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Die Gespenster – Zweiter Teil – Neunundfünfzigste Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Zweiter Teil

Neunundfünfzigste Erzählung

Das kleine, süße Gespenst, welches die Diebe verriet

In einem sächsischen Landstädtchen wurde der Prediger des Nachts zu einer todkranken Wöchnerin gerufen. Diese starb während seiner Anwesenheit bei ihr. Schmerzliche Trauer und grauenvolle Todesgedanken erfüllten wegen dieses überraschenden Unglücksfalls die ganze Familie. Selbst die Magd, welche den Prediger nach dessen Wohnung zurückleuchten musste, war voll schauerlicher Empfindungen. Sie gestand, dass sie noch nie so graulich gewesen sei, wie in dieser Sterbestunde ihrer guten Gebieterin. Der Anblick der Leiche schien wegen ihrer Verwandtschaft mit Gespenstern ein unwillkürliches Schaudern in ihr rege gemacht zu haben.

Es war die Stunde der Gespenster, in welcher die schüchterne Hausmagd dem Prediger den Rückweg erleuchtete. Kein Wunder daher, dass sie bei jedem Schritt wild umherblickt, und bald wirklich eine bedenkliche Erscheinung hatte. Kaum zwölf Schritte vor sich erblickte sie mitten auf dem Fußsteig ein Gespenst von seltener Gestalt und Kleinheit. Es stand da wie ein weißes Männchen von der Größe eines einjährigen Kindes. Von Angst und Schrecken ergriffen, sprang sie seitwärts vom Fußsteig hinab und überließ es den Prediger, ob er sein Leben daran wagen und in dieser bedenklichen Stunde dem Unding zu Leibe gehen wolle.

Der Prediger sah wirklich auch das kleine Etwas, welches sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Er begriff nicht, was das so eigentlich sein müsse, zumal da sich die Magd klugerweise hinter ihn zurückgezogen hatte und vor Entsetzen den Zweck ihres Mitgehens – das Erhellen des Weges – gänzlich aus den Augen setzte. Indessen ging er mit festem gleichförmigen Schritt auf die Erscheinung zu und berührte sie mit der nötigen Vorsicht mittelst des Filialstockes, den er bei sich hatte. Endlich bückte er sich und hob das kleine süße Wesen, welches ihm das Blut ein wenig zum klopfenden Herzen getrieben hatte, lächelnd in die Höhe. Die erwartungsvolle Magd zitterte für den Prediger mit und fürchtete jeden Augenblick des Angriffs, dass der kleine Popanz dem verwegenen Prediger eins versetzen werde. Bald sah sie indessen, dass ihre Besorgnis und ihre Furcht gleich eitel wären.

Sie musste sich entschließen, das Gespenst in ihre Arme zu nehmen und zu tragen.

Was man gefunden hatte, war ein aufrechtstehender, mit weißem Papier überzogener Zuckerhut.

»Aber wie in aller Welt«, fragte der Prediger, »kommt um Mitternacht dieser Handlungsartikel hierher? Sollten etwa Diebe ihn verloren haben?«

Wegen der Möglichkeit dieses Falles ließ er sogleich den Zuckerhändler, in dessen Nachbarschaft er nun war, wecken. Es fand sich, dass soeben der Laden desselben von Dieben rein ausgeplündert war. Unstreitig hatten die Diebe dieses Gespenst verloren. Sie mochten von der Laterne des Predigers verscheucht worden sein. Man setzte ihnen auf der Stelle nach, erwischte sie und bekam das Gestohlene wieder.