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Der Detektiv – Der blinde Brahmane – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Der blinde Brahmane

1. Kapitel

Die Schlangenkiste

Wir näherten uns Indien – dem Zauberland Indien! Was hätte ich darum gegeben, wenn wir das von der Reling unseres Dampfers aus bereits erkennbare Bombay, diese nach Kalkutta größte Hafenstadt des indischen Kaiserreichs, hätten als harmlose, friedfertige Touristen betreten dürfen!

Aber wir waren ja leider durchaus nicht friedfertig. Im Gegenteil: Wir setzten Cecil Warbatty nach – noch immer! Wir wussten, er war abermals entwischt. Die größte Wahrscheinlichkeit sprach dafür, dass er uns dort drüben in Bombay bereits erwartete, um seine wiederholte Drohung wahr und uns kalt zu machen.

Wir standen an der Reling und genossen das seltsame Bild der Riesenstadt mit ihren fast eine Million Einwohnern, mit ihren 89 Moscheen, 41 Hindutempeln, mit ihrer ganzen seltsamen Anlage auf der gleichnamigen Insel, die wieder zwei Halbinseln nach Süden zu ins Meer hinausschickt.

»Entzückend!«, schwärmte Harst. »Ich kenne Bombay recht gut. Trotzdem überwältigt mich dieser Gesamteindruck abermals. Sieh nur, all diese weißen Villen, diese riesigen Fabriken, diese Kuppeln der Moscheen! Und dort, mein lieber Schraut, dort auf der Südspitze der Halbinsel Malabar Hill die berühmten fünf Türme des Schweigens, nördlich davon der nicht minder berühmte Walkeshar-Tempel.« Eine kurze Pause. Dann: »Übrigens wird es jetzt für uns Zeit, hier von Bord zu verschwinden, das heißt, uns so zu verändern, dass auch Warbattys Geieraugen uns nicht erkennen. Komm also in unsere Kabine. Mit Kapitän Anderson, auf dessen Schweigen wir uns verlassen können, habe ich bereits alles vereinbart. Die Anzeige hat er uns besorgt. Sie werden zunächst ihre Schuldigkeit tun. Die Hauptsache ist, dass wir unerkannt an Land gelangen. Alles weitere findet sich dann schon. Auch unser Freund Cecil wird zu finden sein!«

Eine halbe Stunde darauf legte der Dampfer am Viktoria-Dock an. Die Fahrgäste verließen das Schiff. Das Ausladen des Gepäcks begann. Hierbei halfen auch zwei schmierige Heizer, deren fettige, rußige Gesichter infolge besonderer, von Harst ersonnener Kniffe mit den unsrigen sehr geringe oder besser gar keine Ähnlichkeit hatten.

Plötzlich gab Harst mir einen Rippenstoß, als wir gerade einen Riesenkoffer auf das Rutschbrett der Ladeluke bugsierten.

»Du, er ist schon da, unser lieber Freund! Glotze nun aber bitte nicht zu dem Bollwerk hinunter, als erwartetest du dort deine nicht existierende teure Braut oder Gattin unter all den Hunderten von Neugierigen herauszufinden! Ich begreife nur nicht, wie Warbatty so frech sein kann, sich dort beinahe in seiner wahren Gestalt aufzubauen, er, der doch ein tadelloser Verkleidungskünstler ist und dem doch die Polizei hier genau so eifrig nachsetzt wie überall! Offen gestanden, diese freche Sicherheit, die unser Liebling hier zur Schau trägt, behagt mir nicht. Ich wittere eine Teufelei …«

Der Riesenkoffer rutschte auf das Bollwerk hinab. Wir tauchten wieder im Laderaum unter. Ich zog Harst in einen Winkel, wo die übrigen Arbeiter nicht auf uns achteten.

»Weshalb gehst du nicht einfach zu Kapitän Anderson und veranlasst ihn, Warbatty in aller Stille festzunehmen«, meinte ich. »Tu es doch! Anderson ist ein schlauer Kopf. Auf den kann man …«

»Lieber Schraut«, unterbrach er mich. »Du vergisst die Hauptsache: Mir muss jetzt mehr als bisher daran liegen, diesen vielfachen Mörder nicht lediglich hier sofort verhaften zu lassen, sondern vorher noch seine hiesigen Pläne zu durchkreuzen. Er hat hier – das steht ja wohl außer Zweifel – abermals einen großen Schlag vor. Er soll endlich einsehen, dass ich der Mann dazu bin, zweierlei gleichzeitig und endgültig zu erreichen: seine Festnahme und die Vereitelung seiner Pläne! Endgültig!« Harsts Stimme verriet seine Erregung. »Hier in Bombay wird er zur Strecke gebracht oder ich bin ein elender Stümper.«

»Gestatte«, warf ich ein. »Du hattest ihn ja auch in Aden den Behörden überliefert. Was kannst du dafür, wenn diese Idioten ihn wieder entschlüpfen ließen?«

»Oh, sehr viel, mein lieber Schraut, sehr viel kann ich dafür! Ich hätte in Aden die Sache unbedingt so einrichten müssen, dass Warbatty nicht mehr entfliehen konnte, also …« Er flüsterte noch leiser. »… einen so scharfen Zusammenstoß zwischen ihm und den Polizeibeamten herbeiführen müssen, dass er tot am Platze blieb. Ich weiß jetzt: Anders ist dieser vielfache, rücksichtslose Mörder nicht unschädlich zu machen. Nun, ich richte mich für Bombay darauf ein, das kannst du mir glauben!« Seine Stimme sagte mir abermals, dass es ihm mit alledem völlig ernst war.

Er hatte auch recht damit: Eine Verhaftung hätte die Welt nie von diesem Scheusal befreit!

Wir schwangen jeder einen kleineren Koffer auf die Schulter, stiegen zur Ladeluke empor. Und wieder raunte Harst mir zu: »Er steht noch immer da!«

Gleich darauf sah ich, dass Harst sich zu Kapitän Anderson bewegte. Was sie dann hinter einem Stapel Kisten auf dem Vorschiff verhandelten, sollte ich bald gewahr werden. Harst tauchte wieder im Laderaum auf.

»Komm hinter mir her – unauffällig!«, meinte er leise und stieg die Treppe zu dem tieferen Ladedeck hinab. Hier erwartete uns Anderson schon, führte uns in einen Verschlag, der durch dicke Eisenplatten gegen Einbruch geschützt war und zur Beförderung der unter Wertversicherung aufgegebenen Stückgüter diente.

Außer anderen Gepäckstücken stand hier auch in einer Ecke eine mit Zinkblech benagelte, sehr große Kiste, deren übergreifender Deckel ebenso wie die Seitenwände zahlreiche kleine Luftlöcher hatte.

»Dies ist die Schlangentransportkiste, Master Harst«, erklärte Anderson. »Die giftigen Bestien, die ich vor einem Monat hierin für einen Freund mit nach London nehmen wollte, krepierten unterwegs. Eine dreiviertel Stunde werden Sie beide es darin schon aushalten.«

In der Kiste lagen noch die wollenen Decken, in welche die Reptilien eingehüllt gewesen waren. Harst warf einige davon heraus und kletterte nun in den Kasten hinein.

Wir hatten gerade so viel Platz, nebeneinander mit angezogenen Beinen zu sitzen.

Anderson verschloss die Kiste, zog den Schlüssel ab, rief uns noch leise ein Auf Wiedersehen in meinem Heim zu und verließ die Kammer.

»Wir werden jetzt sofort abgeholt und zum Bungalow Andersons (Bungalow, luftig gebautes, villenähnliches Haus) auf Malabar Hill transportiert werden, während der Kapitän unseren Landsmann, den deutschen Steward Grüttner, der ja ein geriebener Bursche ist, hinter Warbatty her schickt. Ich habe Anderson unseren Freund gezeigt.« Harst lachte leise auf. »Nun soll unser Cecil mal versuchen, uns hier aufzustöbern in Bombay! Wird ihm schwer werden!«

Mein guter Harald hätte damals lieber mit dem triumphierenden Lächeln sparsamer sein sollen! Die Zukunft bewies, dass …

Doch ich will den Ereignissen nicht vorgreifen.

Die Sache schien tadellos zu klappen. Nach zehn Minuten wurde unsere Kiste auf das Bollwerk geschafft, wobei uns die Dampferwinde eine kleine Luftreise vermittelte. Wäre die Kette gerissen, hätten wir wohl so viel Arm-, Bein- und sonstige Brüche davongetragen, dass Warbatty in aller Seelenruhe hier in Indien sich hätte fernerhin betätigen können.

Aber die Kette hielt. Wir merkten, dass wir auf einen Handwagen verladen wurden, hörten wachsenden Straßenlärm um uns herum und fuhren über offenbar gut gepflegte, glatte Wege dahin. So ging es etwa zehn Minuten weiter. Dann wurde es stiller ringsum. Der Weg führte wohl durch entlegenere Gassen.

Plötzlich hörten wir, dass die beiden Eingeborenen, die den Wagen schoben, und die sich zuweilen in Mahrati (indische Sprache der nordwestlichen Gebiete) unterhalten hatten, angesprochen wurden, und zwar offenbar von einem farbigen, sehr groben Polizisten. Ich selbst verstand von dem Wortwechsel nichts. Als ich Harst fragte, was los sei (er beherrschte wenigstens einige der indischen Mundarten leidlich) meinte er, unsere Schieber hätten einen für Wagenverkehr verbotenen Weg benutzt.

Die Kistenfahrt ging weiter. Dann wieder ein Aufenthalt; wieder eine halb gebrüllte Unterredung; wieder vorwärts.

»Wenn es noch lange dauert«, erklärte ich schließlich, »bekomme ich Wadenkrämpfe.«

»Ich auch!«, war Harsts lakonische Antwort. Er zog seine Uhr, die er ebenso wie Revolver, Brieftasche und anderes bei sich behalten hatte. Das Leuchtzifferblatt strahlte vor mir als helle, kleine Scheibe.

»Hm!«, machte Harst. »Eine Stunde sind wir bereits unterwegs! Und Anderson sprach nur von etwa 45 Minuten bis zu seinem Bungalow. Sollte etwa …«

Er führte den Satz nicht zu Ende. Diese halb beendeten Sätze waren bei ihm stets der Hinweis auf irgendeine Gefahr, die er selbst noch nicht klar überschaute. Kein Wunder, dass mir in dem engen Behälter noch heißer wurde als bisher.

»Fürchtest du etwa, dass diese Transportgeschichte hier irgendwie nicht stimmt?«, fragte ich schnell. Mir lief nun der Schweiß in Strömen am Leibe entlang.

Er antwortete nicht sofort. Dann: »Meinst du, wir fahren zurzeit über einen gebahnten Weg!«, sagte er langsam. »Mein lieber Freund und Privatsekretär, ich schätze, Cecil Warbatty hat uns schon wieder in den Klauen, oder aber er hofft doch wenigstens, dass ihm dieser Streich gelingen wird. Unser Wagen rumpelt über Steine, Baumwurzeln, Aststücke. Wir befinden uns mithin außerhalb der Stadt. Nach Malabar Hill führen nur tadellose Straßen. Warte, wir werden sofort Gewissheit haben. Es geht nicht anders: Ich muss mich sehr energisch melden! Sehen können wir nichts. Die Luftlöcher laufen so schräg durch die Bretter, dass sie als Ausguck nicht verwendbar sind.«

Ich merkte, dass er aus der Innentasche seiner schmierigen Heizerjacke etwas herausnahm. Dann leuchtete der weiße Kegel seiner Taschenlampe auf. Mit der Faust trommelte er nun mit aller Gewalt gegen das Holz, rief gleichzeitig auf Englisch: »He, anhalten, Boys, sofort! Stehen bleiben!«

Und der Erfolg?

Unser Wagen begann plötzlich in Galopp überzugehen. Wir flogen hin und her, mussten uns mit aller Kraft gegen die Seitenwände stemmen, um nicht mit dem Kopf gegen den Deckel zu stoßen. Das dauerte nur wenige Minuten. Dann brüllte Harst mir zu: »Halte Dir die Ohren zu. Ich schieße!«

Der Wagen glitt nun wieder über ebenen Steinboden hin. Ich sah, dass Harst die Stelle beleuchtete, wo die Krampe des Vorlegeschlosses an den an der Innenseite des Holzes umgebogenen Schraubenenden zu erkennen war.

Dann der erste Schuss! Trotz der Finger in meinen Ohren vernahm ich ihn wie einen furchtbaren Donnerschlag in diesem engen Kasten, in dem die Schallwellen keinen Ausweg fanden.

Noch ein Schuss – noch einer. Alle sechs Patronen verfeuerte Harst, lud die Waffe schnell wieder.

Der Wagen raste weiter, immer noch über glatte Steinfliesen offenbar. Dann ein fürchterlicher Stoß, der uns übereinanderwarf; dann weitere Stöße, als schleppe man das Gefährt eine Treppe hinauf; und dann – dann hatte ich das Gefühl, dass wir samt unserem Kasten durch die Luft flogen; nun ein neuer Krach, das Aufplatschen von Wasser.

Und Wasser drang nun auch durch die Löcher der Seitenwände in feinen Strahlen ein.

Wir sollten also ersäuft werden, sollten spurlos und für immer auf dem Grund irgendeines Teiches, Flusses oder dergleichen verschwinden!

Die Schlangenkiste füllte sich rasch. Sie lag mit der einen unteren Längskante als Kiel schräg im Wasser.

Harst hob abermals mit der Linken die Taschenlampe und mit der Rechten den Revolver rief gleichzeitig: »Reich mir deine Waffe, Schraut, schnell!«

Er feuerte. Das Holz zersplitterte. Ein zerfetztes Loch entstand. Dann nahm er auch meinen Revolver, jagte wieder sämtliche Kugeln in der Nähe der Schrauben in das Holz. Ich lud indessen seinen Revolver mit flatternden Fingern.

Wir saßen bereits im Wasser. Die feinen Strahlen mehrten sich, je tiefer die Kiste sank.

Harst riss mir die frisch geladene Waffe aus der Hand. Wieder das entsetzliche Getöse von sechs Schüssen.

Dann, der äußere Blechbeschlag war jetzt gleichfalls durchsiebt, gebrauchte Harst den Revolverlauf als Stemmeisen, stieß ihn in das ausgefaserte Loch, stieß immer wieder zu. Er kniete nun halb. Sein Nacken drückte gegen den Deckel.

Und da – urplötzlich eine blendende Lichtflut über uns. Der Deckel war aufgesprungen. Die Krampe hatte sich gelöst!