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Der Detektiv – Die Schmuggler von Palermo – 2. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient

Die Schmuggler von Palermo

2. Kapitel

Wir waren gegen halb acht abends im Palazzo angelangt. Um halb neun saßen wir bei offenen Fenstern beim Abendbrot. Den wackeligen Tisch hatten wir dicht an das mittlere Fenster gestellt.

Harst schob seinen Teller zurück und holte aus dem Futter seines Rocks die bereits erwähnte Skizze dieses Stadtviertels hervor, breitete sie auf dem Tisch aus und flüsterte: »Du, schau her. Hier geht eine punktierte Linie von unserem Palazzo mitten durch den Park bis zu einem kleinen Viereck hin. Und an dieses Quadrat ist ein dickes Kreuz gemalt. Die Linie verläuft weiter nach Süden bis zu einem Haus in einer der neuen Straßen hart am Meer. Sie heißt Via Piccio. Die Punkte folgen nun der Küste und enden etwas nordwestlich von unserem Palazzo scheinbar auf freiem Feld. Das sagt uns die Skizze über Warbattys hiesige Pläne. Etwas wenig! Na, Morgen werden wir schon mehr wissen, hoffe ich mal. Jedenfalls dürfen wir bald feststellen, ob unser Gegner bereits gleichfalls hier eingetroffen ist, nachdem er mir vor drei Tagen bei unserem ersten Renkontre leider so spurlos entschlüpfte.«

Er gähnte zwanglos. »Die Hitze im Zug war geradezu erschlaffend«, fuhr er fort und langte nach seiner Zigarettendose. »Wie gefällt dir der Graf? Ohne Frage ein anständiger Charakter. Der ältere Bruder Viktor dagegen scheint ein böses Früchtchen zu sein. Er hat den jüngeren, darüber besteht kein Zweifel, nur deswegen mit seinen Eltern entzweien wollen, um alleiniger Erbe der großen gräflichen Besitzungen zu werden, die man hier Latifundien nennt. Ich bin auf unsere Landsmännin recht gespannt, auf die Gräfin Gertrud Leonforte, geborene Schmidt. Schmidt! Wie heimatlich das klingt!« Er gähnte wieder, stand dann auf, schaute zum Fenster hinaus. »Das Meer brandet recht stark, lieber Maxim«, meinte er. »Die Abendröte ist herrlich. Und«, er sprach leiser, »man kann ganz bequem durch die Fenster aus- und einsteigen. Sehr wertvoll.«

Ich stellte mich neben ihn. Durch die Bäume zur See hin war eine breite Lücke geschlagen; in Gestalt einer von Zypressen eingefassten Allee. Diese sah genauso verwahrlost aus, wie alles hier.

Plötzlich sagte Harst: »Ah, wie unangenehm, dort kommt ein Kollege von uns die Allee entlang mit Malkasten und Staffelei. Sehr unangenehm! Wenn der Mensch gar ebenfalls hier in dieser Ruine gastiert, wird es uns höllisch schwerfallen, unsere Rollen als Maler leidlich echt durchzuführen oder aber wir müssen gerade die Übermodernen spielen und zum Schein unsere Leinwand mit etwas beklecksen, das ebenso gut eine Kuh, eine Landschaft oder ein Stillleben sein kann. Entfernen wir uns vom Fenster. Der dicke Kollege da braucht nicht gerade heute schon auf uns aufmerksam zu werden.«

Wir traten zurück, drehten uns gleichzeitig um, zuckten auch beide überrascht, wohl gar etwas erschrocken zusammen, denn hinter unserem Abendbrottisch stand eine schlanke blonde Frau in einem dunklen Kleid, eine Frau mit abschreckend magerem Gesicht, in dem ein Paar große dunkle Augen krankhaft leuchteten wie die einer Fiebernden.

Sie trug das hellblonde reiche Haar in losem Knoten aufgesteckt, darin einen langen Haarpfeil aus Bronze in Form eines dünnen, leicht gebogenen Dolchs. Die Abendröte umfloss ihre Gestalt mit rosigem Glanz und täuschte auf den eingefallenen Wangen eine sanfte Röte vor. Trotzdem erkannte man sofort, dass diese junge Frau eine Schwerkranke war; dass sie mit zu den vielen anderen Unglücklichen gehörte, die hier in der milden Winterluft Palermos Heilung oder doch wenigstens eine Verzögerung ihres Leidens erhoffen, genau wie alle die, denen man in den Schweizer Winterkurorten begegnet und deren Lungen gleichfalls von diesem winzigen Feind der Menschheit, dem Tuberkelbazillus, verheert werden.

Wer diese Frau war, darüber gab es keinen Zweifel. Wir verbeugten uns denn auch tief, und Harst schob ihr sofort den einzigen hier vorhandenen alten Ledersessel hin.

»Bitte, Frau Gräfin, nehmen Sie Platz. Sie gestatten: Mein Name ist Horn. Das dort ist mein Freund und Kollege Schaper. Ihr Gemahl war so liebenswürdig …« Er schwieg, denn die Kranke hatte sich matt in den Sessel sinken lassen und nun eine müde Handbewegung gemacht.

»Ich weiß alles, meine Herren«, sagte sie mit etwas heiserer Stimme. »Der gute Alfio, dies ist meines Mannes zweiter Vorname, ist so glücklich, dass es durch Ihre Güte ihm möglich geworden ist, wieder einige Lebensmittel für mich einzukaufen. Entschuldigen Sie bitte, dass …« Sie hüstelte leise und presste dabei die Linke auf die Brust. »… dass ich hier ohne Weiteres eingedrungen bin.« Ihre Stimme wurde zum Flüstern. »Ich huschte schnell über den Flur; ich wollte mich nicht sehen lassen. Ich darf mein Bett nicht verlassen. Ich fand Ihre Tür nicht verriegelt und …« Bei den letzten Worten hatte sie in den Schoß geschaut. »… und trat ein. Mein Klopfen haben Sie wohl überhört.«

Abermals das röchelnde Hüsteln. Harst warf mir einen langen Blick zu.

Seine Augen wanderten dann zu der Tür des Zimmers. Und da besann ich mich: Harst hatte sie vorhin verriegelt, bevor er auf die Skizze zu sprechen kam. Ah, die Gräfin hatte also soeben ein wenig die Unwahrheit gesagt. Sie konnte nicht vom Hausflur aus bei uns eingetreten sein, selbst nicht durch das Schlafzimmer, dessen Flurtür ja durch das eine Bett verstellt war.

Mein Gesicht musste wohl Harst meine Gedanken verraten haben. Denn nun wanderte sein Blick nach links hin, wo eine durch einen mächtigen Eichenschrank verdeckte Tür in die Räume des gräflichen Paares führte.

Dann sagte Harst schon: »Frau Gräfin, das bedarf doch wirklich keiner Entschuldigungen. Wir sind jetzt doch Hausgenossen, sozusagen Ihre Gäste, und da muss man etwas, zwangloser miteinander verkehren, um so ein wenig deutsche Gemütlichkeit zu erzielen. Wir, mein Freund und ich, sind jetzt zwar in Straßburg ansässig aber doch keine geborenen Elsässer, vielmehr in Pommern gebürtig. Deshalb könnten wir auch deutsch miteinander sprechen. Wir wollen jedoch bitte beim Italienischen bleiben, denn Schaper und ich möchten unsere mangelhaften Sprachkenntnisse gern ergänzen. So, Frau Gräfin, nun hoffe ich wissen Sie, dass wir ein paar Maler sind, die mit Ihnen und Ihrem Gatten sich auf recht freundschaftlichen Fuß stellen möchten. Und noch eins: Man kann uns Vertrauen schenken, Frau Gräfin! Wirklich! Ich nehme an, dass ein Anliegen besonderer Art Sie zu uns führt. Wenn eine Kranke heimlich ihr Bett verlässt und einen geheimen Zugang zu diesem Zimmer benutzt, so muss sie etwas sehr Schweres auf dem Herzen haben. Liebe Landsmännin erschrecken Sie nicht! Bleiben Sie ganz ruhig. Wir haben unsere Flurtür dort nämlich vorhin abgeschlossen. Also muss es wohl einen anderen Verbindungsweg zwischen Ihren Räumen und diesem Zimmer geben.«

Die Gräfin streckte Harst die abgezehrte Hand hin. »Ich danke Ihnen. Sie sind ein gütiger, ein guter Mensch. Ja, es gibt eine Verbindung zwischen unserem Schlafzimmer und diesem Gemach dort im Wandgetäfel.« Sie deutete etwas rechts neben den riesigen Eichenschrank. »Alfio kennt die Geheimtür nicht. Ich vertraue ihm gerade so etwas ungern an, denn er versucht mit allem Geld zu verdienen, nur um mich pflegen zu können. Ich entdeckte jene Tür zufällig beim Staubwischen vor zwei Monaten. Die Mauer dort ist fast zwei Meter dick, aber hohl. Und zwischen diesen Doppelwänden führt noch eine Treppe in die Tiefe. Alfio hätte nun sicher nachgeforscht, wo diese Treppe endet, vielleicht gehofft, Schätze oder sonst Wertvolles zu finden, und sich dabei womöglich Gefahren ausgesetzt. Ach, er liebt mich ja so, obwohl ich ihn doch nur unglücklich gemacht, in Armut gebracht habe! Er lebte früher ganz wie ein Nobili, und erst die Liebe zu mir …«

Sie begann zu schluchzen, fasste sich aber schnell und fuhr fort: »Auch jetzt ist er bereits wieder in der Stadt und spielt in einer Hafenspelunke Klavier. Oh, wie soll ich ihm all diese treue Sorge um mich je vergelten, ich, die ja doch bald sterben muss.« Sie sprach das Letzte ganz ruhig aus, wie jemand, der sich mit einem furchtbaren Geschick abgefunden hat.

Harst stand auf, holte ein sauberes Weinglas aus seinem Koffer und schenkte es für die Gräfin voll. Der dunkelgelbe Sizilianer Wein sah im Schein der Abendröte wie Blut aus. »Bitte, trinken Sie, Frau Gräfin. Und dann erleichtern Sie Ihr Herz ohne Scheu. Mir sind schon viele Geheimnisse mitgeteilt worden, und vielen seelisch Bedrückten habe ich helfen dürfen, nicht nur durch Geld oder dergleichen, nein, auch mit der Tat.«

Sie nickte. »Ach so freudig tue ich es! Ich stehe ja ganz allein da; ganz allein! Ich habe niemanden, dem ich das berichten könnte, was mich quält. Gewiss Olivella Oreto betet mich an. Aber sie ist ja nur ein lebenslustiges Fischermädel, die für solche Dinge kein Verständnis hätte. Vielleicht werden auch Sie mich belächeln, meine Herren, vielleicht meine durch die Krankheit erschöpften Nerven beschuldigen, mich genarrt zu haben. Doch trotzdem: Ich will Ihnen alles erzählen. Wir wohnen hier jetzt sechs Monate. Wir mussten diese vier Zimmer mieten, da der Besitzer des Palazzo daraus eine Wohnung gemacht hat. Sonst hätten wir uns mit zwei begnügt. Diese beiden, die Sie jetzt innehaben, gaben wir wiederholt an Ausländer ab. Zuerst hatten wir eine schwindsüchtige junge Französin mit ihrer Mutter als Mieter. Sie starb hier plötzlich. Dann kam ein amerikanisches Ehepaar. Er war Ingenieur und baute hier eine Maschinenfabrik. Dann erschien ein reicher Engländer, ein Sonderling, der stets mit den Fischern zum Fang aufs Meer fuhr. Er war unendlich lang und sehr dünn, dieser Master Reginald Swarter. Eines Morgens fanden wir dann hier auf dem Tisch einen Zettel von ihm, dass er in der Nacht abgereist sei. Tatsächlich fehlte sein Gepäck. Er hatte uns auch noch 900 Lire dagelassen. Mein Mann meinte, diese Art Abreise entspräche ganz Swarters sonstigen Schrullen. Und ich hätte dasselbe gedacht, wenn ich nicht in der Nacht, in der Swarter verschwand, bis zum Morgen von traurigen Gedanken gequält wach gelegen hätte. Und deshalb hörte ich auch genau um Mitternacht hier in diesem Gemach etwas wie einen kurzen gellenden Aufschrei. Die dicke Mauer lässt ja so leicht kein Geräusch durch. Aber es ist doch eben die geheime Verbindung zwischen den beiden Räumen vorhanden, das heißt, auf dieser Seite in der Wandtäfelung eine kleine niedrige Tür und bei uns drüben eine zweite, genauso gearbeitete. Und diese Türen …«

Harst nickte. »Gut, ich verstehe! Nun weiter, Frau Gräfin!«

»Ah, die Sache scheint Sie zu interessieren, Herr Horn. Leider kann ich aber zu diesem meinem Sorgenpunkt nichts angeben. Wir haben von Herrn Swarter nie mehr etwas gehört. Ich erzählte Alfio nichts von dem Schrei. Absichtlich nicht. Ich hätte ihm ja sonst von den Geheimtüren ebenfalls Mitteilung machen müssen, durch die der Schrei bis zu mir drang. Das war etwa vor einem Monat. Am Tag nach Swarters Abreise mietete ein österreichischer Maler nachmittags diese beiden Räume. Er hieß Sendling, Josef Sendling und war ein sehr netter und sehr humorvoller Mensch. Er blieb drei Wochen. Dann fuhr er nach Wien zurück. Ja denken Sie, und gerade als Alfio Sie beide vorhin hierhergebracht hatte und Sie eingezogen waren, schickte Sendling aus dem Hotel Imperial in Palermo durch einen Boten einen Brief und teilte uns mit, dass er die Zimmer wieder für 14 Tage belegen möchte. Nun wir gaben ihm natürlich den Bescheid, die Räume seien jetzt nicht zu haben.«

»Eine Frage, Frau Gräfin«, warf Harst ein. »Ist dieser Kollege von uns klein und dick?«

»Ja und er trägt das blonde Haar noch länger als Sie beide, dazu ist er stets unrasiert.«

»Dann haben wir ihn vorhin gesehen. Er kam die Allee entlang auf den Palazzo zu.«

»Oh, er wird sicher zu uns gewollt und bei uns geläutet haben. Fraglos hat er die Absicht, diese Zimmer sich um jeden Preis zu beschaffen, sie Ihnen sozusagen abzukaufen. Er fühlte sich hier so sehr wohl. Und er muss sehr reich sein. Auf Geld kommt es ihm nicht an für seine eigene Person. Bei all seiner Fröhlichkeit ist er doch wohl recht sehr Egoist. Nun er wird zu Oretos hinübergegangen sein. Mit Olivellas Vater hatte er sich angefreundet. Und Oretos werden ihm sagen, dass ich jetzt bettlägerig bin und …«

»Pst«, machte Harst da. »Still … ganz still!«

Inzwischen war die Abendröte erloschen und in dem großen Gemach war es dunkel geworden. Desto geisterhafter leuchtete das bleiche Gesicht der kranken Gräfin. Ihr Kopf hob sich über der Lehne des Sessels scharf ab und schien geradezu in der Luft zu schweben, während ihr dunkles Kleid mit dem tief braunen Sessel in eins zerfloss.