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Der Welt-Detektiv Band 6

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Diane Teil 2 – Kapitel 13

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts
Zweiter Teil

Dreizehntes Kapitel

Das Rendezvous

Wir haben die Ankunft des Rechtsgelehrten in der Dorfschenke gemeldet. Er traf um diese Zeit ein, die wir eben jetzt schildern. Der Fremde war einige Tage früher angelangt. Es konnte nicht fehlen, dass beide Reisende sich in den engen Räumen des Gasthofes trafen und dass die Begierde sich in ihnen regte, einer von dem anderen Kenntnis zu erlangen. Der Advokat war noch unschlüssig, wie er seinen Einzug in das Schloss halten solle. In dieser Ungewissheit sah er sich überall um, ob sich in seiner Nähe nicht jemand fände, der ihm zur Vollziehung seiner Pläne behilflich sein könne. Sein Blick fiel auf den Fremden, aber dessen Wesen flößte dem Mann des Rechts kein sonderliches Vertrauen ein, obwohl dieser rätselhafte Ankömmling seine äußere Erscheinung bedeutend zu seinem Vorteil verändert hatte. Die Lumpen waren gewichen und hatten einem ziemlich anständigen Anzug Platz gemacht. Es waren vom Trödler zusammengekaufte Kleider; allein der Fremde wusste sie so zu tragen, dass er, nach dem Ausspruch der Wirtin, wie ein Graf darin aussah. Sein Bart war gestutzt, das Haupthaar verkürzt, gekräuselt und geglättet. Dabei ließ der Fremde seit seiner Verwandlung Geld aufgehen. Er spielte mit dem Wirt und ließ diesen öfters gewinnen, wodurch sein Ruf auf die vorteilhafteste Weise verbreitet wurde und er Eingang in das Casino fand, das die überwinternde Badegesellschaft mit einigen Honoratioren der Gegend bildeten.

Hier wurde er nun ein fashionabler Gesellschafter und gewann die Teilnahme einiger ältlichen, unverheirateten Damen, die in ihm einen sehr liebenswürdigen Kavalier entdeckten. Er nannte sich Herr von Seller und gab vor, ein verabschiedeter Offizier zu sein. Mit dem Geld, das in die Taschen dieses interessanten Fremdlings strömte, wuchs auch sein Ansehen in der Dorfschenke. Es wurde ihm zu Ehren eine eigene Speisekarte gegründet und mit großen Buchstaben die Lieblingsgerichte des Fremden darauf verzeichnet.

Allein Herr Lobmeyer war nicht so leicht zu gewinnen. Er fand ein sehr wohl begründetes Ärgernis an dem plötzlichen Geldbesitz und an dem Gesicht des Fremden. Er kannte diese Gattung frecher, irregehender Augen aus langer Praxis nur zu wohl. »Was mag er nur hier wollen«, murmelte er für sich. »Ich sehe ihn in der Dunkelheit immer fortschleichen, und zwar in die Gegend des Schlosses hin. Sucht er dort jemand? Vielleicht gar dieselbe Person, die ich suche? Es käme darauf an, ihm einmal nachzuschleichen. Mir ahnt wahrlich bei diesem Spitzbuben, welche Wege er geht.«

Den nächsten Abend nach dieser Betrachtung steckte der Advokat seine Reisepistole zu sich. Als der Fremde das Haus verließ, schlüpfte auch er aus der Gartenpforte. Er hatte sich in einen langen, grauen Überrock gehüllt, der ihn in der Dämmerung unkenntlich machen sollte. Der rätselhafte Fremde schlug den Fußpfad ein, den er immer zu wandeln pflegte, und eilte auf diesem mit solcher Behändigkeit fort, dass der Advokat Mühe hatte, ihm zu folgen. Das erste Mondviertel, über die Fichtengipfel aufsteigend, sendete ein zweifelhaftes, blasses Dämmerlicht auf den unebenen Pfad. Mehr als einmal war der Advokat, der nicht die Fertigkeit seines Mitwanderers hatte, über Baumwurzeln und Steine hinweg zu hüpfen, nahe daran, zu fallen. Nackte Äste schlugen ihm ins Gesicht, ein kalter feuchter Wind fuhr mit unheimlichem Geflüster über ihn hin. Der Fremde mäßigte die Eile seines Ganges, als er in die Nähe des Schlosses kam. Er blieb stehen und schien zu lauschen. Sein Nachfolger drückte sich während solcher Pausen vorsichtig ins Gebüsch, um nicht gesehen zu werden. Es war still, man hörte nur entferntes Hundegebell aus dem Dorf herüberschallen. Das Meer musste besonders hoch gehen, denn sein Rauschen war bis hierher vernehmbar. Jetzt stand das Schloss in seiner ganzen Ausdehnung da, wie ein dunkles Gebirge mit tausend Zacken und Spitzen, schwarz im Schoß der bewegten Waldnacht, die um ihn her rauschte. Des Mondes Sichel schwebte darüber hin, wie der kleine gebrechliche Kahn eines Fischers über die Schrecknisse der Tiefe dahingleitet. Die Fenster des Schlosses waren sämtlich dunkel, nur in dem linken Flügel brach ein Lichtschein hinter Vorhängen hervor und bildete ein rotglühendes Auge, das in die Dunkelheit blickte. Hier saß die Fürstin bei ihrer Toilette, denn sie hatte sich eben von ihrer sogenannten Nachtruhe, die eigentlich eine Tagesruhe war, erhoben.

Der Fremde machte bei einem Gitter Halt, das in einiger Entfernung vom Schloss die neuangelegten Parkanlagen umzäunte. Nochmals sah er sich spähend um. Als er niemand in seiner Nähe gewahrte, schwang er sich mit einem kecken Satz über das Gitter und befand sich nun jenseits desselben in einem dunklen Bogengang, in dessen schwärzliche Schatten kein Strahl des Mondes drang. Er stand hier unbeweglich wohl eine Viertelstunde lang, bis endlich ein leiser Laut durch die Nacht, fast wie ein Rufen klingend, hörbar wurde, auf dessen Ertönen er unter dem Schatten der Bäume hervortrat und sich in die Mitte des Ganges stellte, den Rücken dem Advokaten zugewendet, der, leise heranschleichend, hinter dem Vorsprung eines Mauerstücks Platz fand. Eine weibliche Gestalt, in einen Mantel gehüllt, näherte sich rasch aus der Tiefe des Baumgangs heran und blieb in einiger Entfernung von dem Fremden stehen, gleichsam, als erwartete sie von diesem ein erneuertes Zeichen, um vollends heranzukommen. Der Fremde gab dieses Zeichen, indem er einige Schritte vorwärts tat, worauf die Gestalt im Mantel auf ihn zueilte. Der Advokat warf sich mit der größten Anstrengung über einen Teil der Mauer hin, um zu sehen und zu hören, was zwischen diesen zwei Personen verhandelt werden würde, denn die verhüllte Gestalt erschien ihm bekannt und rief seine volle Aufmerksamkeit wach. Er vernahm folgendes Gespräch.

»Nun, meine schöne Komtesse, Sie haben mich etwas warten lassen. Ah, ma belle, das ist nicht wohl getan. Es ist ein verwünscht kalter Wind und ich habe meinen Überrock zu Hause gelassen.«

Die verhüllte Gestalt zögerte mit ihrer Antwort. Endlich wurde eine leise Stimme vernehmbar, welche die Worte sprach: »Ich hoffe, dass du heute zum letzten Mal hier erscheinst.«

»Das hängt ganz von dir ab, kleine Prinzessin«, tönte die Antwort mit einem höhnenden Gelächter. »Du weißt, dass ich mich nicht mit dem Bettel begnüge, den du aus deinem Beutel mir zugeworfen hast. Par bleu! Es lohnte sich auch um einen lumpigen Bankzettel von hundert Talern, hier auf der Landstraße zu erfrieren. Ich sage dir, meine Schöne, dass ich kein Almosen begehre, sondern vielmehr meinen Anteil an der Beute. He! Verstanden?«

Die Verhüllte schwieg. Sie hatte sich an einen Baumstamm gelehnt. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrem Busen. Der Fremde, die Hände auf der Brust verschränkt, stand in übermütiger Stellung da. Während er seine Blicke scharf auf den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit richtete, gab er zugleich einen spottenden, kreischenden Ton von sich, der schauerlich durch die Einsamkeit der Nacht klang. Da jene noch immer schwieg, sagte er: »So haben wir nicht gewettet, meine teure Gräfin, der Simeon ist kein Narr. Er ist ein armer Teufel, der nicht die gehörige Besonnenheit hat, sich Grafentitel zu erschleichen, wie gewisse andere Leute, der aber immer den Mut hat, einer lustigen Dirne ihr Handwerk zu legen. Ich sage dir, Judy, ich will nicht verhungern. Solange du einen Bissen Brot hast, solange werde auch ich welches haben.«

»Ungeheuer!«, stöhnte die weibliche Stimme, »so willst du mich verderben? So soll denn alles verloren sein! Willst du mein Werk zerstören, mich mit Schande brandmarken?«

»Das will ich nicht, Judy. Bei meiner Ehre, das will ich nicht!«

»Bei deiner Ehre! Ein schöner Schwur. Warum verfolgst du mich denn, Elender? War es nicht genug, dass du meine Ehre aufs Spiel setztest im Schloss der Fürstin? Kommst du auch hierher mir nach, und gerade jetzt, wo alles auf dem Spiel steht, wo die kleinste Entdeckung mich in die bodenlose Tiefe des Verderbens stürzen muss? Siehst du nicht ein, wahnsinniger Mensch, wie entsetzlich du mich peinigst?«

»Gebiete nur, Judy, und ich entferne mich.«

»Hab ich dir nicht längst geboten, dich nie wieder in meiner Nähe blicken zu lassen?«

»Das hast du allerdings, süßes Kind. Allein du hast vergessen, mich mit den gehörigen Wechseln auszustatten, die es möglich machen, dass ich entfernt von dir leben kann.«

»O Himmel, und ich gab dir doch alles, was ich hatte!«

»Alles, was du hattest!«, flüsterte der Fremde, indem er mit einem raschen, wilden Schritt auf die Verhüllte zuschritt. »Alles, was du hattest, Judy? Du lügst. Mir gehörst du, mir! Dein Leib, dein Leben, dein Gut, dein Blut. Als wir arm waren, beide auf der Landstraße bettelten und den halbverhungerten Vater hinter uns herzogen, als die Gerichte unsere Spur verfolgten, als der nächste Morgen uns im Halseisen und auf dem Pranger hätte sehen können. Damals war ich für dich eine gute Kameradschaft, damals tönte von diesen Lippen der Schwur, ewig an mir zu halten, mich nie zu vergessen. Ein Brot, einen Rock – ein Bett wollten wir einst miteinander teilen! He! Weißt du noch, als ich den Hegereiter ins Bein schnitt, um ihn zu verhindern, dich und deinen Vater einzufangen? Weißt du das noch? Nun gut, hier stehe ich und fordere meinen Lohn. Ich bin arm, ich bin verraten, ich bin verfolgt, ich habe keinen ganzen Rock am Leib, allein ich bin immer noch dein Genosse, dein Kamerad. Wenn du nicht dein Geld mit mir teilen willst, gut, süßes Kind, so teile mit mir ein vergittertes Stübchen im Gefängnis.«

»Großer Gott, still! Willst du mich auf der Stelle morden!«, flüsterte die Verhüllte.

»Sei ruhig. Es hört uns niemand. Nun, schnell, erkläre dich.«

»Ich besitze nichts, gar nichts. Du glaubst, dass ich Schätze bewahre, ich habe keine. Ich kann dir schwören, ich habe keine. Das Geld, das du von mir erpresst hast, während der Zeit, dass du in der Nähe weilst und mir deine fürchterlichen Besuche abstattest, ist alles, was ich hatte.«

»Ich bin kein Advokat«, brummte der Mann vor sich hin. »Ich weiß nicht, wann man dich in dein Erbe einsetzt. Vielleicht geschieht es gar nicht und man gibt das Geld deinem Mann, der es in die Koffer schließt. All das weiß ich nicht und kann dich daher nicht Lügen strafen, wenn du mir sagst, du hast kein Geld. So gib mir denn deinen Schmuck. Ich weiß, dass du vor wenigen Tagen einen köstlichen Brautschmuck erhalten hast. Gib ihn mir. Steine sind so gut wie Geld. Ich gehe nach Belgien, dort kenne ich einen Juden, der früher bei unserem Geldgeschäft auch beteiligt war und viel bei dem falschen Geld gewonnen hat. Er wird mir ohne Gefahr die Steine abnehmen.«

»Bist du von Sinnen? Meinen Brautschmuck soll ich dir opfern?«

»Ja, mein goldenes Täubchen. Dann bist du mich für deine ganze Lebenszeit los und kannst frei unter deiner Grafenkrone atmen.«

»Nimmermehr!«

»Goddam! Wie die Weiber einfältig sind. Du kannst ja irgendeinen Grund erfinden, warum du den Schmuck nicht anlegst. Du machst die Bemerkung, dass du nicht gern Diamanten trägst. Du erscheinst im einfachen Brautkleid und bist darum vielleicht gerade desto schöner. Niemand wird dich fragen, ob in dem Kästchen wirklich noch der Schmuck liegt. Sieh, mein Täubchen, und ich, dein Bruder, dein Freund, dein Geliebter, ich bin geborgen für Lebenszeit. Ich, der Retter deines Vaters, habe keine Sorgen mehr, keine Verfolgungen, ich kann in Muße ein Gläschen Wein trinken auf die Gesundheit meiner schönen Komtesse.«

»Ich sage dir, Simeon, nie, nie werde ich eine so nichtswürdige Handlung begehen.«

»Du willst nicht, Judy?«

»Nein.«

Eine Pause erfolgte, während die beiden dunklen Gestalten sich regungslos gegenüberstanden.

Dann rief der Fremde in einem kurzen und trockenen Ton: »Nun gut, so hast du deine Rolle ausgespielt, Mädchen.«

»Simeon! Was willst du damit sagen?«

»Dass ich den Grafen über gewisse, ihm sehr wichtige Dinge belehren werde.«

Die Verhüllte warf sich mit einer leidenschaftlichen Bewegung auf den Fremden. Da dieser auswich, fiel sie zu dessen Füßen nieder. »Simeon!«, rief sie mit leiser, aber in tiefster Seele erschütterter Stimme, »Simeon, ich flehe dich an, ich umschließe deine Knie, ich beschwöre dich bei allem, was dir noch irgend teuer und heilig ist. Bringe mich nicht zur Verzweiflung. Beende diese Qualen, die ich nicht mehr zu ertragen vermag. Wenn du wüsstest, was ich diese ganze Zeit über, wo du zum ersten Mal als mein Verfolger erschienst, gelitten habe, wie der Schlaf meiner Nächte, wie die Ruhe meiner Tage gemordet ist, wie ich überall das Schreckbild der Schande, der Entehrung vor mir sehe, wie ich überall dein Antlitz sehe! Aus allen glänzenden Gesichtern, die mich umgeben, heraus immer dein entsetzliches, drohendes Auge, dein fürchterliches Grinsen! Ach, ich würde mein Blut hingeben, dich zu befriedigen, allein deine ewige Geldgier sagt mir, dass ich nie von dir befreit sein würde, wenn ich dir auch Haufen Geldes in den Schoß würfe. O, habe Erbarmen, lass mich, gib mich auf. Quäle mich nicht länger! Bei dem Angedenken unserer Jugend, bei den früheren Stunden, wo noch Tugend und Liebe in dein Herz Eingang fanden, wo noch ein Gebet auf deinen Lippen weilte, quäle mich nicht länger. Entferne dich! Ich kann, ich darf dir nicht helfen! Simeon, lass diese fürchterliche Stunde die letzte sein, wo wir eine ebenso unnütze, als frevelhafte und peinvolle Zusammenkunft halten. O, ich werde dich meinen Retter, meinen Engel nennen, nur verlasse mich!«

Ein schwacher Strahl des Mondes glitt durch die dichten Zweige und zeigte ein bleiches schönes Mädchen-Antlitz, in Kummer und Leidenschaftlichkeit getaucht. Die Lippen bebten, das Auge starrte, die Arme waren krampfhaft erhoben.

Der Fremde, schien es, betrachtete dieses alles, ohne im Geringsten gerührt zu werden. Er ließ wieder jenes kreischende Lachen erschallen und rief dann: »Wie doch das Wohlleben die Weiber verzärtelt. Schäme dich, Judy, du bist nicht mehr das kecke wilde Mädchen, das sich jeder Gefahr hingab, das viel lieber sich dem Tod in die Arme geworfen hätte, als vor irgendeinem Menschen zu knien. Steh auf, ich kann dir deine Bitte nicht gewähren. Es tut mir leid, ich muss aber Geld haben. Sieh einmal, ma belle, wie schön ausgedacht das ist! Dein Engel, dein Retter soll ich sein! Daraus wird nichts. Höre mein letztes Wort. Morgen komme ich wieder an diese Stelle, und kommst du mir da nicht mit deiner Steinsammlung entgegen, so weißt du, was ich tue. Ich bringe dann meinerseits ein Hochzeitsgeschenk und bin überzeugt, dass deiner neuen Sippschaft mein Geschenk behagen wird. O pfui! Einen alten Kameraden und Bruder so im Stich zu lassen!«

Er wandte sich zu gehen, als die Verhüllte, am Boden fortrutschend, sich vergeblich mühte, nochmals ihre Bitten und Beschwörungen zu erschöpfen. Ein Tritt des Fußes war alle Antwort, die ihr zuteilwurde. Der Fremde übersprang das Gitter.

Der Advokat ließ ihn sich entfernen, ehe er es wagte, seinen Standort, der auf die Länge sehr unbequem war, zu verlassen. Als er sich von der Mauer herabließ, glaubte er, einen dunklen Schatten zu bemerken, der schnell an dieselbe hinhuschte. Die Dame entfernte sich langsam den Bogengang hinab. Tiefe Stille umlagerte wieder diesen Ort eines geheimnisvollen und nichts weniger als verliebten Stelldicheins. Herr Lobmeyer fand bald den Zusammenhang und die Erklärung dieser Szene. Sie verschaffte ihm einen höchst willkommenen Beitrag zu den geheimen Akten seines Prozesses. Es war demnach nicht länger zu zögern. Simeon war ein Mitschuldiger Judiths, er war ein brutaler Taugenichts, von seiner Rache war alles zu fürchten. Der Advokat zitterte bei dem Gedanken, ein gemeiner Dieb könne ihn um die Früchte seiner schlauen Erfindungsgabe und seiner feinen rabulistischen Künste bringen. Morgen hatte jener Freche wiederkommen wollen, es musste also Herr Lobmeyer sich Eingang bei Judith noch vor der angegebenen Frist verschaffen. Der Zufall war ihm günstig. Bei Tagesanbruch traf ein Bote vom Schloss ein, der den Auftrag hatte, aus dem nahen Städtchen den Arzt zu rufen, weil die junge Gräfin erkrankt war. Er fand ihn nicht zu Hause, und sogleich war des Advokaten Plan gefasst. Er hatte den Arzt als einen Universitätsfreund wiedererkannt, demnach glaubte er auf dessen Namen hin, sich einen unschädlichen Betrug erlauben zu dürfen. Er gab sich für einen Gehilfen seines Freundes aus und fand ungehindert Eingang ins Schloss. In die Zimmer des jungen Grafen geführt, fragte ihn dieser: »Sie sind Herr Marlitz?«

»Nur sein Freund, ebenfalls Arzt«, war Herr Lobmeyers Antwort. Ich begleitete Herrn Marlitz hierhe, und kehre sofort nach Berlin zurück. Er gab mir den Auftrag, in seiner Abwesenheit dringenden Anfragen Genüge zu tun.«

»Meine Braut ist seit gestern unwohl«, hob der Graf an, »ich fürchte, dass sie sich auf einem Spazierritt erkältet hat. Ich will Sie zu der Gräfin führen.«

Er schritt voran. Die Tür eines eleganten Salons öffnend, rief er zu einer Dame, die auf dem Sofa lag: »Meine Teure, hier ist der Arzt.«

Judith machte eine schwache Begrüßung, als sie den fremden Mann eintreten sah. »Lieber Graf«, sagte sie, »ich versicherte Ihnen doch, dass ich dieses Besuchs nicht bedürftig sei, dass mein Übel sehr unbedeutend, dass einige Stunden genügten, mich vollkommen herzustellen.«

Ernst antwortete nicht, sondern heftete seine Blicke auf Herrn Lobmeyer, der die Hand Judiths gefasst hatte und ihr an den Puls fühlend eine bedenkliche Miene machte.

»O, wie lächerlich!«, rief Judith, »ich sage Ihnen, mir fehlt nichts.«

Der Advokat sah den Grafen mit einer Miene an, die dieser sogleich deutete, wie sie gedeutet werden sollte. Er stand auf. Unter dem Vorwand, das Kammermädchen zu rufen, entfernte er sich und blieb weg. Herr Lobmeyer befand sich nun mit der Tochter Florentins allein. Er fühlte die Schwere und Wichtigkeit des Moments. Seine kleinen grauen Augen waren mit einem stechenden Blick auf die junge Dame gerichtet, die ihren Gedanken nachhängend und sich durchaus nicht um die Gegenwart des aufgedrungenen Helfers kümmernd, vor sich hin blickte und mit den Blättern eines Buches spielte. Ihr Antlitz war bleich, ihr Auge starr. Ein stärkerer Druck auf die Pulsader erweckte sie aus ihren Träumereien, sie zog schnell die Hand weg und rief: »Mein Herr, ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen, allein nochmals, es ist völlig unnütz. Ich befinde mich vollkommen wohl.«

»Vollkommen wohl?«, rief der Advokat mit einer Stimme, die plötzlich die Aufmerksamkeit der Kranken auf ihn hinleitete. »Kann man mit diesen fieberischen Puls sich wohl befinden?«

Judith hatte die Züge des Mannes genau betrachtet. Da sie ihr aber durchaus unbekannt waren, beruhigte sie sich wieder, und nach Verlauf weniger Sekunden war sie wieder in ihre Träumereien versenkt.

»Ich komme als Arzt hierher«, hob Herr Lobmeyer wieder an, »ich wünschte Sie gesund, für immer gesund zu machen.«

»Gesund? Für immer? Wer vermöchte das?«

»Ich, wenn Sie mir völlig vertrauen, Gräfin?«

»Sie?«

»Nicht wahr«, fuhr der Advokat fort, indem er Judiths Hand ergriff, »ich bin nicht der erste Arzt, der so viel verspricht? Aber ich werde der Erste sein, der das hält, was er verspricht.«

»Ich verstehe Sie nicht, mein Herr. Was soll diese feierliche Sprache?«

Herr Lobmeyer setzte sich ganz nahe dem Sofa. Er versuchte es, eine gemütliche, ungekünstelte Miene anzunehmen, eine Miene, die Vertrauen und Zuversicht erweckt, allein, er brachte nur eine unverständliche Grimasse hervor, die auf Judith einen unangenehmen Eindruck machte.

»Mein Herr, wollen Sie die Güte haben, die Klingel zu ziehen«, rief sie, indem sie auf dem Sofa etwas weiter fortrückte.

Herr Lobmeyer blieb sitzen und spielte mit dem Bändchen seines Stocks.

Judith wollte aufspringen, da hielten sie die derben Hände. Eine gebieterische Stimme rief: »Bleiben Sie, bleiben Sie! Was ich Ihnen zu sagen habe, fordert eine einsame, durch nichts gestörte Stunde.«

»Ich begreife nicht …«, rief Judith und warf einen stolzen, unwilligen Blick auf ihren unwillkommenen Gast.

»Sie sollen mich anhören, doch muss ich Ihr Zutrauen besitzen, schöne Dame, hören Sie, Ihr Zutrauen.«

»Zurück, mein Herr, verlassen Sie mich.«

»Ich finde das spaßhaft. Ein Arzt in einem sicheren Zimmer, mit einer schönen Dame eingeschlossen, darf sich schon etwas erlauben. Geben Sie mir Ihre Hand, Gräfin, Ihre Hand.«

Judith, ohne ein Wort zu sagen, sprang auf und war eben im Begriff, mit einem heftigen Zug die Klingel in Bewegung zu setzen, als ihr der Advokat nachschlich, in der Mitte des Zimmers stehen bleibend, ein feines, aber durchdringendes Spottlachen ausstieß, und dann sagte, indem er eine Hand ausstreckte: »Gut, gut, ziehen Sie die Klingel, Gräfin, rufen Sie die Leute im Schloss herbei, sie sollen uns beide beisammen sehen. In aller Gegenwart will ich Ihnen das Rezept schreiben, das zu Ihrer Heilung nötig ist, und dass darin besteht, dass ich Ihnen einen Spaziergang im Park heute um neun Uhr erspare.«

Der gehobene Arm Judiths sank von der Klingel zurück. Sie wandte sich um und sah totenbleich in das Gesicht des rothaarigen Kobolds, der vor ihr stand und sich vor Spottlust nicht zu lassen wusste.

»Was ist das!«, rief sie und trat einige Schritte zurück.

»Nichts, als dass ich ein Wörtchen im Vertrauen«, erwiderte der Advokat, indem er sich auf die Fußspitze richtete, um in Judiths Ohr zu flüstern, »mit der Tochter des Verbrechers zu sprechen habe.«

Wie von einer giftigen Schlange gebissen, zuckte Judith zusammen und blieb in einer gebrochenen Stellung stehen, die Arme schlaff am Leib herabhängend, die Blicke vor sich hinstarrend.

»Wollen Sie noch die Klingel ziehen, teure Gräfin?«, fragte Herr Lobmeyer, »oder soll ich es für Sie tun? Befehlen Sie nur.«

Ein dunkler Blick voll Zorn und geheimen Schmerzen, war die Antwort auf diese Frage. Judith winkte dem Advokaten, zu seinem Platz zurückzukehren, und setzte sich selbst wieder aufs Sofa, indem sie ihr Antlitz mit dem Tuch bedeckte.

»Ich bin kein übler Arzt«, hob der Advokat wieder an, wohlgefällig sein Opfer betrachtend. »Wahrlich, ich könnte eine artige Praxis haben, wenn ich nur wollte. Ich könnte ein Magnetiseur der ersten Klasse werden. Wer möchte sich schmeicheln dürfen, eine so plötzliche und willkommene Wirkung hervorzubringen, wie sie mir eben gelungen ist? Allein die Zeit vergeht, meine Dame! Die kostbaren Minuten, die wir ungestört miteinander verkehren, kommen nicht wieder. Von dieser Stunde hängt die Ruhe, das Glück von Jahren, ja vielleicht von einem Menschenleben ab. Also Mut gefasst! Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?«

»Ich werde Ihnen nie auf diese Fragen antworten«, sagte Judith, mühsam ihre Fassung wiedergewinnend. »Mit welchem Recht wenden Sie sich an mich?«

»Mit dem Recht eines Freundes, und wenn Sie wollen, eines Bundesgenossen«, erwiderte der Advokat. »Kein Wort mehr der Verheimlichung. Ich weiß alles. Sie bedürfen eines Mannes, dem Sie Ihr Vertrauen schenken können, ich bin ein solcher. Mein Name ist Lobmeyer und mein Ruf als Advokat hat, wie ich glauben darf, einiges Gewicht. Die Gegenpartei hat mich erkaufen wollen. Es wäre nichts leichter gewesen, als mit meiner Kenntnis der wahren Begebenheiten, mit der Fähigkeit der Beweisführung, dass das echte Kind noch lebt und zu finden ist, der Sache sogleich und auf immer ein Ende zu machen. Allein ich gestehe es, die Kühnheit und der Mut haben für mich eine große Anziehungskraft. Ich finde diese Eigenschaften in Ihnen und es lockt mich zu Ihrer Hilfe herbei.«

Diese Worte wurden an Judiths Ohr hingeflüstert. Die Tochter Florentins, als jeder dieser verzehrenden Gifttropfen in ihre Seele gefallen war, erhob sich und sah mit einem Blick des tiefsten Entsetzens den Mann an, der gekommen war, um alle Qualen der Hölle über sie zu bringen. Sie blickte in diese zusammengekniffenen Augen, die von keinem menschlichen Gefühl zeugten, in denen nur ein kalter boshafter Strahl zuckte. Sie wandte sich schaudernd hinweg.

Doch zwang sie sich von Neuem, in dieses verhasste Antlitz zu sehen. Nun fand sie etwas darin, das ihr Mut und Hoffnung einflößte. Dieser Mann war offenbar nicht erschienen, um ihr Ankläger zu werden. Er war gekommen, um sie zu retten, und diese Rettung musste erkauft werden.

Hierüber konnte kein Irrtum walten. Wäre Judith in ihrem Recht gewesen, sie wäre als ein Opfer dieses Betrügers gefallen. Allein mit ihm eine Straße wandelnd, wusste sie, wie weit sie ihm gefahrlos folgen dürfe. Noch eine Frage tat sie, um ihrer Sache gewiss zu sein. Es betraf die gestrige Zusammenkunft mit Simeon, und der Advokat wiederholte ihr das erlauschte Gespräch. Nun änderte sie ihr Wesen. Ihre Stimme, früher laut und gebieterisch, wurde leise, flüsternd. Sie wandte sich nicht mehr ab mit den Zeichen stolzer Verachtung von einem Mann, der nun als ein willkommener Rettungsbote erschien, dem sie die langverhaltenen Qualen und Zweifel ihres Busen mitteilen konnte.

»Sie sehen«, hob der Advokat nach einer Pause an, nachdem er mit Zufriedenheit die Wirkung seiner Worte beobachtet hatte, »dass es unnütz ist, mir irgendetwas zu verheimlichen.«

»Ich fürchte nur«, rief Florentins Tochter, indem sie, blass und zitternd, sich auf Herrn Lobmeyers Schultern lehnte: »Sie kommen zu spät. Dieser wahnsinnige Mensch, der sich Ihnen gestern in seiner wildesten Laune gezeigt hat, hält mich und wird mich nicht frei lassen.«

»Er wird – er wird! Verlassen Sie sich auf mich.«

»Wenn Sie das könnten!«, rief Judith.

»Ich werde es können! Und warum soll ich es nicht können? Sie sehen diesen Simeon nie wieder, Sie sehen das betrogene Kind, das Sie um sein Erbe brachten, nie wieder! Sie sind Gräfin Windeck und werden es bleiben! Das alles kann ich.«

Judith drückte die Hände auf die Brust, als ob eine schwere Last plötzlich von ihr abglitt. Der Advokat sah sie mit Lächeln an. »Aber wenn ich es kann«, setzte er hinzu, »so kann ich es nur, wenn man mich dafür belohnt. Ich spreche sehr offen mit Ihnen, liebes Kind, und wozu auch der Hinterhalt. Es wäre lächerlich, wenn wir, beide gleich mutvoll und kühn, noch ein Spiel feigen Versteckens miteinander spielen wollen. Nun denn, wie viel gedenken Sie mir zu geben, wenn ich jene obigen Resultate herbeiführe.«

»Ich besitze nichts«, rief Judith!

»O, zum Geier!«, kreischte der Advokat und warf sich auf den Stuhl zurück. »Mit dergleichen kommt man mir nicht. Sie besitzen nichts! O, das ist zum Totlachen. So konnten sie gestern Abend dem Vagabunden antworten, der Ihnen plumper Weise Ihre Diamanten abforderte. Aber mir dürfen Sie das nicht sagen. Verstehen Sie, mir nicht. Ich sehe, ich muss in einem anderen Ton mit Ihnen sprechen. Ich fordere fünfhundert Taler lebenslänglich jährliche Rente. He! Hat man mich verstanden?«

»Fünfhundert Taler jährlich …!«, rief Judith.

»Ah, Sie haben recht«, fiel der Advokat rasch ein. »Diese Summe dünkt Ihnen zu wenig. Wir wollen tausend Taler setzen.«

Judith sprang auf und rief: »In welche Hände bin ich gefallen! Wo ich hinblicke, Tod – Verderben!«

»Ganz wie Sie wollen, Mademoiselle. Ich werde dann nicht weiter inkommodieren.«

»Bleiben Sie, nur einen Augenblick – lassen Sie mir Zeit zum Überlegen. Welche Sicherheit kann ich Ihnen gewähren? Sprechen Sie.«

Der Advokat legte seinen Hut hin, brachte ein zierlich gefaltetes Papier aus der Tasche und legte es auf den Tisch, indem er zugleich eine Feder eintauchte.

In diesem Augenblick wurde die Tür halb geöffnet. Der junge Graf, ins Zimmer blickend, rief lächelnd: »Nun, wird die Beichte nicht bald vollendet sein?«

»Ich bin eben daran, das Rezept zu schreiben«, antwortete Herr Lobmeyer mit einer tiefen Verbeugung.

Die Tür schloss sich wieder, und der Advokat reichte die Feder hin. »Unterschreiben Sie«, flüsterte er. »Wir haben keine Zeit zu verlieren, Sie sehen es.«

Judith überlas die wenigen Zeilen. Sie enthielten eine in aller Form aufgesetzte Übermachung der geforderten Leibrente. Sie setzte den Namen der Gräfin von Windeck darunter. Der Advokat faltete das Papier mit großer Befriedigung wieder zusammen und schob es in die Tasche. »Ich bin ein seltsamer Arzt«, sagte er lächelnd, »ich nehme ein und Sie werden gesund. Jetzt bleiben Sie die Gräfin, denn wenn Sie es nicht mehr wären, so verschwände zugleich mein Jahresgehalt.«

Judith stand noch am Tisch. Sie warf einen langen, forschenden Blick auf den Mann des Gesetzes. Herr Lobmeyer kehrte um und flüsterte, indem er sich an Judith hinan drängte. »Wo dachten Sie hin, als Sie das Unrecht tun wollten, ohne die Hilfsmittel, die Ihnen die Justiz bietet, zurate zu ziehen? Kennen Sie die Welt so wenig? Nur dasjenige Unrecht duldet sie, dass das Recht mit seinem Stempel versehen hat. Sie brechen keck und waghalsig in ein Haus ein, um einen Schatz zu rauben, während Sie für ein Geringes sich von den bestellten Wächtern die Erlaubnis erkaufen können, am hellen Tag und ohne sich nur den Finger zu ritzen, das Doppelte an Wert ruhig fortzutragen. Man muss die Anstalten, die die Kultur getroffen hat, hübsch benutzen. Diese Lehre gebe ich Ihnen, mein kühnes Mädchen für die Folgezeit. Machen Sie sich übrigens über die tausend Taler, die Sie jährlich weniger haben werden, keine Sorge. Ich lebe nicht lange – nein, nein! Der Kummer, die Aufopferung, des Tages Last und Mühe haben mich frühzeitig altern lassen. Ich ernähre meinen alten Vater, den ich grenzenlos liebe, ich habe teure Verwandten, die über meine Börse, meine Zeit und meine Kräfte unbeschränkt gebieten. Mit solchen Aufopferungen lebt man nicht lange.«

Mit diesen Worten empfahl sich der Advokat. Im Vorsaal richtete er seine gebeugte Gestalt auf, warf sich in die Brust. An einem Spiegel vorbeischreitend, lächelte er, indem er die Worte vor sich hinmurmelte: »Warte nur, ich lebe dir zum Possen noch hundert Jahre.«