Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Aus dem Wigwam – Awaschank

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Vierzig Sagen
Mitgeteilt von Chingorikhoor

Awaschank

ine faulere und hässlichere Jungfrau als Awaschank gab es sicherlich nicht auf der ganzen Erde. Sie schielte mit beiden Augen und ihre Nase war so lang und dünn, dass sie wie ein in das Gesicht gesteckter Stock aussah. Ihre Zähne standen weit aus dem schief geschnittenen Mund hervor und ihre Ohren waren so lang, dass sie ihr bis auf die Schultern hingen. Ihre Arme waren nichts als fleischlose Knochen und ihre Beine waren so krumm wie ein straff gespannter Bogen. Wo sie sich nur sehen ließ, wurde sie ausgelacht und verhöhnt. Aber eine Eigenschaft hatte sie, in der ihr niemand gleichkam: Sie konnte außerordentlich schön singen.

Oft saß sie tagelang auf ihrem Lieblingsplatz, einem kleinen Hügel im Wald, und sang. Ihre liebliche Stimme hallte so weit, dass sie alle Tiere der Umgegend hörten und sie dann herbeikamen, um sie auch zu sehen. Sobald sie zu singen anfing, füllten sich die Äste mit unzähligen Vögeln. Die Mäuse verließen ihre Löcher und die Fische im nahen Fluss hüpften vor Freude so hoch wie eine Wigwamstange.

Unter den Fischen, welche sich allabendlich regelmäßig zu jenem Konzert versammelten, war auch der berühmte Kriegshäuptling der Forellen, der beinahe so groß und dick wie ein Mann war, was sich durch den Umstand, dass seine Mutter eine riesige Flunder war, auch leicht erklären ließ. Da er nun einen so außergewöhnlichen Umfang hatte und sich stets alle erdenkliche Mühe gab, so nahe wie möglich an die Sängerin heranzuschwimmen. So stieß er sich häufig die Nase an den Steinen blutig; aber dies kümmerte ihn wenig und er arbeitete sich endlich so nahe herbei, dass er mit dem Mädchen sprechen und sie seiner innigsten Liebe versichern konnte. Von Liebe und Heirat hatte bisher noch niemand zu ihr gesprochen. Dass sie unbeschreiblich schön sei, hörte sie nun auch zum ersten Mal. Aber was sollte aus dieser Liebschaft werden? Er konnte doch nicht auf dem Land und sie nicht im Wasser leben?

Als sie sich nun eines Abends wieder ihr Leib klagten und weinten, dass sich zwei liebende Seelen mit dem besten Willen nicht heiraten könnten, sah die Jungfrau einen kleinen, mit farbigen Streifen über den ganzen Körper bedeckten Mann neben sich stehen. Um seinen Hals trug er einen blendenden Muschelkranz. Sein üppiges Haar schien mit grünen Seepflanzen durchflochten zu sein. Seine Hände und Füße glichen den Finnen eines Fisches. Wäre er nicht aufrecht wie ein Mensch gegangen, so hätte man ihn auf den ersten Blick für einen Fisch halten können.

»Warum schlagt ihr die Augen so traurig nieder?«, fragte er die Verliebten.

Da das Mädchen nicht den Mut hatte, die wahre Ursache ihres beiderseitigen Kummers einzugestehen, so ergriff der Forellenhäuptling das Wort und erklärte, dass sie sich seit Monden geliebt hätten, aber leider so geschaffen seien, dass sie nicht zusammen leben könnten.

»Wenn euch sonst nichts fehlt«, erwiderte der Geist, »da kann ich euch bald helfen. Ich bin nämlich der Schutzgeist der Fische. Es wird mir als solcher sehr leicht sein, einen Menschen in eine Forelle zu verwandeln. wenn mir das Mädchen folgen will, so wird es sich bald mit seinem Geliebten vereint sehen.«

Das ließ sich Awaschank nun nicht zweimal sagen. Gleich hob sie ihren Rock in die Höhe und watete fröhlich in die Flut. Der Fischgeist bespritzte sie alsdann mit Wasser. Nachdem er einige Zauberworte, die nur er verstand, gesprochen hatte, ging die Verwandlung vor sich. Ihr Körper bedeckte sich mit Schuppen, ihre Beine und Arme wurden zu Flossen und nach wenigen Augen­blicken war sie eine echte Forelle und schwamm fröhlich und wohlgemut an der Seite ihres liebenden Gatten von dannen.