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Aus dem Wigwam – Die Schlangen-Squaw

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Vierzig Sagen
Mitgeteilt von Chingorikhoor

Die Schlangen-Squaw

uf dem Gerundewaghberg lebten einst vierundzwanzig Männer und ebenso viele Frauen in Liebe und Eintracht beisammen. Zank und Krieg waren damals noch nicht erfunden. Auch gab es nur eine einzige Sprache, welche jedem leicht verständlich war.

Als diese vierundzwanzig Paare, von denen alle anderen Indianerstämme der Welt abstammten, einst rauchend und scherzend auf ihrer heimatlichen Anhöhe saßen, sagte einer, der die schärfsten Augen hatte, dass er merkwürdige, dicken Baumstämmen ähnliche Gestalten herankriechen sähe. Was es aber eigentlich sei, könnte er sich nicht gut denken. Allmählich bemerkten es auch die anderen. Je länger sie hinsahen, desto deutlicher erkannten sie die drohende Gefahr, denn eine unabsehbare Herde furchtbarer Schlangen kroch heran und verschlang alle Menschen, die ihr in den Weg kamen. Was war da zu tun? Fliehen wäre feige und sicherlich auch nutzlos gewesen, da die Schlangen flinker waren. So blieb denn nichts anderes übrig, als den Berg in aller Eile zu befestigen und sich in Verteidigungszustand zu setzen.

Kaum waren sie damit fertig, so sahen sie ihre Todfeinde auch schon vor den Mauern liegen. Da es diesen nun nicht gelang, sich einen Eingang zu erzwingen, so verpesteten sie die Luft mit ihrem giftigen Atem, wodurch sie jene bisher unbekannte Krankheit, die das Haar bleicht, die Zähne lockert, das Auge verdunkelt und zuletzt den Tod herbeiführt, erzeugten.

Unsere vierundzwanzig Helden aber fürchteten sich vor nichts und schossen einen wahren Regen von Pfeilen auf sie ab. Doch dies war vergebens, denn der Schuppenpanzer der Schlangen war undurchdringlich.

Da war nun guter Rat teuer. Die Schlangen vermochten zwar nicht ihre Festung zu erklettern, aber die armen Indianer konnten auch nicht heraus und ihre in der Eile zusammengerafften Lebensmittel waren bald aufgezehrt. Endlich zwang die Not mehrere, sich vor die Mauer zu wagen, um die Belagerer mit Speeren zu verscheuchen, aber jene ließen sie ganz ruhig herankommen und schnappten sie wie die Fliegen weg.

Zuletzt blieben nur noch zehn Frauen und elf Männer übrig, und dieser elfte Mann kam auf einen klugen Gedanken. Er hatte nämlich eine Schlange mit blendenden Augen bemerkt und aus ihrem selbstgefälligen, eitlen Spiegeln im nahen See geschlossen, dass es eine Frau sein müsse.

»Wenn ich nur die Zeit wüsste«, sagte er, »wenn ihr Gemahl schläft, so ging ich gleich zu ihr und machte ihr einen Liebesantrag.«

Er verstand sich nämlich gründlich auf den Umgang mit dem weiblichen Geschlecht, wusste ganz genau den Augenblick, wenn ein Seufzer oder ein schmachtender Blick angebracht war oder wenn man den Beleidigten zu spielen habe, und war somit gerade der rechte Mann.

So oft er nun den Ehegemahl im Schlaf wähnte und die Frau sichtbar war, stellte er sich auf die Festungsmauer und blickte so zärtlich zu ihr hinunter, wie er nur vermochte. Dann seufzte er und winkte ihr. Sie schüttelte eben­falls ihren Kopf und drehte ihn dann seitwärts, um ohne Gefahr für ihren Geliebten vernehmlich seufzen zu können, denn ihr Atem war kein Blumenduft. Der elfte Mann hatte sich also nicht geirrt, aber über die Mauer ge­traute er sich fürs Erste doch noch nicht, denn wie leicht hätte es der Fall sein können, dass sie sich nur liebenswürdig zeigte, um ihn herauszulocken?

Doch da kein Bröcklein Speise mehr vorhanden war, so musste sich der Verliebte endlich auch zu diesem Wagestück auf Glück und Unglück entschließen. Er nahm also seine Waffen und machte sich auf den Weg. Der Alte lag glücklicherweise in tiefem Schlaf, sodass sich seine Frau weiter keinen Zwang anzutun brauchte. Und das tat sie denn auch nicht, denn sie umhalste den ersehnten Geliebten zärtlich mit ihrem Schwanz und gab ihm unzählige Küsse. Danach schworen sie sich ewige Liebe, doch da gähnte der Alte. Dieser verhasste Alte! Wenn er nun plötzlich erwacht wäre! Bald war auch das nötige Mittel gefunden, seinen Schlaf zu einem ewigen zu machen. Die Schlangen-Squaw sagte ihm nämlich, er solle seine Pfeile in das Gift ihres Schwanzes tauchen und ihm dann einen in ein Auge schießen. Er vergiftete also seine sämtlichen Pfeile und zog sich in die Festung zurück. Dann legte er auf den Alten an. Im nächsten Augenblick sprang er hoch auf und fiel leblos zur Erde nieder. Der zweite Pfeil traf mit demselben Erfolg seine Frau. Als dies die übrigen Schlangen sahen, flohen sie so schnell wie sie nur konnten.

So wurden die elf Männer und die zehn Frauen befreit. Was aber das Merkwürdigste war, der Atem der Schlangen hatte solchen Einfluss auf die Luft gehabt, dass niemand mehr des anderen Sprache verstand. Auf diese Art entstanden die verschiedenen Sprachen.