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Aus dem Wigwam – Eine Sage der kalifornischen Indianer

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Vierzig Sagen
Mitgeteilt von Chingorikhoor

Eine Sage der kalifornischen Indianer

achdem die beiden großen Geister, welche alle Dinge erschaffen, mit ihrer Arbeit zu Ende waren und die Erde vollendet und mit dem Tierreich bevölkert hatten, probierten sie von ihren Anstrengungen aus. Der Ältere stieg wieder zum Himmel hinauf und der Jüngere blieb auf der Erde zurück. Die Abwesenheit seines Bruders machte Letzterem indessen den Aufenthalt mit der Zeit langweilig, sodass er sich zum Zeitvertreib aus Erde eine Anzahl Söhne in menschlicher Gestalt zusammenknetete. Er flößte denselben Leben ein, wohnte mit ihnen und verbrachte angenehme Tage mit denselben in verschiedentlichem Zeitvertreib, hauptsächlich, indem er ihnen Unterricht erteilte.

Zu dieser Zeit war auch der Mond ein Bewohner der Erde, und jede Nacht, wenn der Vater sich mit seinen Söhnen in ihre Wohnungen zurückgezogen hatte, kam der Mond und hielt am Eingang Wache. In den Herzen der Kinder entwickelte sich bald eine Zuneigung für den Mond, die sich rasch zur innigsten Liebe ausbildete. Glückseligkeit war aller Los. Während die Kinder bei Tag den Unterricht ihres Vaters empfingen, wurde ihnen bei Nacht die aufmerksamste Sorge ihres Begleiters und Beschützers, des lieben Mondes, zuteil.

Dieser Zustand ungetrübten Glücks wurde einstmals unterbrochen, als die Söhne die Entdeckung machten, dass der Vater anfing, seine Liebe und Zuneigung weniger ihnen als dem nächtlichen Hüter gegenüber auszulassen. Ja, der Vater vernachlässigte seine Söhne oft so weit, dass er häufig ihr Schlafgemach verließ, ganze Nächte im Genuss des Lichtes des Mondes zubrachte und mit dem Letzteren tändelte. Es waren nicht viele Monate vergangen, als sich in den Handlungen des Mondes eine gewisse Furchtsamkeit und Zurückgezogenheit bemerkbar machte, was unter den Söhnen ein großes Herzeleid verursachte.

Der Söhne Gedanken bei Tag und ihre Träume bei Nacht kamen immer wieder auf das sonderbare Benehmen des Mondes zurück. Es währte nicht lange, bis ihr Schmerz in vollständige Verzweiflung ausartete. In einer Nacht wurden sie plötzlich durch einen vorher nie gehörten Schrei aufgeweckt. Sie befanden sich nicht allein in völliger Finsternis, sondern waren auch verlassen von ihrem Vater. Den Rest der Nacht brachten sie in Tränen und Klagen über ihre verlassene hilflose Lage zu, bis die ersten Morgenstrahlen die Dunkelheit verscheuchte. Da erblickten sie an der Türschwelle ein neugeborenes Kind, aber ihr Vater, der Geist, war fort und konnte nirgends mehr gefunden werden.

Inmitten ihrer Sorge und Betrübnis widmeten sie sich der Pflege des hilflosen Kindes. Der erste Tag war ein langer und mühseliger für sie, der erste ohne die gewohnte schützende Sorge ihres Vaters. Und Leid, Traurigkeit und Angst ging der Tag vorüber. Als die Schatten des Mondes sich einstellten, sahen sie den vollen errötenden Mond, ein blühendes Mädchen, in ein goldenes Kleinkleid gefüllt, den östlichen Horizont emporsteigen und seinen Thron inmitten des Himmelszeltes aufschlagen. Bei diesem majestätischen Anblick erfüllte wieder Freude ihre Herzen. In fröhlicher Hingebung übernahmen sie die Pflege und Erziehung des Pfandes, welches ihnen durch den Großen Geist und den Mond zurückgelassen wurde, als beide von der Erde wieder zum Himmel emporstiegen. Mit unermüdlicher Sorgfalt und Liebe wurde so das erste weibliche Kind aufgebracht. Frisch wie der Morgen und schön wie das Licht.

Die periodische Wiederkehr des Mondes mit seinem goldenen Glanz wird seitdem stets mit Entzücken begrüßt, zum Angedenken an seine frühere Sorge für das Wohl der Erdensöhne, und zugleich in den kindlichen Dankgefühl gegen die Mutter der menschlichen Familie. Und wie die Mutter so sind auch alle nachfolgenden Töchter verehrt, und die Unbeständigkeit und auch die Liebe zu glänzen sind ihnen ebenfalls eigen geblieben wie die Liebe der Erdensöhne.