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Die Riffpiraten – Kapitel 8

Heinrich Klaenfoth
Die Riffpiraten
Verlag Albert Jaceo, Berlin, um 1851

Kapitel 8

Der Delikatessenhändler

Der Besitzer des Hauses, in dem der Doktor Simon wohnte, und wohin die Prinzessin den geheimnisvollen Brief trug, war ein Krämer. Seine Eltern waren Spanier und von Madrid nach Mexiko übergesiedelt.

Es war ein ziemlich gutes, doch keineswegs elegantes Haus, mit einer Front zur Straße, dessen Belle-Etage der schon genannte Arzt gemietet hatte; mit zwei großen Flügeln auf dem Hof, die von lauter sogenannten kleinen und ärmlichen Mietern wimmelten. Die Parterrewohnung des Vorderhauses hatte der Wirt inne. An den Flur stieß ein Laden mit einer Glastür, an der die gewichtigen Worte Zum Wirt standen.

Da der Wirt zugleich die Portierdienste des Hauses versah, so hatte er neben der Glastür noch ein Fenster anbringen lassen, was er nach Belieben öffnen und schließen konnte und was er lediglich dazu benutzte, um den Flur zu beherrschen. Über diesem Fenster stand zu lesen: Portier.

Der geräumige Laden bestand aus drei Fach Fenster, die mit allerlei Handelsgegenständen besetzt waren. Er hatte nur einen Eingang, die oben genannte Glastür. Da einen sogenannten offenen Laden anzulegen, dem Eigentümer zu kostbar war, so hatte er es noch immer unterlassen, eine separate Tür zur Straße anzubringen. Das Durcheinander der zu verkaufenden Gegenstände verriet nicht den klassischen Geschmack eines echten Sohnes des Merkur. Man war nicht imstande, diese Handlung durch bloße Anschauung des Ladens kategorisch zu bezeichnen, hätte man nicht die Aufschrift auf einem großen Schild in blauem Grund Delikatessenhandlung von A. D. Morlet gelesen, die in goldenen Buchstaben geschrieben stand. Dieses große blaue Schild prangte am Haus, und hinter dem Namen Morlet war mit weißer Kreide ein Komma gemacht, und dann mit dem Tanzboden hinzugeschrieben. Man wird bald erfahren, was dieses zu bedeuten hatte.

Herr Morlet war 50 Jahre alt, von mittlerer Statur, blass und mager. Er trug sehr weiße Leibwäsche, was man an den aufgekrempten Ärmeln seines Hemdes sehen konnte, und über die untere Hälfte einer großen Weste eine mit einer ganzen Watte ausgestattete sogenannte Cholerabinde, die den ganzen Leib des Herrn Morlet, der schwach und leidend war, umgab. Mit den Füßen, die ebenfalls wie der Magen leidend waren und »nicht recht fortwollten«, um mit seinen eigenen Worten zu reden, befand er sich in einem Paar Pelzstiefeln, die ihm weit über die Knie hinausreichten. Diese Stiefel wurden von Zeit zu Zeit noch mit einer Filzsohle belegt. War die Witterung regnerisch, so pflegte der Delikatessenhändler noch ein Paar graue Filzschuhe darüber zu ziehen. Man wird hieraus schließen, wenn wir bemerken, dass er diese Fußbekleidung in dem heißen Klima von Mexiko nicht ablegen durfte, dass er sehr schwach und leidend in seinen unteren Extremitäten war. Jeder Fuß sah wie ein Ballen von Filz aus. Wäre diese mächtige Umgebung von Kork gewesen, er hätte damit wie ein Heiliger auf dem Wasser spazieren können.

Auf festem Boden war jedoch der Hauseigentümer nur imstande, sich sehr langsam von einem Ort zum anderen zu bewegen.

Der Kopf des Mannes war ein Ungeheuer an Masse und Umfang. Das Maß ergab, dass der Kopf des Herrn Morlet gerade noch einmal so groß war, als der Kopf eines anderen ausgewachsenen Menschen. Er hatte von seiner Geburt an einen Wasserkopf gehabt, und hatte nun, obwohl solche Subjekte in der Regel in der Jugend zu sterben pflegen, der Natur zum Irrtum, das Glück, sein Alter, wie schon bemerkt, bereits auf die Höhe von 50 Jahren hinaufzutragen. Er dachte bei seiner Rührigkeit des Geistes noch lange nicht an den Tod.

Ein kleines freundliches Gesichtchen, mit bläulichen Adern auf den Wangen durchzogen, befand sich wie unterhalb eines großen Kürbis an dem Kopf des Delikatessenhändlers. In diesem spielten eigene Züge von Güte und Wohlwollen, die man nicht genug rühmen kann. Von Zeit zu Zeit aber, es war pünktlich alle fünf Minuten, zog sich seine Nase ein wenig kraus zusammen. Es bildeten sich unwillkürlich große, sehr bemerkliche Faltenstreifen, die auf der Nase bogenförmig zusammenstießen. Diese Falten oder Streifen waren es, die dem Antlitz das Ansehen von etwas Tierischem, eines Schafbockes oder Widders verliehen. Trat jene Bewegung ein, so bekam die Sprache einen von ihm nicht zu unterdrückenden näselnden Ton. Dieser Ton hatte etwas von dem Blöken eines Schafes an sich.

Über diesen immensen Kopf hielt der Delikatessenhändler für beständig ein schwarzes Käppchen gespannt. Lüftete aber Herr Morlet dieses Mützchen, was sehr oft, besonders gegen Standespersonen geschah, wenn er ihnen sein Kompliment machte, so kam eine Glatze zutage, die ebenfalls an Umfang ihres Gleichen nicht hatte.

Diese Glatze war es, welche der Gegenstand eines allgemeinen Spottes geworden war und seine schändlichen Spötter den Tanzboden des Herrn Morlet nannten, wie auf dem Schild mit blauem Grund zu lesen war, welches von irgendeiner unverschämten fremden Hand mit weißer Kreide hinzugesetzt worden war.

Diese schmählichen Persiflagen und Angriffe, besonders in Anbetracht des Tanzbodens, erzeugten jedes Mal eine solche Wut in dem armen Delikatessenhändler, die ihn nach und nach in den Zustand einer ohnmächtigen Duldung und in eine Art Stumpfsinn überleitete, sodass seine ihm treu ergebene Wirtschafterin, mit der er sein Leben zu beschließen schon lange einig geworden war, mit Recht um die teure Gesundheit ihres Herrn die größte Besorgnis trug.

Die Wirtschafterin war eine kleine Dame, ihrem guten Herrn mit dem mächtigen Wasserkopf an Jahren gleich, ja, sie waren in einem Jahr und was ihnen beiden, besonders aber der schlauen Wirtschafterin, sehr merkwürdig schien, in einem Monat, nämlich im Februar geboren, weshalb sie sich auch für unzertrennlich hielten. Einstmals hatte der Delikatessenhändler sich einfallen lassen, sich anderweitig in eine ehrbare Dame zu verlieben. Allein seine treu ergebene Wirtschafterin, die Amalie Litta hieß, sehr besorgt um das künftige Glück ihres Brotherrn, hatte ihm, wie man sagt, den Kopf verdreht, bis er ihr zum energischen Handeln den gehörigen Raum gab, sodass sie seine sich so böswillig einschleichende Liebe mit einem stumpfen Besen auszutreiben unternehmen konnte. Mit dieser energischen Agitation der Amalie Litta war das Kapitel der Fremdliebe des Mannes mit dem Wasserkopf ein für alle Mal im Interesse der Wirtschafterin und zur behaglichen Freude derselben geschlossen. Sie waren von da ab beide ein Herz und eine Seele.

Amalie Litta trug eine rötlich ausgeblichene Perücke, worin der Zahn der Zeit schon bedeutend genagt hatte, und war mit den Leiden eines gelähmten krummen Beines behaftet, weshalb sie sehr stark hinken musste. Hatte sie große Touren auf der Straße zu machen, so konnte sie sich kaum ohne die Unterstützung eines Stockes behelfen.

In dem Augenblick, als die Prinzessin Judith mit dem bewussten Brief, den sie in der Hand hielt, auf den Flur des Delikatessenhändlers trat, stürzte ihr ein junges schalkhaftes Mädchen mit lautem, schallenden Gelächter und mit solcher Eile entgegen, dass Judith sich genötigt sah, an die Seite zu springen. Hinter diesem Mädchen hinkte Litta so schnell her, wie es ihr lahmer Fuß gestattete, indem sie einen Besen hoch über ihrem Kopf schwang.

»Warte, Kanaille«, rief sie in der äußersten Wut, »ich will dir den Tanzboden besehen.« Dann schlug sie mit aller Kraft die Haustür hinter der Fliehenden zu und begann nun, Judith höflich in den Laden hinein zu nötigen, welche dann auch eintrat.

Die kleine Lahme hatte sich von ihrer Wut noch nicht erholt, als sie mit keifender Stimme zu Judith sagte: »Dieses Gesindel bringt meinen armen Herrn und mich noch unter die Erde.«

Da die Prinzessin sie fragend und staunend anblickte, fuhr Litta fort: »Eben kommt die kleine Bestie, denken Sie sich, junges Frauchen, mit dem ehrlichsten Gesicht, als ob nichts vorfallen sollte, und fordert für einige kleine Münzen Kaviar, denn Sie müssen wissen, bei uns finden Sie den besten Kaviar in der ganzen Stadt, ja – was wollte ich gleich noch sagen – richtig. Die kleine Kanaille will Kaviar haben. Herr Morlet wiegt ihr die Ware ab. Kaum aber hat sie die Tür in der Hand, als dieser kleine Teufel sich umwendet und spricht: ›Sie haben mich lange aufgehalten, und ich muss heute Abend noch auf den Tanzboden.‹ Ich denke, ich soll sterben, junges Frauchen, und da, da sehen Sie nun die Folgen eines so ungeheuren Ärgers an meinem armen Herrn, nein, es muss anders werden! Ein Gott muss sich erbarmen oder ich zermalme alles um mich her«, rief die kleine Lahme aus und machte einige Kreuzhiebe mit dem Besen in der Luft.

Die Prinzessin, welche ihren Blick in dem Laden umherschweifen ließ, entdeckte endlich den Delikatessenhändler, der auf einem Ballen Ware hingesunken war.

Er war wie hingegossen, die Füße hatte er weit fortgestreckt, die Arme hingen schlaff herab, der ungeheure Wasserkopf lehnte gegen ein Regal mit Waren, die schwarze Mütze war in den Nacken hineingeschoben, der in Rede stehende Tanzboden war in seiner ganzen Nacktheit zu erschauen.

Die kleine Lahme hinkte vor ihren Herrn hin, stemmte den Besen wie ein Gewehr auf den Boden und sagte dann teilnahmevoll: »Armer Herr Morlet!«

Der geschlossene Mund des Delikatessenhändlers öffnete sich zu einer Entgegnung. Mit einem Mal überfiel ihn der bereits erwähnte Krampf, der helle Strahl der Lampe beschien ein vollständiges Bocksgesicht, mit welchem er stöhnte:  »Oh, oh! Haben Sie den Balg eingeholt, Litta?«

»Hätte ich nur nicht den verwetterten lahmen Fuß, Herr Morlet, ich würde Ihnen blutige Genugtuung verschafft haben.«

»Hu, hu!«, fuhr der Mann mit dem Wasserkopf dann fort, »in dem Feld hingeschlachtet, ist kein Tod, aber so recht langsam sich von jedem Laffen, von jedem Buben hingemartert sehen, dass ist der wahre Tod, indem ein Glied nach dem anderen, ein Nerv nach dem anderen abstirbt. Aber da ist jemand«, unterbrach er sich instinktiv, »was wünschen Sie?«

»Einen Brief an den Doktor Simon abgeben«, sagte Judith.

»Nehmen Sie, Litta, nehmen Sie.«

»Ich wünschte ihn gleich besorgt zu sehen«, sagte Judith.

»Eilen Sie, Litta, eilen Sie.«

»Aber Ihre Mütze, Herr Morlet, Ihre Mütze!« Mit diesen Worten setzte Litta dem noch immer erschöpften Delikatessenhändler die Mütze wieder zurecht, welcher durch die ungewöhnliche Aufregung schon wieder das Bocksgesicht zeigte.

Dann hinkte sie mit dem Brief nach oben.

»Dass Sie, liebe Litta, auch recht bescheiden an der Klingel ziehen!«, ermahnte Herr Morlet.

»Lassen Sie mich nur machen!«, entgegnete jene.

»Es ist unser bester Mieter, wissen Sie«, sagte der Delikatessenhändler, »er zahlt immer die Miete im Voraus«, setzte er in einiger Übereilung hinzu, »und lässt meiner treuen Wirtschafterin manche Sporteln zukommen. Ach, die Ärmste ist auch zu beklagen, sie ist ebenfalls oft ein Gegenstand des Spottes. Ihr Herr aber ist immer der Sündenbock. Hu«, sagte er dann heftig und griff sich mit beiden Händen nach dem ungeheuren Kopf, »da guckt er durch die Fensterscheibe.«

»Wer?«, fragte Judith, sich unwillkürlich umwendend, und sah das Gesicht des Herrn mit der kurzen Weste, welches aber sofort wieder verschwand.

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Ja«, sagte Judith.

»Das ist der leibhaftige Schwarzfuß, der Beelzebub, der Teufel aller Teufel. Uh, Uh!« Er schlug beide Hände auf sein Gesicht. »Das ist der Werwolf dieser Straße, die Sünde der Menschheit, mein Tod.«

»Aber, mein Gott, erholen Sie sich, was ist es mit ihm?«, fragte Judith mit einigem Interesse.

Nach einer Pause und nachdem Morlet durch die Finger das Fenster gemustert hatte, niemanden sah und sich etwas erholt hatte, erhob er sich nicht ohne Mühe in seinen Pelzstiefeln mit Filzgaloschen, drehte sich so, dass er das Fenster nicht mehr sehen konnte, winkte der Prinzessin, sich auf einen Stuhl niederzulassen, und fuhr dann fort:

»Denken Sie sich, Frauchen, dieser Mensch, dessen diabolisches Gesicht sie eben durch das Fenster gesehen haben, war mein Mieter.«

»Wie heißt er?«, fragte Judith.

»Er benannte sich mit dem menschlichen Namen Herr Simmrod, ein Major außer Diensten, wie er sich bei mir anmelden ließ. Nun, der Satan kann sich ja beliebige Namen geben. Er bewohnte die obere Etage, die jetzt der Herr Doktor Simon inne hat.«

»Hat der Herr Simmrod Ihnen denn keine Miete bezahlt?«, fragte Judith.

»Alles, alles, mehr als das«, sagte der Delikatessenhändler. »Er drang mir sogar noch mehr Geld auf, immer mehr wollte er mir aufdringen, indem er mich seinen guten Landsmann, seinen vertrauten Freund nannte. Schon bei seinem Einmieten lachte ihm die Hölle aus den Augen. Ich hätte den Geist erraten müssen, der in ihm wohnte, wäre ich nicht mit Blindheit geschlagen gewesen. Allerlei geheime Gerätschaften, die ich nie gesehen, einen Mörser, eine Elektrisiermaschine und dergleichen Dinge ließ er mir durch einen zweiten Teufel in Gestalt eines Laufburschen in seine gemietete Wohnung bringen. Es ist meine Mode und gewiss die eines jeden klugen Mutes, dass ich, wenn Leute bei mir einziehen, die Effekten, welche eingeführt werden, beobachte. In der Regel notiere ich sie mir auch Stück für Stück, um darüber Buch zu halten und ein Mittel in Händen zu haben, meine Leute zu loben. Aus diesem Grund wich ich nicht von dem kleinen Fenster. Es wurden eine unermessliche Anzahl von Schieß- und Sterbeinstrumenten aller Arten und jeder Gattung, alle zum Morden bestimmt, in mein Haus gebracht. Man hätte eine ganze Armee damit ausrüsten können. Der Laufbursche, so oft er an mir vorüberging, sah mich an …«

»Was tat er dann?«, fragte Judith lakonisch, um das Gespräch zu unterhalten.

»Denken Sie sich, er lachte! So oft der Bösewicht vorüberging, lachte er. Nun kam der Nathanael endlich selbst, um vollständigen Besitz von meinen Zimmern zu nehmen. Er stellte sich, als ob er berauscht wäre, trat an mein Fenster, vor dem ich saß, und über dem Portier zu lesen steht, und fingierte immer einen Berauschten. Dann fuhr er langsam mit der verbrecherischen Hand ins Fenster hinein, nachdem er mir zuvor einen guten Abend gewünscht und mitleidig gesagt hatte: ›Armer Schelm, du bist zu bedauern.‹ Dann unterstand sich der freche Mensch – aber mir wird schwindelig, mir vergehen die Sinne …«

»Was geschah dann?«, fragte die Prinzessin weiter.

»Was geschah?«, fuhr der Delikatessenhändler nach einer Pause, während der er sich etwas gesammelt hatte, fort. »Da ich von seinen nicht zu berechnenden Entwürfen und teuflischen Anschlägen keine Idee hatte, so hielt ich aus gewisser Scheu vor einem Mieter von seinem Ansehen mäuschenstill. Denken Sie sich, Frauchen, dieser Bösewicht tappte, wie gesagt, mit seiner Hand langsam und ganz leise durch das Fenster, klopfte und streichelte mir die schamvollen Wangen, so etwa, als ob man ein kleines Kind vor sich hat, ging dann mit seiner frechen Hand höher, immer höher, fuhr dann auf meinen Kopf hinauf, indem er mir die Mütze abstieß, trommelte auf meinen Kopf mit seinen frechen Fingern und sagte mit teuflischer Stimme – aber mir wird wirklich schwindelig.«

»Nun, was weiter?«, drängte Judith.

»Ja«, erzählte nach einer Pause des Nachdenkens Herr Morlet weiter, »dieser Unmensch trommelte, wie gesagt, und trommelte, und endlich ging er in ein leises Tippen über und sagte dann mit seiner hohlen Stimme: ›Ein guter Tanzboden.‹ Und nun ging der Unmensch mit einem teuflischen Lachen nach oben, indem er sich immer noch stellte, als ob er betrunken wäre.«

Bei diesen letzten Worten hinkte die Lahme herein.

»Haben Sie den Brief abgegeben?«, fragte Judith, der an der Besorgung des bewussten Briefes sehr gelegen war.

»Ja, junge Frau, der Herr Doktor ist zwar noch nicht zu Hause, doch …«

»Doch der Brief, meine Gute?«

»Ich habe ihn auf den Arbeitstisch des Herrn Doktors Simon gelegt, unter sein kleines Feuergeschirr, damit er ihn bei seiner Ankunft sogleich findet. Auch werde ich sagen, dass ein Schreiben da ist. Übrigens wird er auch sogleich kommen. Der Brief betrifft wohl etwas Eiliges?«, fragte die Hinkende dann neugierig.

»Nein, ganz und gar nicht«, entgegnete die Prinzessin indem sie sich gleichgültig stellte, »er enthält die Einladung zu einer Kranken, welche meine Herrin ist, und als Einschluss ein benutztes Rezept, welches, wie ich sah, in den Brief hineingesiegelt wurde. Also Sie glauben, der Herr Doktor wird bald kommen?«

»Es ist dies so seine Zeit«, fiel der Delikatessenhändler ein.

»So warte ich noch ein wenig«, meinte Judith, die wegen des Briefes sich nicht ganz beruhigen konnte.

»Sehr angenehm, Miss, nehmen Sie doch den Schleier zurück und machen Sie es sich bequemer!«, erwiderte die Lahme freundlich.

»Nein«, sagte Judith, »ich ertrage die Strahlen der Lampe nicht gut, weil ich blöde Augen habe.«

»Warten Sie, da habe ich eine gute Salbe«, rief jene und hinkte augenblicklich mit einer Kruke herbei. »Dieses Mittel ist von dem Herrn Doktor Simon und hat meinen Augen, die ganz herunter waren, die ausgezeichnete Dienste geleistet. Ich werde Ihnen etwas aufwischen.« Mit diesen Worten griff sie der Prinzessin unter den Schleier und versuchte ihn anzuheben.

»Nein, nein!«, wehrte Judith ab, »ich danke für Ihre Freundlichkeit und Güte. Der bloße Anblick des Gefäßes könnte mich zur Verzweiflung bringen. Ich bin schon alle Mittel durchgegangen, bloß Wasser – immer klares, reines Wasser, meine Beste, das ist meine Kur. Aber Sie, guter Herr«, fuhr sie dann zu dem Delikatessenhändler gewendet fort, um dem Gespräch und der Aufmerksamkeit eine andere Wendung zu geben, »das ist wahrlich ein arger Streich, den Ihr vormaliger Mieter Ihnen gespielt hat.«

»Wen meinen Sie?«, fragte die Hinkende ihren Herrn.

»Ach, ich habe der Miss einen Fall von dem Bösewicht erzählt.«

»Von dem angeblichen Major Simmrod?«

»Ja.«

»Denken Sie sich, Miss, dieser Schandmensch hat uns schon die Grube gegraben, sowohl mir als auch meinem armen Herrn. Also Sie wollen nicht von meiner ausgezeichneten Salbe versuchen.«

»Nein, nein! Verschonen Sie mich damit. Da wüsste ich doch ein besseres Mittel.«

»Das wäre?«, fragte die Lahme mit stolzem Vertrauen auf ihre Salbe. »Das könnte nur der Schmied mit dem Diebsfinger aus der Kolonie haben. Ja, sehen Sie, dieser Schmied, zugleich ein Hexenbanner und Rossarzt, besitzt den Finger eines argen Diebes, womit er auf dem Wege sympathetischen Bestreichens jedes Übel vertreibt. Die armen Leute strömen nur so zu ihm.«

»Das ließe sich eher hören«, erwiderte Judith, um die hinkende Wirtschafterin des Delikatessenhändlers von der Salbe abstehen zu sehen. »Sympathien habe ich wider meine kranken Augen noch nicht gebraucht.«

In diesem Augenblick fragten mehrere Kunden nach Kaviar. Als diese abgefertigt waren, hinkte Litta wiederum vor Judith hin, indem sie auf die Kruke in der Hand deutete und meinte: »Aber wenn Sie sich nur gefallen lassen wollten, dass ich Ihnen ein Atömchen dieser ausgezeichneten Salbe …«

»Nein, nein, gute Frau. Aber«, sagte die Prinzessin zu dem Delikatessenhändler gewendet, »Sie wurden in Ihrer wirklich interessanten Erzählung von dem vormaligen Mieter unterbrochen, der Mensch tippte also auf Ihrem Kopf herum?«

»Mit aller Unverschämtheit eines Bösewichtes, dann torkelte er wie ein Betrunkener nach oben; aber das Allergrässlichste geschah späterhin.«

»Worin bestand das?«, fragte Judith, weil die kleine Lahme noch immer hartnäckig auf einem Bein mit der Kruke vor ihr stand.

Da das bloße Andenken an den Herrn Simmrod, dem Mann mit dem mächtigen Kopf jedes Mal ein Zacken, wie von einem elektrischen Schlag erteilte, so brauchte er wieder einige Zeit, um sich zu sammeln. Dann machte er das gewohnte Bocksgesicht und entgegnete auf nochmalige Aufforderung der Prinzessin, vor der noch immer die Lahme mit der Salbe stand, Folgendes: »Dieses Tippen und Betasten meines Kopfes setzte der Unmensch darauf regelmäßig fort, so oft er mich am Fenster sah.«

»Leider«, sagte die Lahme, »Sie mussten sich zuletzt in den Laden zurückziehen. Da er so frech war, auch hier einzudringen, unter dem Vorwand, Ihren frischen Kaviar …«

»Ich hatte nämlich in der Zeitung eine Sendung frischen Kaviar angezeigt«, berichtigte der Delikatessenhändler. »Mit den Worten ›Guten Morgen, Alterchen, ich lese da eben von Ihrem delikaten Kaviar, lassen Sie doch einmal sehen. Ich bekomme auch Appetit darauf‹ trat der Mann des Schreckens einschmeichelnd ein. Ich bückte mich mit der Arglosigkeit eines frommen Menschen, der nicht die List eines verschlagenen Teufels kennt, zu der Tonne hinab und nahm zu seiner Ansicht den Deckel herunter. Leise schob nun der Nathanael die Hand von hinten unter meine Mühe, so dass sie gradeswegs auf die Ware in das Fass fiel; mit der größten Gleichgültigkeit nahm er dann seinen mächtigen Bambusstock und stieß diese meine beste Mütze in den Kaviar hinein, so dass sie wie verschwunden war. – Gott, mir wird wieder ohnmächtig, der Unmensch!« und der durch die Erzählung angegriffene Herr Morlet verdrehte die Augen.

Die Lahme hinkte zu ihrem Herrn, indem sie nach einem Flacon mit einer belebenden Essenz griff und ihm solches unter die Nase hielt: »Da riechen Sie, so – ziehen Sie derb ein, es riecht kräftig und schön, es wird Ihnen helfen.«

»Und was erfolgte nun«, fragte Judith, die ein lautes Lachen mit Mühe zurückhielt.

»Ja denken Sie sich, meine Beste, denn ich war auch zugegen«, erzählte die Lahme weiter, indem sie fortfuhr, dem halbohnmächtigen Herrn den Flacon unter die Nase zu halten. Dann ergriff der Herr Simmrod eine Handvoll Kaviar aus der Tonne und klatschte diese ausgezeichnete Ware meines Herrn oben auf seinen nackten Kopf mit den Worten, die ich nie vergesse: Alterchen, Sie haben da das beste Mittel für Ihren Tanzboden selbst im Kasten. Mit diesen Worten platzte er in ein teuflisches Lachen aus und klirrte mit einem höflichen guten Morgen wie eine Schwadron Dragoner ab. Von nun an ließ sich mein Herr jedes Mal in seinem Hinterstübchen einschließen, so oft der böse Mensch in seiner Nähe war. So trieb er es lange fort, indem er nächtlich umging, mitunter weit nach Mitternacht, oft nach dem ersten Hahnenschrei nach Haus kam, schreckliche Lieder sang, dass es im Haus schauerlich widerklang, oft auch gar nicht ausging, hin und wieder plötzlich in seinen diabolischen Mörser stieß, dass das Haus zitterte, und dergleichen mehr.«

Der Delikatessenhändler, welcher sich wieder erholt und die letzten Worte der Erzählung der kleinen Lahmen mit angehört hatte, fuhr darauf fort: »Oft hatte er sogar nächtliche Besuche von noch anderen Teufeln, hu! Es schaudert mich, die sich in Form von Frauenzimmern einzuschleichen suchten oder die der polternde Geist selbst mitbrachte, in der Regel eine, oft auch mehrere angebliche weibliche Personen zugleich. In solchen Fällen nahm das Tanzen und Rumoren kein Ende, als ob sie um einen heißen Hexenbrei hüpften. Ja einstmals, da ich mich auf eine so notwendige Weise in mein Hinterstübchen bei seiner Annäherung zurückgezogen hatte, trat sein dienstbarer Teufel, der Bursche, mit einem lammfrommen Gesicht in meinen Laden und forderte mich auf, zu seinem Herrn zu kommen, weil derselbe wichtige und sehr dringende Geschäfte mit mir abzumachen habe. Ich fürchtete mit Recht Unheil und sagte, ob es nicht durch ihn, verstehen Sie, Missis, durch den Burschen, abzumachen sei.

›Nein‹, sagte der schlaue Abgesandte, ›mein guter Herr Major haben, abgesehen von der Dringlichkeit des Geschäfts, ein wahres Verlangen nach Ihnen. Ich glaube, er wird Ihnen etwas abzubitten haben.‹

Durch diese süßen Worte ließ ich mich fangen. Wird er dir etwas abbitten, sagte ich zu mir, so wirst du auch keine neuen Schandtaten zu fürchten haben. Ich machte mich also ein bisschen zurecht, zog bescheiden an seiner Klingelschnur und trat bei meinem Mieter ein, nachdem der genannte Bursche mir mit gebührender Achtung die Flügeltüren geöffnet hatte. Der kecke Besitzer meiner Zimmer saß in einem buntgeblümten Schlafrock auf einem Kanapee, mit bloßer Brust, die so rau wie die eines Bären war.

›Guten Morgen, Alterchen‹, hob er mit süßlicher Stimme an. ›Ich habe kaum geglaubt, dass Sie mir verzeihen könnten.‹

Dann nahm er mich bei der Hand und zog mich neben sich auf das Kanapee hin.

›Ich habe mancherlei mit Ihnen abzumachen; aber eins nach dem andern, denn Ordnung muss stets vorherrschen.‹

Ich muss bemerken, dass ich aus Bescheidenheit meine Mütze in der Hand hatte.

Er blickte meinen Kopf an, sein Blick erheiterte sich und dann sagte er, plötzlich wieder traurig werdend: ›Haben Sie noch immer Kopfschmerzen?‹

›Nein, ganz und gar nicht, Herr Major‹, erwiderte ich, ›ich habe nie an dergleichen Übel gelitten, Gott sei gedankt.‹

In dem anderen Zimmer wurde plötzlich dreimal so heftig in einen Mörser gestoßen, dass ich zusammenfuhr.

›Erschrecken Sie nicht, Alterchen‹, sprach er dann mit einschmeichelndem Ton weiter. ›Sie fühlen nichts von Ihren Leiden? Desto schlimmer! Meine Studien und Erfahrungen haben mich gelehrt, dass ein Leiden umso schrecklicher ist, je weniger ein Subjekt dasselbe empfindet. Sie haben eine Wasserblase im Kopf. Indessen ist Ihnen ganz einfach durch eine Sympathie zu helfen!‹

Ich dachte an den juristischen, unergründlichen Schleier, der ihn umgab, an die augenblickliche Gewalt, die er über mich hatte, an die ungeheure Kraft des Diebsfingers des Schmieds aus der Kolonie und das erste Mal in meinem Leben an die etwaige Möglichkeit, meinen Kopf verkleinert zu sehen. Ich ließ ihn gewähren, als er ohne Weiteres meinen Kopf in seinen Arm nahm.

Er murmelte, hauchte und kitzelte mir auf den Kopf, dass es juckte; da wollte ich mich rühren.

›Halten Sie still, Unglücklicher!‹, rief er und schrieb mit frecher Hand mittelst eines Pinsels, den er in eine unauslöschliche Farbe tauchte – was ich aber damals noch nicht wusste – mir in leserlicher Schrift das Wort Tanzboden auf meinen Schädel. Dann schüttete er mir aus einer Sandbüchse Streusand darüber, blies in dreimaligen gewichtigen Zügen denselben weg und hieß mich unter seiner Unterstützung die Mütze wieder aufsetzen.

Dann fuhr der Bösewicht also fort: ›Dies war nur die Einleitung. Nun muss das Wasser Ihres Gehirns abgezapft werden. Ich werde Ihnen ein Loch in das Gewölbe hineinbohren, eine Opferschale darunter halten und Sie, Alterchen, werden es mit eigenen Augen abfließen sehen.‹

Mit diesen Worten griff der Unmensch nach einem großen Bohrer, den er schon auf dem Tisch zu liegen hatte, und schickte sich an, mich anzubohren, indem er nach einer Schale griff und sich den rechten Ärmel aufstreifte.«

Nach diesen Worten bog sich der Delikatessenhändler erschöpft zurück.

Die Lahme fuhr fort: »Mein Herr floh mit solcher Hast, dass er mit einem Fuß aus seinem Pelzstiefel fuhr, der bei dem Major zurückblieb, und auf einem Socken beinahe tot in seinen Laden stürzte.«

»Und was wurde nun weiter?«, fragte Judith.

»Ich musste von nun an meinen armen Herrn vor diesem Ungeheuer förmlich unter Schloss und Riegel halten. Er kam nur aus seinem Versteck«, sagte die lahme Wirtschafterin, sobald er sicher wusste, dass unser Peiniger fort war.

»Endlich ließ ich ihm durch eine Gerichtsperson die Wohnung kündigen«, fuhr der Delikatessenhändler fort, »und das Ungeheuer hatte die Frechheit, sich mir geradeüber einzumieten, von wo aus er mich oft halbe Tage lang mit seinem diabolischen Blick anstiert und die ganze Straße beherrscht. Der Zusatz auf meinem Schild, »mit dem Tanzboden,« welches ein förmliches Gespött in der ganzen Stadt geworden ist, ist nicht auslöschbar und rührt von diesem Teufel her; denn so oft ich mit einer Leiter hinaufsteige und diese Schandworte wegwische, steht es am anderen Morgen mit noch größeren Buchstaben wieder da.«

»Was Sie mir da erzählt haben, lieber Mann«, sagte Judith, »tut mir sehr leid, weil Sie so unschuldig leiden müssen. Beginnt denn der Friedensrichter nichts dagegen?«

»So oft ich zu ihm gelaufen bin, hieß es: ›Guter Mann, beruhigen Sie sich, es wird besser werden.‹ Und dennoch bleibt es immer beim Alten. Sie sehen, Missis, dass diese Plage der Menschheit buchstäblich fast die ganze Welt beherrscht.«

»Selbst mich«, sagte die Lahme, »ließ er nicht in Ruhe, als er bei seinem Ausziehen Abschied nahm. Als er mir ein Douceur gegeben hatte und förmlich wegen seiner kleinen Neckereien, wie er seine Untaten nannte, Abbitte getan hatte, glitt, denken Sie sich, die freche Hand des Niederträchtigen mir unter – ja, warum sollte ich es vor einem Frauenzimmer und meinem Herrn nicht sagen – glitt die Hand des Niederträchtigen unter meine Perücke. Er fragte leise, mit einem teuflischen Lächeln, dass mir das Blut ins Gesicht stieg: ›Nun, gute Seele, haben Sie auch schon einen Tanzboden?‹ Er verschob mir die Perücke in dem Maße, dass sie kaum noch auf einem Ohr balancierte.«

Bei diesen Worten wurde die kleine Lahme wie eine Furie, ergriff den Besen wieder und rief: »Aber du Schänder der Unschuld einer armen Frau, wenn ich dich einmal abrauen werde!«

In diesem Augenblick sah der Mann in der kurzen Weste mit seinem lächelnden, verliebten Gesicht wieder durch das Fenster. Sowie die kleine Lahme ihn bemerkte, hielt sie ihren Besenstiel wie ein gefälltes Gewehr, hinkte auf einem Bein, was sie immer tat, wenn sie sich schnell fortbewegen wollte, und stieß dem verliebten Herrn die Fensterscheibe ins Gesicht, indem sie rief: »Da, Satan!«

In diesem Augenblick ertönte die Türklingel und Doktor Simon trat ein. Nachdem Judith ihm gesagt, dass ein Brief für ihn angekommen sei und noch einige geheime Worte mit ihm gewechselt hatte, setzte sie sich in einen Fiaker, um abzufahren.