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Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt – Folge 17

Jörg Kastner
Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Band 17
Der Hai von Frisco

Abenteuer, Heftroman, Bastei Verlag, Köln, 66 Seiten, 1,90 €, Neuauflage vom 05.02.2019

Kurzinhalt:
Kanonendonner und Pulverdampf. Dicke Rauchfahnen aus hohen Schornsteinen und im Wind knatternde Segel. Hektisch ausgestoßene Kommandos und panische Schreie. Im Pazifischen Ozean, einige Meilen vor der Westküste des nordamerikanischen Kontinents, war die Hölle ausgebrochen. Unter dunklen Wolkenbergen tobte ein Kampf ums Überleben.
Und mittendrin in diesem Chaos Jacob, Irene und Jamie. Die Fahrt auf dem Bockadebrecher Piet Hansens endet in einem Fiasko. Doch die Gefahr kommt nicht nur von den Kriegsschiffen der US-Marine. Auch an Bord der ALBANY wartet der Tod in Gestalt einer schwarz gekleideten, verhüllten Frau. Was es mit ihr auf sich hat, erfährt Jacob erst, als sie einen Derringer auf seinen Kopf richtet – und abdrückt!

Leseprobe

Kanonendonner und Pulverdampf. Dicke Rauchfah­nen aus hohen Schornsteinen und im Wind knatternde Segel. Hektisch ausgestoßene Kommandos und pani­sche Schreie.

Im Pazifischen Ozean, einige Meilen vor der West­küste des nordamerikanischen Kontinents, war die Hölle ausgebrochen. Mochte das hellgraue Meer auch weithin friedlich unter dem dunklen Wolkenhimmel liegen, auf einem kleinen Flecken Wasser tobte ein Kampf ums Überleben.

Das Schicksal hatte die Karten ungleich verteilt. Ein unbewaffnetes Segelschiff floh vor drei Dampfern – bewaffneten Dampfern.

Es waren Kriegsschiffe der Vereinigten Staaten von Amerika. Ein großer Raddampfer und zwei zu Schrauben-Fregatten umgebaute Kauffahrer, eine Bark und eine Brigg.

Sie hatten den Segler so gut wie umzingelt. Immer wieder spuckten ihre Geschütze Feuer, Rauch und tödliche Geschosse aus.

Nur durch waghalsige Manöver gelang es dem Kapitän des Seglers, schwere Schäden zu vermeiden. Das Gaffelsegel am Besanmast war bereits von einer Kartätsche zerfetzt worden.

Der Dreimaster war die ALBANY unter Kapitän Piet Hansen. Vorgeblich mit einer großen Ladung Minengeräten und ein paar Glücksrittern, die so schnell wie möglich zu den kalifornischen Goldfel­dern wollten, unterwegs nach San Francisco.

In Wahrheit ein Blockadebrecher, der die Seeblo­ckade der Nordstaaten durchbrechen wollte, um an der Küste Mexikos zu ankern und Kriegsgut für die Konföderierten Staaten an Land zu bringen, das dann durch Nordmexiko nach Texas gebracht werden sollte.

Aber der Plan war aufgeflogen. Das kleine US-Geschwader war nach einer siebentägigen Seereise der ALBANY wie aus heiterem Himmel aufgetaucht und hatte den Segler unter Beschuss genommen, als dieser nicht beidrehte, um ein Prisenkommando an Bord zu nehmen.

Dass die ALBANY bei den waghalsigen Manövern nicht kenterte, schien an ein Wunder zu grenzen, war in Wahrheit aber dem erfahrenen Seebären Piet Han­sen zu verdanken, der das Steuerrad führte, als sei er selbst ein Teil des hölzernen Schiffskörpers.

Die hektischen Haken, die der Kapitän der ALBANY seiner schlanken Bark aufzwang, brachten an Bord alles in Unordnung, was nicht niet- und nagelfest war oder nicht von Jugend an auf schwan­kenden Schiffsplanken stand.

Zwei Menschen klammerten sich an der Steuer­bordreling fest, ein Mann und eine Frau.

Der hünenhafte Mann mit dem sandfarbenen Haar und dem goldenen Ring im rechten Ohr war der deut­sche Auswanderer Jacob Adler.

Die Frau, die durch Hansens Manöver in seine Nähe gerutscht war, hatte ihr Gesicht während der ganzen Schiffsreise unter einem Schleier verborgen gehalten. Der Schleier war so schwarz wie alles an ihr: vom Hut und Haarnetz über das Kleid bis zu den Handschuhen.

Vergeblich hatte Jacob darüber nachgegrübelt, woher er die mysteriöse Frau zu kennen glaubte. Bis ihm eben die lange gesuchte Erkenntnis gekommen war.

Durch den Sturz waren Hut, Schleier und Haarnetz vom Kopf der Frau gerutscht. Was er sah, bestätigte Jacobs Vermutung.

Und doch war es ein anderer Anblick als erwartet. Was da von feuerroten Locken umspielt wurde, war nicht das Gesicht einer schönen Frau, das er zu sehen erwartet hatte. Es war eine hässliche Karikatur, furcht- und mitleiderregend zugleich.

»Wie … ist das …«, setzte der junge Zimmermann an, als er die erste Überraschung verdaut hatte.

Aber die Frage blieb ihm im Hals stecken. Wie konnte man über dieses Grauen reden, das einem schon beim bloßen Anblick die Sprache verschlug?

»Was glotzen Sie, Adler?«, fragte das schrecklich entstellte Wesen, das einmal eine schöne, begehrens­werte Frau gewesen war. »Sie haben mich wohl anders in Erinnerung, was? Ist kein schöner Anblick, ich weiß. Aber Sie sind nicht ganz unschuldig daran. Trotzdem will ich Ihnen ersparen, mich weiter anstar­ren zu müssen!«

Ihre Rechte ruckte vor. Jetzt erst bemerkte Jacob, dass sie noch immer den vierläufigen Sharps Derringer in der Hand hielt.

Er hatte geglaubt, sie hätte die Taschenpistole ver­loren, als sie stürzte und über die Gischt besprühten, glitschigen Planken rutschte.

Er wollte vorspringen lind ihr die Waffe entreißen. Aber gerade in diesem Augenblick ließ Piet Hansen die ALBANY einen erneuten Haken schlagen, den manch anderer Kapitän sogar mit einem kleineren, wendigeren Schiff nicht hinbekommen hätte. Dadurch wurde Jacob wieder gegen die Reling geschleudert.

Er konnte nichts tun. Nur zusehen, wie sich der im schwarzen Handschuhleder steckende Zeigefinger um den Abzug krümmte. Ein Feuerstrahl schlug aus der Mündung.

Ein absonderlicher, in diesem Moment völlig unbe­deutender Gedanke schoss durch Jacobs Kopf: Die Mündungsflamme war für die kleine Waffe unge­wöhnlich groß.

Jacob spülte einen Schlag am Kopf, als hätte ihn ein Vorschlaghammer getroffen. Dem stechenden Schmerz folgte gnädige, alles verschlingende Dunkel­heit, die sich wie ein plötzlich herabfallendes Tuch über seine Augen und sämtliche Sinne legte. Es war die Finsternis des Vergessens.

»Jacob, neeeiiin!«

Irene Sommer stieß den markerschütternden Schrei aus, als der Schuss krachte.

Die junge Deutsche, die ihren kleinen Sohn Jamie in den Armen hielt, sah, wie Jacob mit dem Rücken an der Reling nach unten ratschte. Sein blutüberströmter Kopf schlug auf die nassen Planken. Dann bewegte sich der junge Mann, den sie heimlich so sehr liebte, nicht mehr.

Aber die Blutlache um seinen Kopf vergrößerte sich. Bis die ALBANY eine Welle durchschnitt und ein großer Brecher mit seiner salzigen Flut das Blut wegwusch.

Irene wollte zu dem Geliebten laufen, aber Joe Weisman hielt sie mit eiserner Klaue fest.

»Nicht, Lady!«, schrie der Zweite Steuermann der ALBANY gegen den Lärm an, der aus Kanonendon­ner, gegen die Rahen klatschenden Segeln, unter der Last ächzenden Planken und aufgeregtem Gebrüll bestand. »Denken Sie an das Kind!«

Der gedrungene Deutsch-Amerikaner hielt sich mit einer Hand an einem der Pfosten fest, die das Dach über dem Platz des Steuermanns trugen. Die andere Hand hielt Irene und verhinderte, dass Mutter und Kind zu hilflosen Spielbällen des auf und nieder stampfenden, von einer Seite zur anderen rollenden Schiffes wurden. Vor Anstrengung tanzten dunkle Fle­cken pochenden Blutes auf seinem sonst nur leicht geröteten Gesicht.

Traurig erkannte die Frau, dass er recht hatte. Als Mutter war es ihre erste Pflicht, für Jamies Wohlerge­hen und Sicherheit zu sorgen.

Und Jacob?

Es sah ganz so aus, als könne sie nichts mehr für ihn tun. Sie nicht und kein anderer Mensch auf dieser Welt. Der Schuss aus nächster Nähe hatte ihn in den Kopf getroffen.

Er musste tot sein!

Die Erkenntnis zog alle Kraft aus Irenes Beinen. Auch Weisman konnte sie nicht mehr halten und ließ sie sanft zu Boden gleiten.

Er zeigte auf die Pfosten des Unterstands und rief: »Halten Sie sich daran fest, Lady!«

Irene nickte und krallte mit letzter Kraft ihre Hände um einen der Pfosten, während sie Jamie in ihre Arme schloss.

»Geht es?«, fragte der Zweite Steuermann.

Wieder bestand Irenes Antwort nur in einem schwa­chen Nicken. Zu mehr fühlte sie sich nicht in der Lage.

Der Gedanke an Jacobs Tod lähmte sie, ließ alles plötzlich so sinnlos erscheinen.

Vielleicht hätte sie den hölzernen Pfosten losgelas­sen und sich von einem der über die Reling schwap­penden Brecher mit ins Meer reißen lassen, wäre der laut schreiende Junge nicht gewesen.

Nur kurz streifte Piet Hansens Blick von Jacob Adler zu Irene Sommer. Er fühlte Mitleid und Schuld, aber er hatte keine Zeit, sich um die junge Frau zu kümmern.

Wenn er sich ablenken ließ, konnte das den Tod für alle anderen Menschen an Bord bedeuten. Er hätte nicht gedacht, dass die Yankees ein unbewaffnetes Schiff derart hemmungslos unter Beschuss nehmen würden. Offenbar war es ihnen bluternst mit ihrer See­blockade der Südstaaten.

Nur kurz flackerte in dem Kapitän der ALBANY die Frage auf, wie die Nordstaatler ihm auf die Schli­che gekommen waren. Zu ihrer Beantwortung hatte er weder die Möglichkeiten noch die Zeit.

Seine Hände und Arme waren eins mit dem schwe­ren Steuerrad. Sein ganzer Körper schien mit dem höl­zernen Leib der ALBANY verwachsen. Immer wieder änderte er den Kurs, um den drei Kriegsschiffen zu entgehen.

Zum Verhandeln war es längst zu spät. Er musste sein Schiff durchbringen. Seine Hände krampften sich so fest ums Steuerrad, dass die Knöchel weiß hervor­traten.

Er musste es schaffen!

Nicht noch einmal wollte sich Piet Hansen den Vor­würfen und Seelenqualen aussetzen, leichtfertig ein Schiff und viele Menschenleben geopfert zu haben. Schon Jacob Adlers Tod war zu viel und lastete schwer auf ihm.

Was damals, vor über zwanzig Jahren, im Ärmelka­nal mit der HENRIETTA geschehen war, durfte sich nicht wiederholen!

»Mr. Weisman!«, brüllte er gegen den höllischen Lärm.

Sein Zweiter Steuermann wandte sich von Irene Sommer weg zu Hansen um.

»Aye, Käpten?«

»Wo stehen Sie?«

»Wie meinen Sie das, Käpten?«

»Ich spreche von den anderen dort.« Hansen nickte hinaus auf See; es war klar, dass er die Kriegsschiffe meinte. »Halten Sie zu denen oder helfen Sie mir, die ALBANY aus diesem Chaos zu bringen?«

Der deutsch-amerikanische Steuermann überlegte kurz. Er hatte nicht gewusst, dass die ALBANY ein Blockadebrecher war. Und er billigte es nicht. Aber dann dachte er an die Seeleute und an die hundert Passagiere, unter denen sich Frauen und Kinder befan­den. Sie konnten nichts dafür. Sie würden unschuldig sterben.

»Geben Sie Ihre Befehle, Käpt’n.«

»Alle Segel setzen!«, schnarrte Hansen. »Und besor­gen Sie ein neues Gaffel!«

»Alle Segel, Käpten?« wiederholte der Steuermann ungläubig. »Aber das Wetter! Das ist schon kein Wind mehr, sondern ein Sturm. Wir werden kaum noch manövrierfähig sein!«

»Aber dafür schnell!«

Weisman nickte verstehend und rannte über das schwankende Deck, um die Befehle des Kapitäns wei­terzugeben.

Da tauchte auch der Erste Steuermann auf Deck auf, Georg Möller. Hansen mochte den Mann nicht, der zum ersten Mal auf der ALBANY führ.

Arnold Schelp hatte ihn Hansen empfohlen. Nun, empfohlen war wohl der falsche Ausdruck. Schelp hatte darauf bestanden, dass der Kapitän Möller zum Ersten Steuermann ernannte.

Genauso, wie Schelp einen Teil der Besatzung angeschleppt hatte. Alles seine Vertrauensleute, die dafür sorgten, dass Hansen sich Schelps Willen beugte.

Und tatsächlich erschien Schelps grobe Gestalt gleich hinter dem knochigen Möller im Kajütenauf­gang.

Schelp war wie stets so gut gekleidet, dass es schon ins Auge stach. Trotz der rasanten Fahrt des Schiffes saß der schwarze Chapeau claque auf seinem rotbe­haarten Schädel, und der kleine Stock mit dem schwe­ren Silberknauf – kein Gehwerkzeug für ihn, sondern eine äußerst wirksame Waffe – lag in seiner weißbe­handschuhten Linken.

Aber auf dem heftig schwankenden Deck verlor er seine aufrechte Haltung und seinen Zylinder. Hätte er sich nicht in Möllers dunkelblauer Seemannsjacke verkrallt, wäre er unsanft auf den Planken gelandet. Sorgsam achtete er darauf, den Stock nicht zu verlie­ren.

Fast gierig griff er nach einem der Pfosten, an dem sich auch Irene festhielt. Er baute sich vor Hansen auf und forderte: »Käpt’n, übergeben Sie das Steuer an Möller!«

»Unmöglich!«, knurrte Hansen und lenkte die ALBANY auf einen Kurs, der sie auf zwei der Kriegs­schiffe zuführte.

Es handelte sich um die beiden umgebauten Kauf­fahrer, die zurzeit dicht beieinander in der zuneh­mend aufgewühlten See kreuzten.

»Sie Narr, was hin Sie?«, kreischte Schelp. »Sie bringen das Schiff geradewegs vor die Yankee-Kano­nen!«

»Das ist meine Absicht!«, nickte Hansen und hielt den Segler verbissen auf Kurs.

Schelp klemmte den Stock unter die Achsel und griff unter den dunklen Rock in eine Tasche seiner sei­dig glänzenden Weste. Die Hand kam mit einem Derringer wieder hervor.

Die kleine Waffe sah genauso protzig aus wie alles an ihrem Besitzer. Sie war versilbert, der Griff gar vergoldet.

Aber als Schelp den Hahn zurückzog und den kur­zen Doppellauf unter Hansens Kinn drückte, war es vollkommen unwichtig, wie stutzerhaft die Waffe wir­ken mochte. Wichtig war nur, dass sie den Kapitän unweigerlich töten würde, sobald der rothaarige Deut­sche den Abzug betätigte.

»Übergeben Sie das Schiff an Möller! Ich sage es nicht noch einmal.«

»Sie sind der Narr, Schelp!«, fauchte Hansen, ohne sich von der Waffe, deren Mündung unter seinem Gesicht schwebte, beirren zu lassen. »Sehen Sie nicht, dass ich die ALBANY in Sicherheit bringe?« Er seufzte und fügte leise hinzu: »Jedenfalls versuche ich es.«

Schelp zog irritiert die rötlichen Brauen hoch.

»Wie das?«, fragte er hektisch. »Sie bringen uns doch vor die feindlichen Geschütze!«

»Zwischen die feindlichen Geschütze«, berichtigte der Kapitän den Mann, mit dem er eine verhängnis­volle Allianz eingegangen war.

»Wo ist der Unterschied?«, brüllte Schelp. »Weint uns gleich zwei Yankee-Schiffe beschießen, ist es doch nur noch schlimmer!«

Wieder korrigierte Hansen den anderen: »Falls sie uns beschießen, Schelp. Falls!«

»Was meinen Sie damit?«

»Sehen Sie doch, wie eng die Bark und die Brigg beieinander liegen! Der Kapitän der Brigg ist schuld daran. Er hat sehr unglücklich manövriert. Wenn wir schnell genug zwischen den beiden durchkommen, können sie ihre Kanonen nicht abfeuern, ohne zu ris­kieren, sich gegenseitig in Stücke zu schießen.«

Der Schimmer der Erkenntnis leuchtete in Schelps sonst eher trüben Augen auf.

»Glauben Sie, dass wir schnell genug sind, Käp­t’n?«

»Meine Jungs sorgen gerade dafür.« Hansen zeigte hinauf in die Masten.

Mit affenartiger Behändigkeit turnten die Seeleute der ALBANY in der schwindelerregenden Höhe herum, um auf Hansens Befehl sämtliche Segel zu set­zen. Gleichzeitig waren ein paar Männer am Besanmast damit beschäftigt, unter der Aufsicht von Joe Weisman und des Segelmachers das zerfetzte Gaffel­segel gegen ein neues auszutauschen.

Schelp blickte den Ersten Steuermann an.

»Was sagen Sie, Möller? Kann das hinhauen?«

»Es ist ein Spiel mit dem Feuer«, knurrte der kno­chige Mann und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. »Im wahrsten Sinne des Wortes!«

»Das ist keine Antwort, verdammt! Hat Hansens Plan Ihrer Meinung nach Aussicht auf Erfolg oder nicht?«

Möller sah auf, als wolle er seine Unterlippe ver­schlingen. Schließlich nickte er langsam und sagte gedehnt: »Nun, Herr Schelp, es könnte klappen. Aber ich würde keine große Summe darauf wetten.«

»Haben Sie einen besseren Plan, Möller?«

»Nein, jetzt sowieso nicht mehr.«

»Was heißt das nun wieder?«

»Schauen Sie doch, Herr Schelp!« Möllers rechter Arm streckte sich bugwärts aus. »Wir sind schon viel zu nah an den beiden Kriegsschiffen. Würden wir jetzt

noch abdrehen und ihnen unsere Breitseite darbieten, würden uns die Kanonen auf jeden Fall treffen!«

Schelps Augen blitzten böse, als sie sich wieder auf den alten Seebären am Steuerrad richteten.

»Zur Hölle, Hansen, Sie haben mich hereingelegt!«

Schelp drückte die doppelte Mündung des Remington Derringers gegen Hansens Kehle.

»Unsinn!«, verteidigte sich der Kapitän. »Ich bringe uns durch. Die Segel sind fast alle gesetzt.«

Tatsächlich wurde die Fahrt der ALBANY immer schneller. Sie rollte nicht mehr von einer Seite zur anderen, sondern rauschte fast ruhig und stolz durch die mehr und mehr aufgewühlten Wellen.

Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis ein regelrechter Sturmwind über den Pazifik blasen würde. Genau darauf setzte Piet Hansen.

Und dann war es soweit. Die ALBANY flog unter voller Betakelung zwischen den beiden Schrauben-Fregatten hindurch.

Die Menschen an Bord des Seglers hielten den Atem an. Die Kriegsschiffe waren so verdammt nah, dass jede Menge Einzelheiten erkennbar waren. Die Masten der US-Schiffe, die noch aus ihrer Zeit als Kauffahrer stammten. Jetzt diente die Takelage als bloße Hilfe für die hohen Schornsteine, die bei der Umrüstung zu Schraubendampfern auf den Schiffen angebracht worden waren.

Die Flagge der Union, die in scheinbarer Siegesge­wissheit an den Schiffen flatterte.

Die Männer an Bord. Ihre blauweißen Uniformen. Die teilweise bärtigen Gesichter. Sogar die ungewöhn­lich weiten Aufschläge der blauen Hosen bei den Männern, die in den Wanten hingen.

Die Namen der Schiffe. Die Bark war die U.S.S. RFLIANCE, die Brigg die U.S.S. HÖRNET.

Und das bedrohliche Schimmern der Geschütz­rohre, die über die Schiffe hinausragten und zur ALBANY herüberblickten. Dahinter standen die Bedienungen teils mit den Abreißleinen in den Hän­den, bereit, auf Kommando die Breitseiten abzufeu­ern. Die Menschen an Bord der ALBANY zählten die Kanonen an den ihnen zugewandten Seiten der Kriegsschiffe: vier bei der Brigg und sechs bei der Bark.

Die Augen der Männer und Frauen auf dem Segler klebten geradezu an den Kanonenrohren. Sie warteten auf die Flammenzungen, den Rauch, den ohrenbetäu­benden Donner und die tödlichen Einschläge.

Aber nichts geschah. Piet Hansens Rechnung schien aufzugehen. Nur noch das Heck der ALBANY befand sich zwischen den Kriegsschiffen, glitt zwi­schen ihnen hindurch … Dann brach der Donner los!

Die Menschen schrien und stürzten erneut durchei­nander. Letzteres wurde diesmal nicht durch ein gewagtes Manöver von Hansen verursacht, sondern

war eine Folge der panischen Furcht. Die Menschen suchten trügerische Deckung hinter Aufbauten, Mas­ten und Rettungsbootsdavits.

»Es ist der Raddampfer!«, rief Georg Möller und zeigte schräg nach achtern, zur Steuerbordseite.

Dort schaufelte sich das größte der drei Kriegs­schiffe unter einer dichten Wolke grauen Rauches auf den fliehenden Segler zu. Aus den geöffneten Stückpforten an Backbord lugten die Mündungen der gro­ßen Geschütze, insgesamt zehn. Das Kriegsschiff war nah genug, dass die Leute auf der ALBANY seinen Namen lesen konnten: U.S.S. GENERAL STEUBEN.

Der Kapitän der GENERAL STEUBEN wollte der ALBANY offensichtlich den Weg abschneiden. Des halb rauschte er so dicht an der RELIANCE vorbei, dass die Schrauben-Fregatte in heftiges Schlingern geriet.

Aber die GENERAL STEUBEN hatte ihre mächti­gen Geschütze einige Sekunden zu früh abgefeuert. Sie rissen nicht den Rumpf des Seglers auf, sondern nur die See vor ihm. Der Pazifik verschluckte die schweren Geschosse anstandslos. Dann rauschte der unter voller Betakelung stehende Dreimaster auch schon darüber hinweg.

Noch trauten sich die Menschen an Bord der ALBANY nur wenig aus der Deckung. Die Nähe des großen Seitenraddampfers, der im spitzen Winkel auf den Segler zuschoss, wirkte zu bedrohlich.

Doch endlich stellte sich heraus, dass der Kapitän der GENERAL STEUBEN einen Winkel gewählt hatte, der nicht spitz genug war. Kapitän Hansens Bark zeigte dem Kriegsschiff ihr rasch kleiner wer­dendes Heck, als der Dampfer ihr Fahrwasser kreuzte.

Die GENERAL STEUBEN wollte nicht aufgeben und feuerte ihre Steuerbord-Batterie ab. Aber diesmal hatte sie zu lange gezögert. Die Geschosse flogen am Heck des davonjagenden Segelschiffes vorbei und spritzten ins Wasser.

»Zum Glück sind die Kanoniere der GENERAL STEUBEN nicht besser als der Kapitän des Damp­fers«, atmete Piet Hansen mit einem Blick über die Schulter erleichtert auf. »Ich schätze, das Schlimmste haben wir hinter uns.«

»Woher die Zuversicht?«, fragte ein skeptischer Arnold Schelp. »Wir haben nur unsere Segel, die anderen Segel und den Dampfantrieb!«

»Der Nachteil dieser Kombination ist, dass sich die meisten Kapitäne zu sehr auf ihre Schrauben und Schaufelräder verlassen. Sie können mit der Takelage nicht mehr richtig umgehen. Außerdem macht die ALBANY eine Höllengeschwindigkeit, und der Wind wird immer stürmischer.«

»Vielleicht zu stürmisch für unsere volle Betake­lung«, wandte Möller ein.

»Wir müssen es riskieren«, brummte Hansen. »Es ist unsere einzige Möglichkeit, den Kriegsschiffen zu entkommen.«

Aber er war weit weniger zuversichtlich, als er tat. Seine Gedanken kreisten um die Katastrophe vor mehr als zwanzig Jahren, an der er seitdem schwer zu tragen hatte. Hoffentlich lag die ALBANY besser im Sturm als die HENRIETTA!

»Die ALBANY muss da hinein«, sagte der bärtige Seebär und zeigte nach vorn. »Dann finden uns die Yankees nicht, selbst wenn sie uns einholen sollten.«

Dichter Nebel lag vor dem Segler, soweit das Auge reichte. Behäbig wälzte sich die undurchdringliche Masse über den Pazifik. Wie ein urzeitliches Ungetüm auf der Nahrungssuche.

»Woher kommt der Nebel?«, fragte Schelp.

»Von der Küste«, antwortete Hansen. »Wir müssen ziemlich nah dran sein.«

Dann leckten die ersten graugelben Dunstfinger auch schon nach dem Rumpf der ALBANY, krallten sich an ihm fest und krochen langsam zum Deck empor. Das Schiff tauchte in die Nebelbank ein und verschmolz mit ihr.

Quelle:

  • Jörg Kastner: Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt. Band 17. Bastei Verlag. Köln. 05.02.2019