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Jack Lloyd Folge 49

Jack Lloyd – Im Auftrag Ihrer Majestät

Ungeahnte Seiten

Señora de la Vega geleitete Jack aus dem Gouverneurspalast. Sie lächelte nur, als er ihr erklärte, dass er eine Kutsche mitgebracht hätte und das einer seiner Diener es heute übernehmen würde, sie zu den Orten zu bringen, die sie ihm zeigen wolle. Es schien in ihrem Sinne zu sein, dass kein Bediensteter ihres Vaters sich heute in ihrer Nähe aufhielt. Jack, der noch immer ganz benommen war von dem Anblick, der sich ihm bot, fragte sich, was genau Maria vorhaben mochte. Die junge Frau trug ein Kleid, das bequemer saß als die Kleider, welche die Damen zu dem Abendessen kürzlich getragen hatten. Was Jack aber ebenso fesselte wie auch verwunderte, war die Menge, die dieses Kleid unverdeckt ließ. Zwar reichte es bis zum Boden, war jedoch bis knapp unter der Hüfte geschlitzt. Und auch am Oberkörper lag es eng an und gewährte ihm so zwar keinen tiefen Einblick, dafür aber eine Ahnung ihrer Körperkonturen, die bereits ausreichte, um ihn mehr zu verwirren, als er sich hätte vorstellen können. Dass der Gouverneur ihn zuvor an die Ehrhaftigkeit seiner Tochter erinnert hatte, klang unter diesem Gesichtspunkt wie purer Hohn in den Ohren des Kapitäns.

Sie verließen den Palast und stiegen in die Kutsche, wobei Jack seiner Begleiterin wie ein echter Edelmann seine Hand als Stütze anbot. Dann erklärte Pablo, der noch immer auf dem Kutschbock saß, wohin er sie bringen sollte. Die Stadtrundfahrt begann. Anfangs waren die beiden jungen Leute sehr einsilbig, wobei Jack schnell bemerkte, dass Maria ihm immer wieder verstohlene Blicke zuwarf, die er nicht deuten konnte. Oder wollte er sie einfach nicht verstehen? Der Gedanke, dass diese Blicke das sein könnten, wonach sie aussahen, war für den Piratenanführer einfach zu unglaublich. Er kannte aus seinem früheren Leben Frauen von der Abstammung Marias. Keine von ihnen hätte sich so verhalten wie diese junge Señora. Ihr Betragen erinnerte ihn eher an eine einfache Dirne aus den Spelunken am Hafen von Port Royale. Aber andererseits, war das so abwegig? Das Ziel, das Maria offenbar seit ihrem ersten Aufeinandertreffen verfolgte, war ja kein anderes, als das, was eine solche Dirne verfolgte. Vielleicht mit dem Unterschied, dass die leichten Frauen in den Tavernen mit einer Nacht und der dazugehörigen Bezahlung zufrieden waren. Maria wollte mehr. Sie sehnte sich so sehr danach, diese kleine unbedeutende Stadt zu verlassen, dass sie bereit war, sich einem Mann an den Hals zu werfen, nur weil er ihr die Aussicht bieten konnte, ihre Ziele zu erreichen. Dass da in den Augen Marias außer der offensichtlichen Einladung auch noch ein Funke von etwas anderem steckte, nahm der junge Engländer nicht wahr.

Als die Kutsche das Hafenviertel erreichte, schoben sie die Vorhänge vor den Fenstern zur Seite. Maria erklärte ihrem Gast einzelne Häuser, an denen sie vorbeifuhren. Da waren Kontoren wichtiger Kaufleute, Lagerhäuser, in denen derzeit verschiedene Dinge für die großen Festtage gelagert wurden, eine kleine Wachstube, in der die Hafenwache ihren Sitz hatte, und die Büros der Schreiber und Beamten der Krone, die dafür verantwortlich waren, dass alle Waren, die im Hafen umgeschlagen wurden, entsprechend versteuert wurden. Nachdem sie das Hafenviertel verlassen hatten, fuhren sie zur größten Kirche in Caracas. Hier stiegen die beiden aus und betraten das Gotteshaus, wo sie ein kurzes Gebet sprachen. Dann setzten sie ihre Fahrt fort. Sie verließen Caracas und fuhren durch die Felder, die die Stadt umgaben, bis zu einem großen Anwesen eine ganze Strecke außerhalb der Stadt. Die Plantage wirkte verlassen. Auch hier stiegen sie aus und Maria zeigte Jack, der immer größere Mühe hatte, in ihrer Gegenwart den Edelmann Miguel de Mendoza zu spielen, was hier einmal für eine beeindruckende Feldwirtschaft betrieben wurde.

»Caracas ist das, was Ihr hier seht, Señor.«

»Wie meint Ihr das, Señora de la Vega?«

»Wollt Ihr mich nicht endlich Maria nennen, Señor Miguel?«, fragte Maria ihren Begleiter völlig überraschend. Jack warf den Blick zu Boden und nickte einfach. Maria, die merkte, dass sie keine direkte Antwort erwarten durfte, fuhr in ihrer Erklärung fort.

»Caracas war einmal eine wachsende und starke Gemeinde hier in der Karibik. Aber dann fiel das Monopol der spanischen Krone auf den Seehandel in diesem Teil der Welt. Es war plötzlich kein Verbrechen mehr, wenn diese Würmer von ausländischen Handelsseglern in unseren Gewässern ihre Waren kauften und verkauften. Ein Großteil der Steuereinnahmen der Stadt ging verloren und Caracas begann auf einmal, zu schrumpfen.«

»Hätte man nicht Mittel und Wege finden können, diese Stadt wieder interessanter für Händler und Arbeiter zu machen?«

»Mein Vater hat über eine ganze Reihe von Jahren alles in seiner Macht Stehende getan. Aber der Verfall schien unaufhaltsam. Immer mehr Plantagen wie diese konnten keine Gewinne mehr abwerfen. Die Arbeiter und Sklaven gingen oder flohen und schließlich mussten die Anwesen aufgegeben werden. Heute ist das Umland von Caracas nicht mehr als ein von Narben übersäter Körper. Jedes verlassene Haus, jede verlassene Plantage ist eine Narbe, die uns daran erinnert, dass wir einmal in echtem Wohlstand lebten.«

»Aber noch heute sieht der Gouverneurspalast nicht aus, als müssten seine Bewohner Hunger leiden«, erwiderte Jack lächelnd. Maria sah ihren Begleiter nachdenklich an. Sie fragte sich, ob er sich einen Spaß mit ihr erlaubte, oder ob er schlichtweg nicht verstand, dass das letzte Bisschen Wohlstand, was man sich in Caracas erhalten hatte, bei Weitem nicht den Ansprüchen entsprach, die sie an das Leben hatte.

»Fürwahr. Anders als in manchen Teilen der Stadt leiden unsere wohlhabenden Bürger keinen Hunger. Aber dennoch sind die guten Jahre dieser Stadt Geschichte.«

»Warum erzählt ihr mir das? Wollt Ihr mir damit sagen, dass ich mir lieber einen anderen Gouverneurssitz suchen soll?« Maria erwiderte Jacks Blick einen Moment lang, doch keiner von beiden beendete den Augenblick. Auge in Auge mit ihrem Gast erklärte sie schließlich:

»Ich möchte wissen, wie klug Ihr seid, Señor Miguel. Ich habe seit Jahren Pläne und Ideen, wie man diese Stadt wieder zu dem machen könnte, was sie sein sollte, einer echten Perle in der Karibik. Aber mir fehlen die Mittel und der Mann an meiner Seite, der in der Lage ist, Ideen und Pläne umzusetzen.«

»Und Ihr glaubt, ich könnte ein solcher Mann sein?«

»Ich glaube, dass Ihr ein Mann sein könntet, der es wert wäre, dass ich mich an seine Seite begebe und mit ihm gemeinsam aus dieser verfallenen Gemeinde wieder eine echte Stadt mache. Die Frage ist, seit Ihr mutig genug dafür?«

Jack sah Maria noch einen Moment in die Augen, bis die junge Frau sich der Dreistigkeit ihrer Worte bewusst wurde und mit roten Wangen den Blick senkte. Sie hatte gehofft, dass Jack auf ihre auffordernden und ungewohnt offenen Worte, eine direkte Reaktion zeigen würde. Aber das tat er nicht. Er nahm zur Kenntnis, dass Maria sich ihm jetzt nicht mehr nur mit Blicken, sondern auch mit ihren Worten angeboten hatte. Natürlich war ihm klar, dass diese Frau keine flüchtige Affäre suchte. Sie war auch vom Charakter her keine Dirne, wie er zuerst vermutet hatte. Sie suchte nur nach einem Weg, ihre ehrgeizigen Pläne in die Tat umzusetzen. Und offenbar hatte sie in der Vergangenheit die Feststellung gemacht, dass der einzige Weg, den sie als Frau gehen konnte, der an die Seite eines starken Mannes war, der bereit war, sie anzuhören und mit ihr an dem gleichen großen Ziel zu arbeiten. Mit einem Mal war sie in Jacks Achtung um einiges gestiegen. Sie warf sich ihm nicht an den Hals, um Caracas so schnell wie möglich zu verlassen und die Annehmlichkeiten am Hof in Spanien zu genießen. Sie suchte einen Partner, der an ihrer Seite ihre Heimat wieder zu dem machen konnte, was sie sich für diese Stadt wünschte. Maria stand noch immer nahe bei ihm, den Blick noch auf den Boden gerichtet, als wartete sie darauf, dass der Mann, dem sie sich auf so beinahe erniedrigend ehrliche Weise offenbart hatte, endlich eine Reaktion zeigte.

Vorsichtig ergriff Jack ihre Hand und drückte diese sanft. Sofort hob Maria den Kopf. Jack sah in ihren Augen eine Träne glitzern. Er kämpfte erfolgreich gegen den Drang an, ihr diese abzuwischen. Stattdessen murmelte er leise: »Wir sollten in die Stadt zurückkehren, der Tag neigt sich dem Ende entgegen.«

Maria nickte, wobei sie die Augen schloss. Er hatte keine Reaktion gezeigt. Die Schamesröte in ihrem Gesicht vertiefte sich noch etwas mehr. Jack konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als er eine Hand unter ihr Kinn legte und sanft fragte: »Wollt Ihr mich auf dem Weg zurück nach Caracas in Eure Pläne einweihen, Señora Maria? Es wäre mir eine Ehre, diese kennenzulernen.«

Ein Lächeln huschte über Marias Züge, als sie sich mit einer Hand über die Augen wischte. Vielleicht würde sich doch alles so wenden, wie sie es sich schon immer ersehnt hatte. Ein Anfang war auf jeden Fall gemacht. Und sie würde in dieser Nacht alles daran setzen, dass es funktionieren würde.

Fortsetzung folgt …

Copyright © 2012 by Johann Peters