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Der Welt-Detektiv Band 6

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Diane Teil 2 – Kapitel 17

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts
Zweiter Teil

Siebzehntes Kapitel

Die nach dem Ölzweig ausgesendete Taube

Als der Trauungsakt vorüber war und die Glückwünschenden sich den Vermählten näherten, erschien auch Blanche von Sanneterre, um sich in die Arme Judiths zu werfen und ihr zuzuflüstern: »Mein Engel, wie schön sind Sie! Ist es erlaubt, so schön zu sein! Hier ist Blanche von Sanneterre, die Sie um Ihre Freundschaft bittet. Lassen Sie mich keine Fehlbitte tun. Ich bin gekommen, um Sie zu bewundern und zu lieben. Wie süß ist beides, wenn man es aus vollem Herzen tun kann. Ach«, setzte die Französin hinzu und drückte Judiths Hand, »ich habe das Bedürfnis, zu lieben. Ich muss ein Herz um mich wissen, das für mich pulsiert, für mich lebt! Ach!«

Judith neigte sich herab und beide Frauen küssten sich.

Graf Ernst stand dabei und seine Blicke bald auf die eine, bald auf die andere richtend, rief er halblaut: »Wie glücklich bin ich, die, die ich liebe, lieben sich untereinander! Welch ein schöneres Geschenk konnte der Himmel mir gewähren, als das Recht, um die Neigung zwei so edler Herzen werben zu dürfen, die sich selbst in Liebe zueinander entzünden!«

»O, Ernest ist ein trefflicher Mann!«, rief Blanche, Judiths Hand mit großer Leidenschaft ergreifend. »Wir wollen ihn beide glücklich machen. Wir wollen darin wetteifern, ihn zu den Seligsten der Sterblichen zu schaffen.«

»Madame, Sie sind eine zu gefährliche Nebenbuhlerin«, sagte Judith mit einiger Kälte, aber mit der größten Artigkeit.

»Ich – gefährlich! Ah! Par exemple!«, rief Blanche, indem sie sich, graziös schmollend, abwendete. »Ach, Madame, ich bin nie gefährlich gewesen. Ich war niemals eine Kokette; ja, ich besitze sogar so wenig Egoismus, dass ich selbst meine Freunde in die Arme liebenswürdiger Nebenbuhlerinnen führe. Ist es nicht so, Ernest? Sprechen Sie, sagen Sie die Wahrheit.«

Ernest förderte eine zierliche Antwort zu Tage. Unterdessen bemerkte Judith, dass zwei Augen mit finsterem, grübelndem Ausdruck auf sie gerichtet waren. Es waren Franz’ Blicke. Als sie ihn beachtete, verwandelte sich seine Miene schnell und nahmen den Charakter zärtlicher Schüchternheit an. Er allein hielt sich den ganzen Abend hindurch zurück, während alle anderen Gäste sich um das junge Paar drängten. Als der große, prachtvolle Saal von den Gruppen der Tanzenden gefüllt, von dem rauschenden Getöse der Musik widerhallte, als eine fürstliche Freigiebigkeit Erfrischungen verteilte und die reichen Tafeln bedeckte, als Jubel und Freude das alte Schloss durchlebte und ein Schwarm Bedienten in betressten Röcken die Treppen auf und nieder lief und Lärm und Freude in die entlegensten Räume brachte, als die Pechfackeln die dunkle nordische Winternacht mit flammenden Zungen durchleuchteten, gab es nur einen Bewohner dieses prachtvollen Schlosses, der von der allgemeinen Lust gesondert in tiefster Stille bei düsterem Licht einer einsamen Lampe saß und tiefsinnig seinem Gram unterlag. Es war der General. Stumm, zusammengebeugt, das Haupt auf den Arm gestützt, war er in ein kummervolles Grübeln versenkt, in eine anhaltende, unheilbare, aus dem tiefsten Grund der Seele aufsteigende Verdüsterung. Man sah es dieser gebrochenen Gestalt an, dass nichts Lebendiges sie mehr berührte, dass Gedanken, schwarz und entlegen, wie das Grab, dem sie entstiegen waren, den qualvoll ringenden Geist umfingen. Nach einer Weile Sinnens, gleichsam, als würde die Last zu schwer, sie ferner zu tragen, erhob er sich. In das Dunkel des Zimmers hinschreitend blieb er vor jenem bedeutungsvollen Gewehr stehen, dessen Existenz Judith mit einem so teuflischen Scharfblick entdeckt hatte. Er nahm es von der Wand. Es betrachtend, sagte er dumpf vor sich hin: »Du bist gebrochen, dunkler Schatten! Mit dieser Waffe trat ich dir entgegen, und dieselbe Waffe hat die Vergeltung heute gegen mich angelegt. Ach, ich bin tödlich getroffen. Ich habe die Schande in mein Haus genommen und die Unehre in meine Säle geführt. Ich habe den Namen meiner Väter geschändet. Du bist gebrochen, dunkler Schatten. Höre jetzt auf, mich zu quälen! Mache Friede mit mir!«

Er legte die Waffe hin und nahm wieder seinen Platz ein. Nach einer kleinen Weile klingelte er und gab dem eintretenden Diener einen Wink. Gleich darauf trat Simeon ein. Er wollte in seiner frechen Weise vorwärtsschreiten, doch ein gebietender Blick bannte ihn an die Tür.

»Ich habe mit Ihnen einige Worte zu sprechen. Es wird darauf ankommen, ob Sie meine Bedingungen annehmen.«

»O, Eure Exzellenz sind zu gütig …«

»Ihre Anklage ist Lüge.«

»Mais, monsieur comte …«

»Ist Lüge …!«

Simeon machte plötzlich eine tiefe Verbeugung. Indem er mit der Hand über den Mund fuhr, sagte er in einem leisen, schwirrenden Ton: »Ach, ich verstehe!«

»Sie sind des Diebstahls angeklagt und überwiesen«, fuhr der Graf fort. »Sie sind in meinen Händen. Sie haben sich eine freche Verleumdung erlaubt, eine Anklage, die Sie nicht beweisen können. Sie sind doppelt in meinen Händen.«

»Die ich nicht beweisen kann, Exzellenz?«

Des Grafen Antlitz nahm einen Zug von Stolz und Verachtung an, der in diesem Grad dem frechen Verbrecher noch nicht vorgekommen war. »Glauben Sie, dass ich Sie fürchte? Glauben Sie, dass der Zweck dieses Gesprächs ist, Ihr Schweigen mir zu erkaufen?«

Simeon stotterte etwas, das man nicht verstehen konnte, das aber fast wie eine Bejahung klang.

»Gehen Sie«, fuhr der Graf fort, »erzählen Sie, wem Sie wollen, Ihr Geschichtchen. Sehen Sie zu, ob man Ihnen zum Dank dafür eine trockene Brotrinde zuwirft.«

»O, Eure Exzellenz sind sehr mächtig!«, hob Simeon nach einer Pause an. »Ich weiß sehr wohl, dass ich ein übles Spiel hätte, allein die Rache – die Rache spornt mächtig. Wenn Sie wüssten, Herr Graf, wie ich beleidigt worden bin von dieser …« Er endete nicht, sondern legte den Finger auf den Mund und machte eine tiefe Verbeugung.

»Jetzt mein Anerbieten«, fuhr der General fort. »Ich nehme Sie in meinen Dienst, ich lohne reichlich. Sie können von Ihrem Schurkenleben ablassen und ehrlich werden, und für dies alles sollen Sie mir nur einen Dienst leisten. Fürs Erste eine Frage: ›Wo lebt jenes Kind, von dem Sie angaben, dass ihm der Brief genommen wurde?«

»Jenes Kind? Ich weiß tatsächlich nichts von diesem Kind.«

»Nun so gehen Sie aus, es zu suchen. Bringen Sie es mir. Sparen Sie keine Mühe. Wie gesagt, Ihr Lohn soll reich ausfallen. Hier ist eine Rolle Geld. Verlassen Sie das Schloss sogleich. Machen Sie sich morgen früh auf den Weg, und die erste, günstige, beglaubigte Nachricht, die Sie mir schicken, wird die Begründerin Ihres Glücks sein.«

In Simeons Augen brannte ein Strahl von Freude, er bückte sich, um die Hand des Grafen zu erreichen, die dieser ihm entzog.

»Sie bringen mich zum Pfad der Tugend zurück!«, rief er. »Ich gebe meine Rachepläne auf. Ein Philosoph darf keine so gehässigen Leidenschaften hegen. Wohl an, Herr Graf, ich bin jetzt ganz der Ihre. Unverbrüchliche Verschwiegenheit und Treue sei mein Wahlspruch. O, ich werde reisen, gut leben und werde nichts weiter zu tun haben, als ein hübsches Mädchen aufzusuchen, an welchem der Herr Graf, der Himmel weiß aus welchem Grund, Interesse nehmen. Ich begreife meine Sendung vollkommen, Sacré dieu! Vielleicht besser, als mancher gut bezahlte Diplomat die seine begreift, und ich habe die Ehre, mich zu empfehlen …«

Mit diesen Worten steckte Simeon die Geldrolle ein und entfernte sich. Auf dem Hof blieb er stehen und schaute zu den erleuchteten Fenstern hinauf. Die wirbelnden Gestalten der Tanzenden flogen an den hellen Scheiben vorüber.

»Judy!«, rief der Verbrecher, die Hand ballend und drohend emporrichtend, »dieses Mal hast du wieder gesiegt! Der Teufel weiß, wie du das angefangen hast, aber zuletzt, gib acht, zuletzt werde ich dich doch unterkriegen.«

Er verschwand im Dunkel der Nacht.