Geschenke, die er gekauft hatte, die freudige Erregung des Wiedersehens, die Ungeduld, als die Verspätung der Maschine angezeigt worden war, der Moment kalten Erschreckens, als der Flug von der Anzeigetafel gelöscht worden war, das Pochen des Herzens, als im Hintergrund Unruhe entstanden war, Flughafenangestellte bleichen Gesichts durch Sperrgitter liefen, dann der eine, ältere Priester mit dem teigigen Gesicht, der auf ihn zugekommen und nach seinem Namen gefragt hatte, während seine Blicke sich wie ein ekliges, feuchtes Tuch auf Steeles Gesicht gelegt hatten.
»Signore Steele, bitte kommen Sie, hierhin, etwas abseits, setzen Sie sich bitte. Signore Steele, Sie müssen jetzt sehr stark sein …«
In den letzten Jahren hatte er mit Dutzenden von möglichen Informanten gesprochen, mit geschwätzigen, verschwiegenen, klugen, dummen, geldgierigen. Zuerst war ihm der Umgang mit Menschen schwergefallen. Helena war seine Mittlerin zu dieser Welt gewesen, seine Diplomatin, sein Lotse in den Fahrwassern gesellschaftlichen Umgangs. Aber er hatte dazugelernt.
Inzwischen konnte er schon aus Anblick, Gestik, Bewegung mehr über einen Menschen herausfinden, als der vielleicht selbst über sich wusste. Dabei interessierte sich Steele keineswegs für seine Mitmenschen. Ihn interessierte nur eine Frage: Warum war es geschehen?
Und so hatte er Fluglotsen befragt, die von dem plötzlichen Verschwinden eines Punktes auf dem Radarschirm wussten und von dem Auftauchen eines oder zwei oder drei anderer Flugzeuge.
Er hatte Zivilangestellte auf NATO-Basen bedrängt, ob dieses oder jenes Flugzeug zu dieser oder jener Zeit einen Übungsflug mit scharfen Waffen absolviert hatte – hatte es alle Raketen zurückgebracht – kommt es vor, dass sich Waffen aus der Halterung lösen – wie war der Flugplan – wer waren die Piloten – wie alt war die Unglücksmaschine – letzte Meldung vor dem Absturz – wie groß der Bereich, in dem die Trümmer verteilt waren – große Trümmer – wurden Opfer an den Strand gespült?
Die offizielle Untersuchung war auf die übliche routinierte Art im Sande verlaufen. Die Fluggesellschaft ging in Konkurs, die Akten wurden geschlossen, die Medien fanden sehr bald lohnendere Themen. Nur Steele suchte weiter. Vielleicht war sein Verdacht nichts als der geistige Kurzschluss eines zerstörten Menschen. Aber er hatte nichts anderes mehr. Er hätte sich ebenso in die Ecke setzen können, um zu sterben – und das wäre die gnädigere Möglichkeit gewesen. Aber sein verfluchtes Herz pochte weiter, der Schmerz suchte ihn jeden Tag heim, die Raserei der Trauer erschöpfte ihn, aber tötete ihn nicht. Und so forschte Steele, wurde misstrauisch und mit jeder Ausflucht, jeder Lüge, jeder Täuschung, auf die er traf, wuchs sein Zorn, und dieser Zorn war die Arterie, durch die er seinen Rachedurst in die Welt pumpte.
Schließlich war es Gewissheit geworden.
Ein NATO-Offizier hatte ihm Informationen zugesagt. Er war nicht zu dem Treffen gekommen. Drei muskulöse, glatzköpfige Burschen waren an seiner Stelle erschienen, die Steele profihaft zusammengeschlagen und ihm angedeutet hatten, dass er von jetzt an nicht mehr an Dinge rühren solle, die ihn nichts angingen.
Steele hatte den Schmerz mit einer seltsamen Lust ertragen, während er verkrümmt am Boden lag und die Männer ihre Worte mit Tritten von schweren Militärstiefeln verständlicher machten.
Er hatte eine Woche im Krankenhaus gelegen und dann mit der fanatischen Körperfeindlichkeit eines Wüstenasketen begonnen, eben diesen Körper wieder zu trainieren. Er spannte sich in die Geräte von Bodybuilding-Studios, ließ sich als Sparringspartner verprügeln und dienerte vor Kampfsportlehrern, die hauptberuflich für die chinesischen Triaden Schutzgelder eintrieben.
Steele war kein übler Kämpfer. Seine Vergangenheit als Backsergeant in der US-Army war noch nicht verblasst. Und er wurde mit jedem Tag besser.
Steele hatte sein Training beendet, als er den lokalen Champ, dem er als Sparringspartner diente, im Ring windelweich geschlagen hatte. »Das Tier«, wie ihn seine Sportkollegen inzwischen nannten, war losgelassen. Die Tage der Rache hatten begonnen.
Er hatte den NATO-Offizier aufgestöbert. Dieser konnte nach Steeles unmissverständlichen Aufforderungen trotz mehrfach gebrochenen Kinns noch etwas über libysche Kampfjets in Küstennähe murmeln, und von NATO-Einheiten, die damals zur Abwehr aufgestiegen waren.
Wenig später hatten Jogger in einem Waldstück die windelweich durchgeprügelten Körper von drei kahlköpfigen Soldaten gefunden. Sie hatten jede Aussage verweigert, und die
Armeeführung hatte den Vorgang als Schlägerei unter Angehörigen der Truppe bestraft und zu den Akten gelegt.
Steele war sich bewusst, dass er nun endgültig zugleich Jäger und Gejagter geworden war. Die Tage der Rache. Er hatte von einer seltsamen Befriedigung zu trinken begonnen, aber kein Hieb in ein fremdes Gesicht stillte seinen Durst.
Jetzt stand er mit diesen Leuten in einer Espressobar, und wieder wollte er seinem Ziel einen weiteren Schritt näher kommen. Steele ließ den brühend heißen Espresso über seine Lippen rinnen, ohne zu zucken.
»Sonst noch Informationen?«, fragte er den Mann mit dem Umschlag.
Der verneinte kopfschüttelnd. »Es war schon schwer genug, an diesen alten Wisch heranzukommen.«
»Ich danke Ihnen.« Steele zog seinerseits einen kleineren Umschlag hervor und hielt ihn dem Mann hin.
Der nahm ihn und schob ihn in die Tasche. »Wollen Sie die Kopie mitnehmen?«, fragte er Steele.
»Nein danke. Ich weiß, was ich wissen muss.«
Steele bezahlte, indem er achtlos einen viel zu großen Schein auf den Tresen warf, und verließ die Espressobar. Seine Hände hatte er in die Manteltaschen vergraben, er ging nach vorn gebeugt, wie ein Mann, der wütend gegen einen Sturm anläuft. Arcangelo Celestini atmete erleichtert auf.
Tony Tanners Tagebuch
London. Morgen fahre ich nach Bombay, den Besuch unserer Königin vorbereiten. Muss nachdenken. Sollte jemand wirklich Anschläge auf mich vorhaben? Ich fühle mich in etwas hineingezogen und weiß nicht, wie ich es erkennen soll. Kann mit dem Job zusammenhängen. Die Agency soll sich nicht mehr um die Reisen der entfernteren Verwandtschaft der Royals kümmern. Anordnung von oben. Freue mich auf Bombay. Dorkas hat mich zu einem Laden geschickt, ich weiß nicht, warum. Ich weiß noch nicht einmal wirklich, was ich da soll.
***
Jeremy Steele hatte sich den Inhalt der Kopie eingeprägt. Es war ein Gepäckversicherungsschein der Compagnia d’Assicurazione Milanese gewesen.
Unter einem Vorwand hatte er sich gegen 21 Uhr Zutritt zur Mailänder Zentrale der Compagnia verschafft und dem Nachtwächter einen bedeutenden Betrag gegeben, woraufhin der ihn ins Archiv geführt hatte. Steele hatte sich als Mitarbeiter der Compagnia im Außendienst ausgegeben, der ein großes Problem mit einem Kunden noch heute Nacht bereinigen müsse – und der Nachtwächter hatte sich von dem falschen Ausweis Steeles täuschen lassen. Er hatte ihn ins Archiv gebracht, vorgeblich, um in einem alten Vertrag eine hoffentlich vorhandene niederschriftliche Klausel zu finden, die Steele und seinem angeblichen Kunden wichtig war. Jetzt aber bekam der Nachtwächter kalte Füße. Sein Gesicht bedeckte sich mit Schweißtropfen. Der Mann roch förmlich nach Angst. Er räusperte sich. »Wir müssen jetzt gehen«, krächzte er.
»Noch nicht.«
»Doch, doch, wir fallen auf, bitte Signore, haben Sie doch ein Einsehen, so geht das nicht, sonst … sonst …« Dieses »sonst« enthielt eine unausgesprochene Drohung.
»Wir fallen nicht auf. Was ist? Wollen Sie mehr Geld? Ich habe Ihnen bereits mehr gegeben, als Sie in zwei Jahren verdienen können.«
»Ich weiß, Signore, aber ich muss an meine Zukunft denken, ich muss meine Familie ernähren, meine Mutter ist zuckerkrank, mein Sohn soll studieren …«
Es gab jetzt mehrere Möglichkeiten. Steele hätte den Mann mit einem einzigen Schlag aufs Kinn ruhigstellen können. Steele entschloss sich für eine weichere Variante. Ohne den Blick von dem Karteischrank zu lassen, der im Licht der Taschenlampe vor ihm stand, begann er, die Beruhigungsroutine für Informanten abzuspulen.
»Ich will ja nichts Ungesetzliches«, begann Steele. »Es steht viel Geld für die Compagnia auf dem Spiel. Kann sein, dass Sie sogar noch einen Orden bekommen, für kluges Mitdenken! Lassen Sie mir nur noch eine Minute, dann bin ich wieder verschwunden. Es gibt keine Spuren. Es gibt keine Namen. Wir werden uns nie wiedersehen!«
Der Nachtwächter wurde misstrauisch. »Einen Orden sagen Sie?«
Steeles behandschuhte Finger glitten über die altmodischen Karteikarten mit den Buchstaben S-U. »Tramonte – Conte Dulcio di Tramonte, den kennen Sie doch, der verklagt den Laden, und nicht zu knapp. Dann sind wir alle dran, und wo, madonna mia, finden wir denn gleich wieder einen Job – es sind schlechte Zeiten!«, bemerkte er zur Ablenkung, und versuchte, seiner Stimme einen versöhnlichen Klang zu geben.
Der Nachtwächter schüttelte den Kopf. Seine Angst war offensichtlich.
Steele geriet in Fahrt. »Kennen Sie doch! Dieser alte Lustmolch, der seiner jungen Frau die Liebhaber zuführte? Das stand sogar im Corriere, oder es kam sogar im Fernsehen!«
»Ach, der. Jaaa, jaa, ja – ich erinnere mich.«
Steele hatte noch nie etwas von einem solchen Conte mit derart libertinistischem Liebesleben gehört. Aber damit konnte man die Leute fangen. Es gab keinen, der nicht schon irgendeine solche Schmuddelgeschichte gelesen, gehört oder sonst wie genossen hatte.
Der Nachtwächter schien wieder beruhigter. Er entspannte sich und fragte interessiert nach.
»Ja also, hm, dieser Conte war ein impotenter Spanner, und seine Holde eine Nymphomanin. Alles lief bestens, bis sie sich in einen der Typen verknallte, die ihr Alter von der Straße mitschleifte. Das gab für eine Weile eine ménage á trois und dann …«
»Oh oh …« Der Nachtwächter heuchelte Kennerschaft.
Endlich fand Steele die Karteikarte. Und tatsächlich: der Name aus der Passagierliste. Enorm dumm. Oder hochgradig kaltschnäuzig. Ein Profi mit staatlicher Rückendeckung? Wahrscheinlich.
»… dann stürzte das Privatflugzeug des Conte ab, und der Lover war ein Fall für die Pathologie. Und jetzt kommt der Conte mit einer Police. Millionen sind das, amico, Abermillionen. Aber da gibt’s eine Klausel, und die muss ich finden …«
»Und Sie meinen …«
Steele richtete sich wieder auf. Während er dem Nachtwächter die Lügengeschichte auftischte, hatte er die Karteikarte in seinem Ärmel verschwinden lassen. Die würde niemand mehr zu Gesicht bekommen. Er plauderte weiter und tat so, als suche er noch.
»Aber ich glaube, ich habe hier etwas gefunden, was uns weiterhilft. Ich glaube, Sie haben die Compagnia gerettet, amico mio, aber kein Wort!«
Der Lichtstrahl der Taschenlampe fuhr noch mal über die Stahlregale voller verstaubter Akten, über den Karteischrank und die Aktenbündel am Boden. Er zeigte auf den Ausgang, und der Nachtwächter ging voran.
Steele verschwand im Dunkel der Nacht. Er dachte nach. Um diese Zeit war dieses Mailänder Stadtviertel ein guter Platz zum Nachdenken. Es war wie ausgestorben, wie eine mittelalterliche Stadt, aus der die Pest die Menschen vertrieben hatte. Die finsteren Gebäude der Banken und Versicherungen bedrängten trotzig und dunkel die leeren Straßen.
Vielleicht hätte ein sensibler Mensch diesen neuen Klang in der Melodie der Welt vernommen. Vielleicht hätte er das leise Krachen gehört, das Summen, mit dem sich Steeles
Ahnung, der Verdacht in eine kristallene Klarheit verwandelte. Und vielleicht hätte er auch das schuppige Schleifen gehört, mit dem sich der Zorn Jeremy Steeles jenem Namen zuwandte, den er auf der Karteikarte gefunden hatte.
Eine Spur. »Das Tier« nahm die Witterung auf.
***
Tony Tanner war mit Undergroundbahn nach Heathrow gefahren. Er hatte die mürrischen Gesichter der anderen Frühaufsteher und der genervten Touristen mit ihren Koffern ignoriert und geträumt. Er war ausgestiegen und langsam zur Halle gegangen. Er hatte Zeit. Dank seines Sonderstatus bei der British Travel Agency war er bereits eingecheckt, und es würde sich jede Tür für ihn öffnen, auch jene, die an den Sicherheitskontrollen vorbeiführen.
Tony Tanner betrachtete die Auslage des Flughafenkiosks. Er überlegte, ob eine starke Dosis pornografischer Hefte seine Francine-Entzugserscheinungen mildern könnten. Nein, dazu war er sich zu schade. Francine war dafür zu schade. Nicht der Stil von Tony Tanner.
Und außerdem – diese Mädchen zeichneten sich alle durch hypertrophe Brüste aus, die sie zudem mit einem Gesichtsausdruck präsentierten, als stünde eine Religionslehrerin im Hintergrund und würde sagen: »Tu es für England, Elizabeth.«
»Endlich habe ich dich gefunden!«
Die helle Stimme von Daniel Heathercroft riss Tony aus seinen meditativen Betrachtungen.
Daniel war ein junger Kollege, der neben dem Duft eines teuren, aber zu reichlich genutzten Aftershaves alle möglichen gesellschaftlichen Beziehungen und einen geradezu verbrecherischen Charme auf seiner Seite hatte. Frauen flogen auf ihn. Männer mochten ihn entsprechend weniger. Hierin war Tony ganz Mann.
Heathercroft wohnte in Wimbledon, und er war mit Tony in Heathrow verabredet, um ihm die in der Nacht mit dem Büro der Queen erarbeiteten Akten zu dem bevorstehenden Aufenthalt in Bombay zu übergeben. Hierin befanden sich alle Namen der Personen, welche die Queen begleiten würden, nebst den geheimen Dossiers, die über jeden, Staatsgast oder Zimmermädchen, existierten.
Er nahm das Bündel Akten, überlegte, ob er etwas zu meckern finden könnte – was bei Heathercrofts Arbeit nie schwierig war – und beschied, dass er keine Zeit mehr dafür hatte, Rüffel zu verteilen. Er verschloss die Akten in seinem Handkoffer.
»Sonst noch was?«, fragte er knapp, weil Heathercroft mit dem Rückzug zögerte.
»Ja, da hat irgendso ein Typ von einer Versicherung im Büro angerufen. Ich habe ihm gesagt, dass du nach Bombay fliegst. Er will nächste Woche wieder anrufen.«
»Heathercroft, du schaufelst dir dein eigenes Grab, Baby, du riechst schon nach Friedhofserde! Es ist egal, wer anruft. Du hast keinem Menschen Auskünfte über unsere Ziele zu geben. Junge, Junge, du bist erledigt. Wenn ich zurückkomme, hast du gekündigt. Haben wir uns verstanden, Heathercroft?«
»Liebe Scheiße, Tanner, das kannst du nicht machen. Ich mache das wieder gut, Mann, entschuldige, bitte, wir können doch darüber reden. Ich machs wieder gut, ich schwör’s dir, Tony, großes Ehrenwort!«
»Du machst Probleme, und ich kann keine brauchen. Was war das für eine Versicherung, wie kommst du darauf, dass das nicht getürkt war? Und hast du vergessen, was du mit Eid versprochen hast? Schnauze halten, keine Informationen, nicht die kleinste. Keine, verstehst du? Keine Namen, keine Orte, keine Ziele!«
»Mann, Tanner, ich sehe es ein, es war ein Fehler. Lass es bitte unter uns bleiben, ich machs dir gut, bestimmt!«
Tony nickte und ging los. Die Zeit drängte jetzt doch. Und – hatte er nicht selbst gegen alle Grundsätze verstoßen, als er diesem mysteriösen Dorkas sein Reiseziel genannt hatte? Was war nur mit ihm los! Du wirst unvorsichtig, reiß dich zusammen, Tony, sagte er zu sich selbst.
Um ihn herum schoben Menschen ihre Koffer, umarmten sich zum Abschied oder zum Wiedersehen. Es war der übliche Trubel auf einem internationalen Flughafen. Tony war diese Umgebung gewohnt und hatte kaum Blicke für das morgendliche Treiben. Er steuerte den Ausgang an, der für das Flugpersonal vorgesehen war. Doch plötzlich, als er für einen Moment den Kopf hob, traf ihn ein stählerner Blick aus eisblauen Augen. Für einen überlangen Moment sah Tony in das harte Gesicht des kräftigen Mannes, dem diese Augen gehörten.
Tony Tanner kannte dieses Gesicht nicht. Als er wieder aufblickte, war der Mann verschwunden.
Fortsetzung folgt …