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Der Detektiv – Die tote Lady Rockwell – 2. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Die tote Lady Rockwell

2. Kapitel

Die Türme des Schweigens

Sir Worbster stieß nun eine höhnische Lache aus, fasste in die Nasenlöcher, holte dicke Stöpsel von rosa Watte heraus, die seinem Riechorgan die Knollenform verliehen hatten, entfernte den falschen Bart und die Perücke und zeigte uns so ein völlig unbekanntes, nun natürlich ganz verändertes Gesicht.

Mit ironischer Überhöflichkeit verbeugte er sich vor Harst und sagte: »Sie gestatten, dass ich mich vorstelle: Reginald Wallace, Bombayer Generalvertreter des sehr ehrenwerten Master Cecil Warbatty. Ich bin leider erst gestern von Colombo kommend wieder in Bombay eingetroffen. Sonst hätte ich Warbatty und dem jetzt leider verhafteten Simpson so tatkräftige Hilfe geleistet, dass wir Sie, hochverehrter Master Harst, trotz all Ihrer Schlauheit für immer ausgeschaltet hätten, bevor Sie noch störend, wie es nun geschehen ist, eingreifen konnten. Jedenfalls bin ich Ihnen der lebende Beweis dafür, dass unser Herr und Meister Warbatty tatsächlich das Oberhaupt einer über die ganze Welt ausgebreiteten Verbrecherorganisation ist, die über Mitglieder verfügt, deren Intelligenz durchaus hinreicht, selbst Sie zu überlisten. Dieser Streich mit dem in aller Stille gekauften Rennboot wird wohl auch Ihre Anerkennung finden …«

»Nein«, erwiderte Harst mit aller Gemütsruhe. »Das tut er nicht. Ich argwöhnte sehr bald, dass wir hier in eine neue Falle geraten seien. Aber ich glaubte, Sie würden uns erst dicht vor Colombo zu überwältigen suchen. Bis dahin hoffte ich eben, Sie drei entwaffnen zu können. So liegt die Sache.«

»Weshalb hatten Sie denn Argwohn geschöpft, he?«

»Weil Ihr Bart bei genauem Hinsehen zu unecht wirkte, Master Wallace, und weil Ihre Manieren für einen englischen Baronet, dem die Anrede Sir gebührt, zu ungehobelt waren.«

»Da mögen Sie recht haben«, erwiderte Wallace. »Ich bin nämlich von Haus aus Londoner Hundefrisör und die haben ihr besonderes Anstandsbuch. Der Streich an sich findet Ihren Beifall, nicht wahr?«

Der Kerl war rein versessen darauf, von Harst gelobt zu werden.

Harst nickte. »Die Idee war gut. Nur die Ausführung entbehrte der nötigen Feinheit.«

»Na, dafür soll Ihr und Ihres Freundes Abschied von diesem schönen Dasein desto feiner sein!«

Er ließ uns auch die Fußgelenke zusammenbinden. Dann setzte das Boot seine Fahrt fort. Es wurde dunkel. Der Himmel bewölkte sich. Gegen Abend legte das schnelle Fahrzeug irgendwo an Land an. Wo, war nicht zu erkennen, denn es regnete nun in Strömen.

Wir waren häufiger allein miteinander in der Kajüte geblieben. Als ich bei einer solchen Gelegenheit zu Harst sagte, ich hielte unsere Lage für recht verzweifelt, schüttelte er den Kopf.

»Nicht so schlimm, wie du denkst, lieber Schraut!«, flüsterte er. »Du darfst nicht vergessen, dass ich die ganze Geschichte schon durchschaute, als Anderson das Telefongespräch mit dem reichen Parsen gehabt hatte. Nur in einem – nein zwei Punkten hatte ich mich geirrt: Erstens vermutete ich Warbatty hier an Bord zu finden. Und zweitens, na, das sagte ich ja bereits diesem Wallace, eben dass ich geglaubt habe, wir sollten erst dicht vor Colombo überwältigt werden. Sieh mal, es war doch zu auffällig, dass ausgerechnet gleich nach unserem Besuch bei Dau Sabli das Boot in andere Hände überging. Hier an Bord erhielt ich dann die Bestätigung meiner Mutmaßungen durch Wallaces schlechte Maske, die wohl einen anderen aber nicht mich täuschen konnte.«

»Hm«, wagte ich einzuwenden, »ich begreife nur nicht, weshalb unsere Lage dir nicht gefährlich dünkt. Es macht doch nichts aus, dass du sofort Verdacht geschöpft hattest, und es dürfte …«

»Oho – macht nichts aus? Er lächelte ein wenig. »Warte nur ab …«

Nachdem das Boot eine halbe Stunde irgendwo in ganz ruhigem Wasser stillgelegen und seine Backbordwand leise gegen das Holz einer von mir nur vermuteten Anlegebrücke gerieben hatte, betraten unsere drei Reisegefährten die Kajüte wieder und flößten uns zu meinem Entsetzen aus einer Flasche eine stark nach Mohn riechende Flüssigkeit ein. Ich wehrte mich verzweifelt. Doch die Schufte öffneten mir mit Gewalt den Mund, indem sie mir eine Messerklinge zwischen die Zahnreihen schoben. Harst hatte still gehalten, was ja auch verständiger gewesen war, denn mein Widerstand hatte mir nur blutige Lippen eingebracht.

Wallace musterte uns jetzt beim Licht einer großen Laterne mit teuflischem Hohn.

»So«, meinte er, »nun werdet Ihr in Kurzem in einen Zustand kurzer Betäubung verfallen. Dann werden wir euch beide, nachdem wir die beiden Wächter des südlichsten der Türme des Schweigens stumm gemacht haben, oben auf die schräge Plattform tragen, dort niederlegen und den Hunderten von Geiern, die schon wissen, was sie zu tun haben, das Weitere überlassen …«

Ich schrie unwillkürlich vor herzzerfressender Angst laut auf, was Wallace zu dem Zusatz veranlasste: »Oh, du kannst auch nachher oben auf dem Turm so laut brüllen, wie du nur willst. Das Gekreische der um ihre Beute streitenden Geier übertönt selbst die kräftigste menschliche Stimme.«

Dann fühlte ich, wie mir die Sinne schwanden. Erst begann sich alles um mich her in wildem Wirbel zu drehen. Ich selbst schien ein Kreisel zu sein, der in eine endlose Tiefe stürzte. Noch ein letzter Schrei entrang sich meinen Lippen. Dann verlor ich das Bewusstsein.

Ich will mich hier nicht mit einer genauen Beschreibung der für unser deutsches Empfinden so grässlichen Leichenbestattungsart der Parsen und der dazugehörigen fünf Türme aufhalten. Der Leser, der einmal Gelegenheit hat, das Berliner Museum für Völkerkunde zu besuchen, findet dort ein genaues Modell der berühmten Türme und der sie umgebenden gärtnerischen Anlagen. Diese leiden jedoch sehr durch die Exkremente der unzähligen Aasgeier, die ständig auf den Bäumen sitzen und mit scharfem Auge achtgeben, ob ein neuer Toter auf die Türme getragen wird, von deren trichterförmiger Plattform der Regen die abgenagten Gebeine dann in das Innere hineinspült – in der Tat wohl das Schauerlichste von Beerdigungsart, das es nur irgend gibt.

Ich kam wieder zu mir. Ich hätte gewünscht, Warbatty wäre an meiner und Wallace an Harsts Stelle an diesem Ort des Grauens gewesen. Den beiden hätte ich das gegönnt, was wir nun während einer geradezu fürchterlichen Viertelstunde erlebten.

Man stelle sich vor, dass doch schon der Gedanke, sich an einem solchen Ort des Schreckens zu befinden, einem das Blut in den Adern gerinnen lassen kann. Dann aber die Wirklichkeit! Gewiss, es hatte am Spätabend einen wolkenbruchartigen Regen gegeben, der die bereits zu Gerippen entblößten Leichen mit in das Innere des Turmes gerissen hatte. Nicht mitfortgeschwemmt hatten die Wassermassen jedoch etwa zehn Tote, die sämtlich völlig unbekleidet und bereits in entsetzlichster Weise entstellt um uns herum lagen. Man denke weiter: Der Himmel war nun sternenklar. Die tropische Nacht mit ihrem Halbdunkel ließ uns also nicht nur diese Leichenreste, sondern auch die Scharen von Geiern dicht über uns erkennen, die der zum Glück noch zur rechten Zeit wiedererwachte Harst durch die Bewegungen seines Oberkörpers verscheucht hatte, hunderte dieser widerwärtigen, frechen Vögel, die trotzdem stets von Neuem auf uns herabstießen, die die Luft mit ihrem ohrbetäubenden Gekreische erfüllten und die unsere Kleider mit ihrem Kot beschmutzten.

Man stelle sich das alles vor und man wird begreifen, dass, als ich zu mir kam, als ich mich aufrichtete, als Harst mir zurief, Stillsitzen, sonst kommst du ins Rutschen, meine Haut sich im Moment mit eisigem Schweiß bedeckte, dass ich beinahe erneut bewusstlos umgesunken wäre!

Und doch: Als ich dann in Harsts ernstes, aber durchaus nicht verzweifeltes Gesicht geschaut hatte, als er mir zunickte und tröstend sagte, Mut, mein Alter, Mut, Inspektor Greazer wird schon zur rechten Zeit erscheinen, da wurde ich mit einem Mal ganz ruhig. Da half ich Harst, durch hastiges Hin- und Herschaukeln des Oberleibes die Aasgeier von uns fernzuhalten. Doch die geflügelten Leichenfresser wussten nur zu gut, dass sie hier die Herren waren. Sie wurden frecher und frecher. Bald saßen sie scharenweise um die Toten herum, balgten sich um die Beute, flogen, sobald sie ein Stück erhascht hatten, mit dem ekelhaften Fraß zu den nächsten Bäumen.

Harst rutschte näher zu mir heran, setzte sich so, dass er mit seinen Fingern meine Handgelenke berühren konnte. Ich wusste, er wollte versuchen, die Drahtschlingen zu lösen.

Und es gelang ihm! Ich hatte plötzlich die Arme frei! Gleich darauf hatte ich auch seine Schlingen aufgedreht. Er befühlte seine Taschen.

»Ah, die Schufte sind ihrer Sache so sicher gewesen, dass sie uns sogar die Revolver belassen haben. Nur meine Papiere und meine Uhr fehlen, ebenso die Börse …«

Er zog sein Taschenmesser. Die Hanfstricke unserer Fußgelenke fielen durchschnitten herab. Dann hob er den Arm mit dem Revolver, drückte ab. Ein Geier sank schwerfällig in das Innere des Turmes, bewegte krampfhaft die Flügel. Ein zweiter folgte.

»Vorsicht!«, rief Harst. »Der Steinboden ist so schlüpfrig, dass wir leicht ausgleiten können …«

Glücklich erreichten wir die Außentreppe des Turmes.

Ein Zufall war es, dass gerade in diesem Moment vier Männer in wildem Galopp den Hauptweg durch die Anlagen entlangkamen – als Vorderster der Bombayer Detektivinspektor Greazer, unser alter Bekannter.

Bei unserem Anblick stutzte er. Dann eilte er auf Harst zu, presste dessen Hände vor Freude. »Gott sei Dank, Sie leben noch! Oh, Sie ahnen nicht, wie wir gerannt sind!« Er keuchte und der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht.

Dann erfuhr ich auch, weshalb Harst unsere Lage so zuversichtlich beurteilt hatte. Ihm war tatsächlich sofort der Verdacht gekommen, dass der Verkauf des Rennbootes ein neuer Trick Warbattys sein könnte. Daher hatte er heimlich an Greazer einen Brief geschickt und ihn gebeten, unser Fahrzeug durch ein anderes Rennboot, welches vorausfahren und uns auf hoher See erwarten sollte, beobachten zu lassen, da er gehofft hatte, auf diese Weise Warbatty irgendwie noch vor Colombo abfassen zu können. In den Schleiern des Regens hatte das andere Boot uns jedoch aus dem Blick verloren. Immerhin war aus dem Kurs unseres Fahrzeugs ersichtlich gewesen, dass wir auf die Halbinsel Malabar Hill von Süden her zusteuerten. Greazer hatte dann kaum von dem Führer des uns verfolgenden Bootes die Meldung erhalten, wir befänden uns wahrscheinlich nun auf Malabar Hill, als er sofort mit zwanzig Leuten eine Razzia am Strand entlang vornahm, dabei unser Rennboot fand und dessen völlig überraschte Besatzung in der engen Bucht, weil sie sich zur Wehr setzte, zusammenschießen ließ. Der schwerverwundete Maschinist hatte, um sein Leben zu retten, dann verraten, wohin wir geschleppt worden waren.

Dies war der Ausgang unseres Abenteuers auf den Türmen des Schweigens.

Zwei Stunden später – etwa um ein Uhr morgens – verließen wir mit demselben Rennboot, begleitet vom Maschinisten des Parsen Dau Sabli, den dieser uns zur Verfügung gestellt hatte, die kleine Bucht der Halbinsel nach herzlichem Abschied von Greazer und seinen Beamten.

Wallace war tot. Achmed, Gott weiß, ob sie wirklich so hießen, hatte einen Bauchschuss und starb gleichfalls später. Nur der Mischling blieb am Leben und kam mit einer kurzen Gefängnisstrafe gnädig ab, wie Greazer an Harst nach Wochen schrieb. Über Warbatty hatte der Maschinist jedoch nichts angeben können. Er war nur von Wallace für die eine Fahrt durch eine hohe Geldsumme angeworben worden.