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Die Legende von Urmanak Teil 2

Die Legende von Urmanak

Die große Fantasysaga von Tillmann Faber
Teil 2

Dies ist die Geschichte von Urmanak, einem sagenumwobenen Kontinent voller geheimnisvoller Länder, in denen Menschen und Zwerge leben genauso wie Magier, Hexen und Dämonen. Eine Welt mit Bergen voller Eis und Schnee, mit dichten, undurchdringlich scheinenden Wäldern, weiten Steppen und prächtigen Städten.

Urmanak ist jedoch mehr als nur die Chronik einer geheimnisvollen Welt, es ist die Geschichte vom ewigen Kampf Gut gegen Böse.

4.

Ein Schwert für die Rache

»Vater!«

Rugors Stimme war ein einziger, qualvoller Schrei.

Mit einem lauten Stöhnen sank er vor dem Toten auf die Knie und rief so lange seinen Namen, bis ihm die Stimme versagte und er nur noch ein heiseres Krächzen aus seiner Kehle hervorbrachte. Als ihm trotz all seiner Trauer und dem Schmerz endlich klar wurde, dass er keine Antwort mehr erhalten würde, jedenfalls nicht mehr in diesem Leben, verstummte er jäh und blickte sich wie benommen um.

In der Küche sah es aus, als hätte man dort Dutzende von Hühnern geschlachtet. Den Spuren nach hatte Arandis auch dann noch gekämpft, als ihn der Tod bereits mit seinen eisigen Klauen umschlungen hielt.

Er sah furchtbar aus.

Sein rechter Arm war bis zu den Knochen freigelegt, das Gewebe vollständig abgenagt.

An der Hand fehlten drei Finger. Der Brustkorb war aufgebrochen und das Herz augenscheinlich mit äußerster Brutalität herausgerissen. Überall am Körper waren Bissspuren zu sehen.

Als ob die entsetzliche Gewissheit, dass man seine Schwester und seinen Vater bestialisch ermordet hatte, nicht genug für seine gequälte Seele war, durchzuckte ihn plötzlich noch ein weiterer, vielfach schrecklicherer Gedanke.

Onata!

Wo war seine Mutter?

Mit einem verzweifelten Schrei auf den Lippen richtete sich Rugor auf, sprang über die Leiche seines Vaters hinweg und stürmte wie ein wild gewordener Sandwolf durch das Haus.

Aber da war nichts, weder im Esszimmer noch im Wohnzimmer und auch nicht im Vorratsraum. Er rannte die Treppen ins Obergeschoss hinauf, nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal und hetzte mit pochendem Herzen durch die Schlafräume, aber seine Mutter war nirgends zu finden.

Er fand weder ihre Leiche noch sonst eine Spur von ihr.

Rugor rannte die Treppe wieder hinunter, hinaus auf den Hof, wo er wie ein Raubtier auf der Suche nach Beute umherlief, aber auch da war nichts. Nur ein paar seltsame Fußspuren, die gen Norden in Richtung Wüste führten.

Dafür meldete sich jetzt sein Körper.

Das Ergebnis seiner wilden Jagd durch Haus und Hof, die sich im Nachhinein als völlig sinnlos erwiesen hatte, war ein Seitenstechen, das langsam immer unerträglicher wurde. Er blieb stehen, beugte den Oberkörper nach vorne und schnappte japsend nach Luft.

Gleichzeitig versuchte er, sein aufgewühltes Inneres unter Kontrolle zu bringen und wieder klar zu denken. Obwohl der Sandjäger gelernt hatte, jedwede Emotion auszublenden – die menschenfeindlichen Sandwüsten von Dagthan erlaubten keine Gefühle – dauerte es noch geraume Zeit, bis sich sein Herzschlag wieder beruhigte.

Langsam und mit schwerem Schritt wandte er sich dann seiner Schwester zu, hob ihren Leichnam auf und ging wieder zurück ins Haus. Dort legte er das kleine Mädchen neben ihren toten Vater und ging in die Knie. Eine nie gekannte, unendliche Leere nahm Besitz von ihm. Seine Glieder füllten sich mit Blei, während er sekundenlang stumm auf die Toten starrte.

Die Sekunden wurden zu Minuten, die Minuten zu Stunden.

Irgendwann, die Sonne stand bereits tief im Westen und die Schatten wurden allmählich immer länger, beugte er sich vor und drückte den beiden die Lider zu.

Dann richtete er sich auf.

Seine Gestalt straffte sich merklich.

Er ignorierte den Aufruhr in seinem Innern und das beinahe schmerzhafte Pochen seines Herzens und bemühte sich, wieder ruhig zu atmen.

Entschlossen ging er zum Stall hinüber und holte eine Schaufel.

Hinter dem Haus, etwa einen Steinwurf weit von dem Gemüsegarten entfernt, auf den seine Mutter so stolz war, begann er zu graben.

Die Erde dort war staubtrocken und hart wie Stein.

Rugor grub sich dennoch verbissen in den von der Sonne ausgetrockneten Boden. Die Anstrengung ließ ihn langsam ruhiger werden und vertrieb seine quälenden Gedanken.

Irgendwann in der Nacht, als er der Meinung war, tief genug gegraben zu haben, ging er wieder ins Haus, holte zwei Leintücher aus der Wäschetruhe im Schlafzimmer seiner Eltern und wickelte die Leiche seines Vaters und die von Raja, seiner Schwester, darin ein.

Dann legte er die beiden nebeneinander in die ausgehobene Grube.

Die drückende Stille des Todes lastete schwer wie Blei über dem Hof. Selbst das Sirren und Summen der allgegenwärtigen Sandfliegen war verstummt. Es schien, als hielt die Natur den Atem an, um jener Dinge zu harren, die nun folgten.

Aber all das beachtete Rugor nicht.

Stattdessen starrte er mit brennenden Augen auf das Grab, das er soeben zugeschüttet und mit großen Steinen beschwert hatte.

Minutenlang nahm er zum letzten Mal Abschied von seinem Vater und seiner Schwester, die er in den heißen Wüstenboden gebettet hatte.

Sein ansonsten so offenes und ehrliches Gesicht war jetzt von harten, verbitterten Linien gezeichnet. Nichts als Hass und das unbändige Verlangen nach blutiger Rache erfüllten den Sandjäger, als er anschließend sein Pferd in den Stall brachte, es absattelte und danach versorgte. Nachdem er alle Arbeit vollbracht hatte, war es kurz nach Mitternacht.

Er ging ins Haus zurück, legte sich angezogen, wie er war, auf sein Bett und schloss die Augen.

Aber er konnte nicht schlafen. Allein der Gedanke, dass seine Mutter da draußen in der Gewalt irgendwelcher Kreaturen war, vielleicht schon nicht mehr am Leben, war so peinigend, dass er ihm regelrecht körperliche Schmerzen verursachte.

Am liebsten wäre er aufgesprungen und losgeritten, aber der Sandjäger war erfahren genug, um zu wissen, dass eine Verfolgung in der Dunkelheit keinen Sinn machte. Wenn er seiner Mutter helfen wollte, musste er ausgeruht sein und im Vollbesitz seiner Kräfte, genauso wie sein Pferd. Die unbarmherzigen Sandwüsten von Dagthan bestraften jede noch so kleine Unaufmerksamkeit.

Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen, aber die Gesichter seiner Familie erschienen immer wieder vor seinen Augen, bis er irgendwann vor Erschöpfung schließlich doch einschlief.

Rugor erwachte erst, als er im Schlaf den Kopf zur Fensterseite drehte und das Sonnenlicht direkt auf sein Gesicht fiel.

Er war sofort hellwach.

Fluchend schwang er die Beine aus dem Bett und stürmte aus dem Zimmer.

Er hatte länger geschlafen, als er es beabsichtigt hatte, viel länger, aber der kräftezehrende Ritt durch die menschenfeindliche Wildnis, der Anblick der toten Familienangehörigen und die Ungewissheit über das Schicksal seiner Mutter hatten ihm derart zugesetzt, dass er sich völlig ausgebrannt und leer gefühlt hatte, als er sich in der Nacht ins Bett legte.

Er ging in den Stall, sattelte sein Pferd und führte es zum Haus. Drinnen in der Küche stopfte er einige Vorräte in einen alten Leinenbeutel und befestigte diesen zusammen mit zwei vollgefüllten Wasserflaschen am Sattelhorn.

Rugor war gerade dabei, sich auf den Rücken seines Pferdes zu schwingen, als er unvermittelt verharrte. Irgendetwas tief in seinem Innern sagte ihm, dass er noch einmal ins Haus zurückgehen musste. Ein Gefühl, ein Gedanke, er wusste nicht, was es war, das sich da in seinem Hinterkopf festgesetzt hatte, so sehr er sich auch den Kopf zerbrach. Nachdenklich nahm der den Fuß aus dem Steigbügel und ging wieder zurück ins Haus. Mit hölzern wirkenden Bewegungen stapfte er durch die Küche, vorbei an einer riesigen, inzwischen eingetrockneten Blutlache, deren Umrisse ein hässliches Muster auf den hellen Fußboden gezeichnet hatten, durchquerte das Wohnzimmer und ging dann die Treppe hinauf ins Schlafzimmer seiner Eltern.

Warum und wieso vermochte er später nicht mehr zu sagen, er wusste nur, dass dieses Gefühl, das ihn dazu verleitet hatte, wieder ins Haus zu gehen, im gleichen Augenblick verschwunden war, als er vor der Wäschetruhe seiner Mutter zum Stehen kam.

Instinktiv öffnete er sie wieder und starrte für einen Moment auf die darin liegende Wäsche. Dann beugte er sich vor und begann plötzlich wie ein Verrückter in den sorgfältig zusammengelegten Leintüchern und Kissenbezügen zu wühlen. Achtlos warf er die saubere Wäsche dabei links und rechts neben sich auf den Boden.

Er hielt in seinem Treiben erst inne, als sich seine Hände um einen länglichen, in dunkles Tuch gehüllten Gegenstand legten.

Rugor verharrte abrupt in seinen Bewegungen.

Er wusste jetzt, was ihn angetrieben hatte.

Sein Herz begann plötzlich wie wild in seiner Brust zu hämmern, sein Puls raste und sein Atem ging nur noch stoßweise, während er beinahe ehrfürchtig den Stoff zurückschlug, unter dem nach und nach ein Schwert mit einer fast armlangen Klinge zum Vorschein kam.

Es war das Schwert seines Vaters, jene Waffe, die Arandis damals, als Hauptmann der königlichen Leibgarde, getragen hatte. Es war zwar fleckig und nach all den Jahren etwas schartig, aber immer noch eine Waffe, die genauso furchterregend wie tödlich war. Als sich seine Hand um den wuchtigen Knauf der Waffe schloss, fühlte er, wie eine Welle heißer Wut durch seinen Körper pulsierte.

Sein Geist war plötzlich hellwach, während er das Schwert in der Hand wog und schließlich die Klinge über dem Kopf kreisen ließ. Rugor wusste, was zu tun war, genauso, wie er wusste, dass er nur mit dem Schwert seines Vaters Rache für die Ermordung seiner Familie nehmen konnte.

Nach einem letzten Rundumblick drehte sich Rugor um.

Er spürte, dass er keine Zeit mehr verlieren durfte. Er legte seine Klinge in die Truhe, schob stattdessen das Schwert seines Vaters in die Lederscheide, die am Gürtel befestigt war, und ging mit langen, federnden Schritten aus dem Haus. Draußen stieg er auf sein Pferd und folgte der Fährte der Mörder, ohne sich noch einmal umzusehen.

 

*

 

Rugor kam schnell voran.

Die Spuren auf dem Hof waren bei Tageslicht leicht zu verfolgen. Wer auch immer das Anwesen seiner Eltern überfallen hatte, die Mörder mussten sich ziemlich sicher fühlen. Bereits hinter der ersten Anhöhe hatte man jeglichen Versuch, die Fährte auch nur ansatzweise zu verwischen, aufgegeben, obwohl sich ihre Spur so deutlich im Sand abzeichnete, dass sie selbst vom Sattel aus ohne große Mühe zu erkennen war.

Rugor ließ sein Pferd in vollem Galopp lospreschen.

Zwei Stunden vergingen, ohne dass er das Gefühl bekam, näher herangekommen zu sein.

Die Spuren waren immer noch mehrere Stunden alt.

Verzweifelt spornte er sein Pferd immer wieder an.

Das gibt es doch gar nicht, durchzuckte es ihn dabei ständig, irgendwann mussten sie doch auch eine Rast einlegen. Rugor kannte kein Lebewesen, das einen Tag lang ohne Pause die Wüsten von Dagthan durchqueren konnte.

Er ertappte sich immer öfter dabei, dass er die Götter murmelnd um Beistand anflehte.

Am späten Mittag kam er dann an eine versteckt gelegene Wasserstelle, ein kleines Rinnsal zwischen den Felsen, das nur wenigen Eingeweihten bekannt war.

Seine Überraschung war deshalb groß, als er erkannte, dass der Uferrand trotzdem von unzähligen Abdrücken zertrampelt war, die sich in der weichen Erde klar und deutlich abzeichneten.

Er legte seine Stirn in Falten, während er vorsichtig aus dem Sattel glitt.

Der Sandjäger hatte noch nie eine derartige Fährte gesehen.

Die Spuren dieser zehn oder zwölf Kreaturen, denen er folgte, stammten weder von Menschen noch von irgendwelchen Tieren, jedenfalls von keinen, die er kannte.

Die Abdrücke waren ungewöhnlich tief, was bedeutete, das die, die er verfolgte, ziemlich schwer sein mussten. Außerdem waren sie seltsam unförmig, ganz so, als hätte jemand ihre Füße wie einen Kuchenteig breit gewalzt.

Bevor Rugor in die Knie ging, um sich die Spuren genauer anzusehen, ließ er seine Blicke noch einmal über das umliegende Land schweifen. Nachdem er nichts Verdächtiges erkennen konnte, beugte er sich vor und … erstarrte mitten in der Bewegung.

Neben ihm, halb verdeckt von den stachligen Blättern eines Dornenstrauches, hatte jemand etwas in den weichen Uferschlamm der Wasserstelle geschrieben.

Das Ganze war kaum zu entziffern, denn die Buchstaben waren in großer Hast entstanden und teilweise nur angedeutet, trotzdem hatte er das Gefühl, als würde sich sein Magen zusammenkrampfen.

Tränen füllten seine Augen, während er das Geschriebene las. Diese Nachricht hatte niemand anderes als seine Mutter verfasst. Es gab keinen im ganzen Land, der die Initialen ihrer Familie in derselben Anordnung wiedergeben konnte, wie sie auf dem hölzernen Wappenschild zu sehen waren, das im Schlafzimmer der Eltern über dem Bett hing.

Für Rugor bedeuteten diese wenigen Buchstaben nicht mehr und nicht weniger, als dass seine Mutter noch am Leben war und durchhalten würde, bis er sie rettete.

Mit fliegenden Fingern füllte er seinen Wasservorrat auf und zog sich wieder in den Sattel. Sein Pferd antwortete mit einem ärgerlichen Schnauben, als er ihm, statt eine längere Pause zu gönnen, unvermittelt die Absätze seiner Stiefel in die Weichen hämmerte.

Aber das war ihm im Moment egal.

Rugor ballte seine zitternden Hände zu Fäusten.

Schmerzen jagten durch seine Brust, als er an seine Mutter dachte und sie in Gedanken vor sich sah.

Wie lange, fragte er sich verzweifelt, konnte sie noch durchhalten?

 

5.

Falsches Spiel

 

»Was das soll? Das Gleiche könnte ich dich auch fragen«, bellte Olrrak.

»Niemand hat das Recht, unaufgefordert das Haus von Yarrakas, dem Führer unseres Volkes, zu betreten. Auch du nicht und erst recht nicht deine schlitzäugigen Freunde.«

Die Frau, der seine Worte gegolten hatten, verharrte so abrupt, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Wutschnaubend baute sie sich vor Olrrak auf und stemmte die Hände in die Hüften, während sie ihre Begleiter mit einer energischen Kopfbewegung zum Stehen brachte. Ihre smaragdgrünen Augen glühten in kaltem Hass, als sie ihm antwortete.

»Wie redest du eigentlich mit mir, alter Mann? Ich bin Birka, die Frau von Karrakas, dem zukünftigen Herrscher aller Rraks, und nicht irgendeine Dorfmagd, die man zum Feuerholz holen schickt.«

Olrrak verzog den zahnlosen Mund zu einem freudlosen Lächeln.

»Das behauptest du, aber ich denke, da irrst du dich ein wenig. Es ist richtig, du bist zwar die Frau von Yarrakas ältestem Sohn und damit ein Mitglied des Hofes, aber das ist auch schon alles. In deinen Adern fließt weder das Blut der Rraks noch ist dein Gatte unser nächster Herr. Im Gegenteil, im Moment denke ich, ist er von der Ernennung zum Stammesfürsten so weit entfernt wie die Sonne von unserem Dorf und damit gelten für dich die gleichen Regeln wie für alle anderen. Wenn du ein Anliegen hast, wende dich an den Ältestenrat. Er wird dann entscheiden, wann du zu Yarrakas vorgelassen wirst. Und jetzt geh, wir haben wichtigere Dinge zu tun, als uns mit dir zu unterhalten. Aber vergiss nicht deine schlitzäugigen Vasallen mitzunehmen.«

Birka schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Ihr ebenmäßig geschnittenes Gesicht verzerrte sich vor Wut. Der Dorfälteste konnte deutlich sehen, wie es hinter ihrer Stirn zu arbeiten begann. Aber bevor sich die Frau eine Antwort zurechtlegen konnte, meldete sich der Vorderste ihrer Begleiter zu Wort.

Mit einer ruckartigen, fast herrisch wirkenden Bewegung warf der Kuttenträger die Kapuze nach hinten, die sein Antlitz bisher fast vollständig bedeckt hatte. Der Mann war groß und schlank und mit seinem asketisch wirkenden Gesicht, den funkelnden Augen und dem säuberlich gestutzten schwarzen Backenbart auf eine dunkle, dämonische Art gut aussehend.

»Ihr habt natürlich recht«, sagte er. »Verzeiht uns also unser ungebührliches Eindringen.«

»Schon gut«, erwiderte Yarrakas. Dabei wedelte er ungeduldig mit der Hand. »Aber jetzt geht wieder. Wie Olrrak bereits erwähnte, habe ich mit ihm ein paar wichtige Dinge zu besprechen. Dinge, die nicht für jedermanns Ohren bestimmt sind.«

»Regierungsgeschäfte, wenn ihr versteht, was ich meine«, fügte er nachdrücklich nach einer kurzen Pause hinzu, weil die ungebetenen Besucher trotz der Aufforderung des Dorfältesten weiterhin keinerlei Anstalten machten, den Raum wieder zu verlassen.

»Ich verstehe sehr wohl, mein Fürst. Aber Ihr müsst auch uns verstehen, wir sind keineswegs hierhergekommen, um Euch die Zeit zu stehlen. Der Grund unseres Hierseins ist von äußerster Wichtigkeit.«

Olrraks Kopf ruckte herum. Seine Augen wurden schmal und auf seiner Stirn begann sich jäh eine steile Zornesfalte zu bilden.

Es gab im ganzen Land kaum einen Menschen, dem er Böses wünschte, aber dieser Mann, den alle Assanasar nannten, gehörte dazu.

Es war nicht so, dass er grundsätzlich jedem misstraute, der andere Götter anbetete als die, denen die Rraks huldigten, aber seine Abneigung gegen diese schlitzäugige Priesterschaft, die Birka eines Tages als ihre persönlichen Berater am Hof einführte, hatte Gründe, gewichtige Gründe sogar. Bereits nach dem ersten Zusammentreffen war ihm klar geworden, dass diese Priester, allen voran Assanasar, bei Weitem nicht das waren, was sie vorgaben.

Er hatte das seltsame Funkeln in seinen dunklen Schlitzaugen gesehen, das den Blick der Menschen anzog und jedem seinen Willen aufzwang, der so unvernünftig war, diesem Blick nicht schnell genug wieder auszuweichen.

Ein Umstand, den aber leider nur er, der Seher und Dorfälteste, bemerkte.

Er hatte im Gegensatz zu den meisten anderen auch die seltsamen Todesfälle nicht vergessen, die seit dem Eintreffen dieser Schlitzaugen im Dorf vorgefallen waren, und anscheinend war er auch der Einzige, der bemerkte, wie sich Karrakas unter dem Einfluss seiner Frau und ihrer sogenannten Berater mit jedem Tag weiter von seiner Familie und auch von den Menschen seines Volkes entfernte.

»So, so«, sagte er deshalb mit deutlichem Unwillen. »Und was ist Eurer Meinung nach so wichtig, dass es keinen Aufschub mehr duldet?«

»Stell dich doch nicht dümmer an, als du bist«, zischte Birka und trat einen Schritt vor. »Du weißt genau, was ich meine. Ich mag zwar keine gebürtige Rrak sein, aber ich werde es nicht zulassen, dass die uralten Gesetze dieses Volkes mit Füßen getreten werden.«

Yarrakas und der Dorfälteste blickten sich erstaunt und zugleich sorgenvoll an.

»Was soll das heißen, Weib?«, fragte Olrrak, obwohl er die Antwort bereits zu kennen glaubte.

Birkas Reaktion auf die Frage des Dorfältesten war ein kurzes, verächtliches Lachen.

»Wenn du das immer noch nicht weißt, tust du mir leid.«

Sie schüttelte kurz den Kopf und richtete ihren Blick dann auf Assanasar.

»Soll ich ihm antworten oder willst du es ihm sagen?«

Der schlitzäugige Priester hob die Arme und zuckte mit den Schultern. »Das bleibt dir überlassen, es ist schließlich dein Volk. Ich bin weder ein Angehöriger dieses Stammes, noch hat man mich um Rat gefragt. Aber ich würde dir empfehlen, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen.«

»Und das werde ich auch«, erwiderte Birka. »Denn ich werde nicht zulassen, dass diese beiden Männer wissentlich die alten Gesetze des Stammes brechen.« Dabei richtete sie den Zeigefinger ihrer rechten Hand beinahe anklagend auf Olrrak und den Vater ihres Mannes. »Wenn das geschieht, ist das Ende dieses Dorfes nicht mehr weit. Der Ältestenrat muss deshalb noch heute Nacht zusammenkommen, egal, ob es euch gefällt oder nicht.«

»Das wird er nicht«, sagte Olrrak. »Denn erstens hast du durch deine Herkunft kein Recht, den Rat einzuberufen, und zweitens gibt es keinen Grund dafür.«

»Das sehe ich aber anders!«, sagte Assanasar scharf.

Er zog die Augenbrauen hoch und wandte sich dem Dorfältesten zu. Die Blicke der Männer trafen sich.

»Eines eurer ältesten Gesetze ist das Recht des Erstlings, und wenn ich Birkas Worten Glauben schenken kann, woran ich nicht die geringsten Zweifel habe, dann hat der Bruder ihres Mannes bewusst gegen dieses Gesetz verstoßen, indem er an seiner Stelle den Bären getötet hat. Oder sehe ich das falsch?«

»Das ist richtig.«

»Warum erfolgt dann keine Verurteilung? Treibt Ihr etwa ein falsches Spiel?«

»Mitnichten, denn in diesem besonderen Fall gilt noch ein anderes, vielfach älteres Gesetz.«

Birka stieß ein hässliches Lachen aus und wandte sich wieder Assanasar zu.

»Hast du das gehört? Jetzt weißt du auch, warum ich behaupte, dass sich die jetzigen Führer unseres Volkes nicht mehr an die alten Gesetze halten, sondern sie nach ihren Regeln auslegen. Er lügt, das ist doch offensichtlich. Es wird höchste Zeit, dass mein Mann die Herrschaft übernimmt, ansonsten drohen uns dunkle Zeiten.«

»Olrrak lügt nicht!«, mischte sich Yarrakas lautstark in den Disput ein. »Bevor du dein Schandmaul weiter aufreißt, würde ich dir raten, erst einmal die Gesetze unseres Volkes zu lernen, denn dann hättest du nämlich von der Regel Ein Leben für ein Leben gehört und wüsstest, dass diese über allem steht.«

Birka wurde augenblicklich leichenblass. Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, wie sich die Erinnerung bei Yarrakas Worten in ihr Bewusstsein schlich.

Ihre Lippen formten sich zu einer ungläubigen Antwort.

»Nein«, keuchte sie verzweifelt, als könnte sie die Wahrheit nicht ertragen. »Das kann nicht sein, das hast du dir nur ausgedacht.«

»Hat er nicht!«, zischte Olrrak. »Und jetzt verschwindet oder der Ältestenrat kommt wirklich noch in dieser Nacht zusammen. Allerdings nicht, um ein Urteil über Ayrrak zu sprechen, sondern um dich und deine Brut aus dem Dorf zu weisen!«

Birka, auf deren Antlitz der Triumph inzwischen einer totalen Fassungslosigkeit gewichen war, sackte förmlich in sich zusammen. Ohne ein Wort zu sagen, verließ sie mit ihrem Anhang den Saal. Ihre Haltung glich dabei der eines geprügelten Hundes.

Anders hingegen die von Assanasar.

Er drehte sich, nachdem die anderen bereits nach draußen gegangen waren, noch einmal um, hob den Kopf und straffte die Schultern.

»Dieses Mal gehen wir, aber der Moment wird kommen, an dem ihr uns nicht mehr wie Leibeigene davonjagen könnt.« Der Priester machte eine Pause und verzerrte seinen Mund zu einem hässlichen Grinsen. »Nicht wahr Olrrak?«

Bevor der Seher antworten konnte, zuckte er unwillkürlich zusammen.

Er hatte plötzlich das Gefühl, von einem Dämon gemustert zu werden, statt von einem Menschen. Seine Beine wurden plötzlich von einer seltsamen Lähmung ergriffen, die mit jeder Sekunde mindestens einen Fingerbreit weiter nach oben wanderte. Seine Muskeln begannen ohne sein Zutun zu zittern und zucken und er hatte Mühe zu atmen. Keuchend schloss Olrrak die Augen und begann lautlos jene uralten magischen Beschwörungen zu murmeln, die schon seit Anbeginn der Existenz seines Volkes von einem Seher an den anderen weitergegeben wurden.

Olrrak spürte deutlich, wie die Lähmung daraufhin nachließ und schließlich gänzlich verschwand.

»Nicht schlecht«, sagte Assanasar mit falscher Freundlichkeit. »Ich freue mich schon jetzt auf unser nächstes Zusammentreffen.« Dann verließ auch er, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, den Saal.

Erst dann konnte Olrrak wieder frei durchatmen.

Während er auf die Tür starrte, durch die Assanasar verschwunden war, verspürte er zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Angst.