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Diane Teil 2 – Kapitel 11

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts
Zweiter Teil

Elftes Kapitel

Grundsätze eines Mannes, der zurückgezogen lebt. Der Kuss auf einen Sargdeckel

Eines Morgens ließ der General seine beiden Neffen zu sich bescheiden. Er hatte dem einen seine Willensmeinung zu eröffnen, dem anderen auf dessen Gesuch zu antworten. Als sie beide erschienen, empfing er Ernst, der vor einigen Tagen angelangt war, mit einer gewissen höflichen Achtung, denn der Ruf dieses jungen Mannes war in der Familie so begründet, dass es schien, als könne die Manier, die für andere passte, auf diesen hoffnungsvollen jungen Mann nicht anwendbar sein. Da der General sich aber nie gern genierte, so war die Unterredung sehr kurz. »Wie gefällt Ihnen, chèr Cousin«, fragte er, »das Mädchen, das ich Ihnen ausgesucht habe?«

»O, sie hat meinen vollen Beifall, mein teurer Großonkel.«

»Das erwartete ich zu hören. Wir machen die Sache, denke ich, kurz ab. Sie dürfen von Ihrer Legation nicht lange entfernt sein. Deshalb mag die Hochzeit so bald wie möglich stattfinden.«

»Gerade meine Wünsche.«

»Gut, chèr Cousin. Sie werden nicht zu bedauern haben, dass meine Wahl eines Mannes für mein armes Kind gerade auf Sie fiel.«

»Ich erkenne schon jetzt mit Dankbarkeit …«

»Lassen wir das, chèr Cousin. Sie sind ein Diplomat, ein Mann, der feine Phrasen zu drechseln versteht. Ich komme gegen Sie nicht an. Also lassen wir das. Jetzt zu dir, Baronchen, Ddu hast meine Verwendung gewünscht. Zu welchem Zweck?«

Franz richtete schüchtern seinen Blick in die Höhe. Als er in die finsteren, auf ihn gerichteten Augen des Generals fiel, hatte er kaum den Mut, hervorzustottern: »Ich möchte nicht länger müßig leben, ich möchte eine Anstellung haben.«

»Ich lobe deinen Entschluss, allein welche Anstellung?«

»Man hat mir Hoffnung gegeben, eine Kammerherrnstelle zu erhalten, im Fall Sie, geehrter Großonkel, sich entschließen könnten, an den Adjutanten des Prinzen in Betreff meiner zu schreiben.«

»O, mein Sohn, ich schreibe an keine Adjutanten, dazu wäre die Tinte in meinem Tintenfässchen mir zu sparsam zugemessen. Auch habe ich nicht die Gattung Papier vorrätig, um an so hohe Herren mich brieflich auszulassen. Man sagt, es sei sehr glattes Papier dazu nötig.«

»Mein Name, meine Verbindungen«, fuhr Franz fort, »würden mir vor manchem Mitbewerber den Vorrang sichern.«

»Ihr Name, Ihre Verbindungen, Herr Baron?«, fragte der General plötzlich kalt und spitz. »Was Ihren Namen betrifft, so kenne ich dessen Kraft nicht, da er nicht der meine ist. Allein die Verbindungen anlangend, so glaube ich, ein Wort mitsprechen zu dürfen, und da erlauben Sie, dass ich Ihnen offen gestehe, daraus wird nichts.«

»Ich fühle mich unfähig, länger so müßig meine Tage hinzubringen«, sagte Franz mit entschiedenem Ton.

»Gut, ich will Ihnen ein Stück Land geben, werden Sie mein Pächter. Mir können Sie dienen, allein einem Fürsten dienen! Gehen Sie mir aus den Augen, Herr Baron.«

»Haben unsere Voreltern nicht auch Fürsten gedient?«

»Das ich nicht wüsste? Wann? Sie haben Fürsten gemacht, aber keinem gedient.«

Der General hielt hier inne und richtete, wie in Gedanken verloren, den Blick auf die Decke des Zimmers, dann ließ er ihn wieder langsam hinabgleiten und traf auf die Gestalt seines Neffen. Er schien die Gegenwart des jungen Mannes schon wieder vergessen zu haben, er stampfte mit dem Fuß und rief im Zorn: »Ist es möglich, Kammerherr willst du werden – Kammerherr? Du willst dir den goldenen Schlüssel anheften lassen, diesen berüchtigten Schlüssel, der der Einzige heutzutage ist, der zu keinem Schloss mehr passt, keine Tür, keine Lade, keinen Schatz öffnet?«

»Es öffnet mir einen großen Schatz«, rief Franz, »die Gunst meines Monarchen.«

»Glauben Sie das, mein schöner Herr? O, da sind Sie im Irrtum. Wenn die Fürsten irgendetwas und irgendjemanden achten, so ist es der freie Stand, der ihnen nicht unterworfen ist, so ist es der freie Mann, der nichts nach ihnen fragt. Den, welchen sie in ihrem Sold haben, dem sie das freie Herz und die eigene Meinung abgekauft haben – den verachten sie und lassen es ihn fühlen, wo sie können. Darum darf Liebe, Vertrauen, edle uneigennützige Anhänglichkeit nie in die Nähe des Thrones kommen, aus Furcht, man möchte sie auch besolden und ihnen eine bunte Jacke überwerfen.«

»So hätten die Fürsten also nie wahre Freunde?«. fragte Franz schüchtern.

»Sie wollen keine haben. Der Egoismus der Fürsten scheucht jede edle Manneskraft von ihrer Seite. Ist der Adel nicht ein lebendes Beispiel hiervon? Haben wir, die wir ihnen ebenbürtig sind, nicht unseren Stolz gebeugt und ihnen Liebe, Verehrung und unsere Dienste geweiht? War irgendetwas in unseren Schlössern köstlich genug, was wir ihnen nicht willig darbrachten? Speisten wir nicht ihre Größe mit dem Kummer unserer Nächte, mit den Tränen unserer Weiber, mit dem Blut unserer Söhne? Tausend- und abertausend mal wären sie von ihren Thronen gestürzt, wenn unsere Lanzen sie nicht gehalten, unser Ansehen sie nicht geschützt hätte. Und was ist nach all dem unser Dank? Jetzt, da es scheinbar nötig wird, den Staat neu zu organisieren, da Menschen und Zwecke sich hinzudrängen, die ein noch sehr zweifelhaftes Recht in Anspruch nehmen, jetzt, da man sich stößt und drängt, schilt und anfeindet, wo erhalten wir jetzt unsere Stellung? Aufgegeben sind wir, von diesen selben Fürsten, denen wir unser Blut, unser Gut aufopferten. Anstatt unsere Privilegien zu schützen, unsere Rechte zu vertreten, unser historisches Ansehen zu wahren, wenden sie sich kalt von uns ab und schmeicheln ihrerseits dem neuen frechen Andringling, der sie lästert. Sie erwarten von uns keinen Nutzen mehr, also warum uns noch schützen? Was sind wir ihnen noch? Und wir suchen sie immer wieder auf, dienen immer wieder und immer fort, bücken uns vor ihren goldenen Türen und empfangen ihre gnädigen Grüße zum Dank, wenn wir unsere Künste gut gemacht haben. Oh, ginge es nach meinem Sinn, so würden plötzlich diese Vorgemächer leer von historischen Namen! Man lasse den Juden sich dort bücken, der seine Profitchen von dem Gold der Krone zieht, den Industrieritter, der seine Ware verhandelt, den Bürokraten, der für seine Kinder Stellen sucht; aber keiner jener Männer erscheine dort, an deren Namen das Vaterland ein teures, unentweihtes Andenken knüpft. Lasst uns in unseren Burgen bleiben, still und einsam, und nur hervortreten, wenn das Volk uns ruft. Einst Vertreter des Volkes, im besten Sinne wollen wir es auch wieder jetzt werden, jede verfolgte Unschuld, jede Bedrückung finde an uns ihren Rächer, ihren Schützer – aber nie entweihe und entwürdige uns Fürstendienst. Sehen Sie, mein Herr Baron, darum wünsche ich nicht, dass Sie Kammerherr werden sollen. Ich denke, Sie werden mich nun verstanden haben, und kein Wort weiter vorbringen, wenn wir Freunde bleiben sollen.«

Franz brachte dennoch einige Gegengründe vor, allein sein Großoheim achtete nicht darauf. Wenn er einmal seinen Willen erklärt, so blieb nach seiner Ansicht für den anderen Teil nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Der Baron zog sich zurück. Während er durch die Gemächer der Damen ging, musste er bemerken, dass sein glücklicherer Vetter eine Unterredung mit der reichen Erbin hatte.

»Ich habe überall Unglück«, flüsterte Franz vor sich hin. »Mache ich einmal Pläne, so werden sie durchkreuzt, und lege ich es einmal darauf an, eine reiche hübsche Frau oder eine Stelle zu erhaschen, so kann ich sicher darauf rechnen, dass meine Angel keinen Fisch fängt.«

Während der Getäuschte mit einer lächelnden Verbeugung vorüberging, beichtete Ernst gerade über die Erlebnisse und Gefühle seines früheren Lebens.

»Ich wäre Ihres Vertrauens sehr unwert, schöne Diane«, sagte er, »wenn ich Ihnen zuschwören wollte, dass ich nie früher eine zärtliche Neigung empfunden habe. Meine ganze Jugend ist erfüllt von der Seligkeit, zu lieben und geliebt zu werden. Meine Eltern, meine Geschwister waren stets gütig und weit über mein Verdienst mir zugetan. Ich gestehe das offen, denn ich habe es immer als eine Milde meines Geschicks betrachtet. Aber auch die zärtlichste Freundschaft schöner Frauen ist mir zuteil geworden, und nicht leugnen will ich, dass mein Herz manches teure Andenken bewahrt!« Ernst seufzte hier, und seine Blicke senkten sich zu Boden. Er gedachte der schönen Blanche und des Tages, wo er sie so eitel, so geputzt, so lächelnd und so schön verließ, und wo sie ihn fast mit Gewalt von sich hatte entfernen müssen.

Judiths Blicke waren mit einem Ausdruck ruhigen Forschens auf ihren Verlobten geheftet. Dieses war nicht der Mann, der ihre Seele bewegte. Seine Schönheit war nicht die, welche fähig war, Eindruck auf ihre Sinne zu machen. Die Tochter Florentins fühlte an der Seite dieses eleganten Weltmannes nichts, als die Notwendigkeit, verständig handelnd ihren Plan zu verfolgen. Sie legte ihre Hand auf die des Diplomaten und sagte sanft. »Dieses Geständnis habe ich erwartet. Wie sollte ich wohl glauben, dass Sie, mein Freund, in einem glänzenden und bewegten Leben mir ein unberührtes Herz überbringen würden? Mir, die ich so unerwartet auf der Bühne Ihres Lebens erscheine? Die sich unbefugt in Ihre Schicksale eindrängt?«

»Nicht das, Teure, nicht diese Worte, geliebte Freundin! Es ist die freie Wahl meines Herzens, die mich zu Ihnen führt. Es ist wahr, dass ich, bevor ich die Schwelle dieses Hauses betrat, mit mir zurate ging, ob ich nicht gleich umkehrend, sie eben so frei, so ungebunden wieder verlassen solle, allein ihr Anblick entschied. Soll ich Ihnen wiederholen, was uns die Dichter, was Guarini besonders so schön über die Macht der ersten Begegnung sagt? Soll ich Ihnen die herrlichen Verse Tassos zitieren, soll ich Ihnen in einem Sonett Petrarcas die Aufgabe lösen, wie Zweifel und Irrwahn sich in das Glück zärtlicher Gewissheit wandeln können? Allein Sie kennen selbst diese Dichter? Ich habe oft Gelegenheit gehabt, während unserer kleinen Plaudereien zu bemerken, wie sehr meine schöne Cousine eingeweiht ist in die Mysterien der Musen. Vielleicht haben Sie auf ihrem Altar selbst geopfert? Sie machten Verse – gewiss, Sie machten welche.«

»Nein, lieber Graf, ich machte nie Verse. Ich bin eine praktische Natur. Von meiner frühesten Kindheit an habe ich nur gelernt, das wirkliche Leben zu erfassen. Ich kenne die Dichter, ich erfreue mich an ihren Schöpfungen, allein fern ist es von meiner Art zu denken und zu empfinden, mich in Phantasieverhältnisse einzuspinnen und in geträumten Situationen zu leben.«

Graf Ernst blickte in das Auge des jungen Mädchens, das kalt und ruhig diese Worte zu ihm sprach. Eine gewisse Überlegenheit blitzte ihm aus dem dunklen Strahl entgegen. Er fühlte sich zum ersten Mal etwas unangenehm berührt. Hier fand er nicht den spielenden anmutigen Geist der Französin, es war die kalte strenge Phantasielosigkeit eines festen unerschütterlichen Charakters. Der Mann der Verweichlichung und der vornehmen Formen schreckte unwillkürlich zurück.

»Hm«, sprach er zu sich, als er das Zimmer seiner Braut verließ, »ich suchte ja ein gescheites, kluges Wesen, das mit mir gleichen Schritt hält, die sogar mir vorauseilt. Nun habe ich es gefunden, und doch ist es nicht recht. Ach, ich fürchte, zum ersten Mal tritt das Leben mir feindlich entgegen.«

Ein Diener erschien, um Judith zu melden, dass der General auf sie warte, um einen Spazierritt zu machen. Eilig warf sie sich in das schon bereitliegende Reitkostüm. Den Hut auf die Locken gedrückt, die Reitgerte in der Hand, eilte sie die Treppe hinab.

 

Wir befinden uns mittlerweile tief im Herbst, die Bäume hatten ihr Laub schon fast ganz verloren, die Gegend war öde und traurig. Der General machte die gewöhnliche Runde durch eines seiner Lieblingsdörfer, drang in die Hütten ein, erkundigte sich, forschte, ließ sich erzählen und übernahm in eigener Person das Strafamt, wo es nötig war. Judith musste immer in seiner Nähe sein. In einer der Hütten fand sich ein achtzigjähriger Greis vor, der vor Judith niederfiel und, nach der Sitte der dortigen Landleute, ihre Knie umschloss, indem zugleich Freudentränen seinen Augen stürzten.

»Also diese ist die gnädige Gräfin«, rief er stammelnd. »O, ich danke Gott, dass ich sie sehe! Den Vater habe ich auf meinen Knien geschaukelt, und als ihm diese Tochter geboren wurde, war ich gerade zufällig bei ihm. Er zeigte mir das Kind, gab mir das Händchen, und indem er auf ein kleines Mal an dem Handgelenk zeigte, sagte er freudig: ›Sieh, Alter, es ist meine Tochter, denn sie trägt sogar hier das selbe Merkzeichen, wie ich es auf die Welt gebracht habe.‹ O, lass mich dieses niedliche kleine Mal küssen, gnädige Gebieterin.«

Er hielt Judiths Hand und hatte den Ärmel ein wenig aufgestreift. Das Mal fand sich nicht. »Du hast es nicht mehr«, rief er und blickte hinauf, »und doch sagt man, dass sich solche Male nie verlieren. Wo hast du das deine gelassen, Gebieterin?«

Judith fand einen Vorwand, sich schnell abzuwenden, allein der forschende Blick des Greises blieb auf sie geheftet, so lange sie in der Hütte weilte. Der General, in einem anderen Teil der Wohnung beschäftigt, hatte nichts von diesem Vorfall gehört.

»Sie hat ihr Mal nicht mehr«, murmelte der Alte, indem er verdrießlich den Kopf schüttelte. »Der Vater würde jetzt sagen, es ist nicht meine Tochter.«

Indem die Reitenden das Dorf verließen, näherten sie sich eilig einer Gegend, die noch nicht von ihnen besucht worden war. Es war dies die öde Strandküste, welche gegen das Meer hin sich in die einförmigste und unfruchtbarste Abdachung verlor. Hier befand sich eine altertümliche Kirche. An sie angeschlossen, erhob sich die Kuppel einer Begräbniskapelle, die die gräfliche Stammgruft enthielt. Beide vereinigten Gebäude standen einsam und bildeten in ihrer Umgebung von Meer und Einöde ein Gemälde düsterer Melancholie für den Beschauer. Es war ein poetischer Ruheort, ein Asyl für die Schiffer, die das unruhige Meer des Lebens befahren hatten, und hier nun in Frieden schlummerten. Die Welle, die ewig wiederkehrend, in ununterbrochener Einförmigkeit sich am Fuß des Gemäuers brach, tönte dem lauschenden Ohr des einsamen Wanderers wie das Lied der Klage, das Geister singen, welche die Kürze und die Launenhaftigkeit eines armen Menschendaseins verkünden. Wie die Welle kommt es, wie die Welle scheidet es. Niemand sagt, von wo es kam, und niemand sagt, wohin es geht. Der unergründliche Schoß des Meeres bildete diesen kleinen, hüpfenden, im Sonnenglanz sich spiegelnden Hügel, und nach kurzem Lauf bricht dieser Hügel sein Haupt am Felsen und verschwindet in der Tiefe, die ihn geboren hat. Über dem Meer aber liegt die ewige Nacht mit ihren Sternen.

Der General ließ sich die Kapelle aufschließen und trat mit Judith hinein. Die Platte wurde geöffnet und sie stiegen noch tiefer in den unteren Raum. Hier standen vermorschte Särge aufeinandergeschichtet. Ihre Metallschilder glänzten matt durch die Dämmerung. Der Sturmwind, über das Meer dahinfahrend, tobte in den oberen Räumen des Gebäudes. Hier aber war es still, hier herrschte ein ununterbrochener Friede.

Der General ließ eine lange Pause hingehen, dann wandte er sich zu seiner Begleiterin und sagte: »Wo ich dich hingeführt, habe ich noch niemand hinbegleitet; allein, da du des Hauses Kind bist, so musst du auch des Hauses Tote kennenlernen.« Er fasste sie bei diesen Worten am Arm und sagte scharf betonend: »Du, von den Toten Erstandene!«

Judith gab sich Mühe, die Erschütterung, die auf sie eindrang, zu bekämpfen.

»Nähere dich diesem Sarg«, fuhr ihr Führer fort. »Es ist der Sarg deines Vaters. Küsse ihn.«

Judith wich zurück, der Stoß des Sturmwindes warf klirrend oben eine Fensterscheibe herab, und ein langer, heulender Ton zog durch das Gewölbe.

»Küsse den Sarg!«, rief der General mit tiefer und drohender Stimme.

Judith beugte sich nieder. Ihre Lippen wollten eben die kalten Bretter berühren, in welchen ein für sie völlig fremder Mann schlummerte, als ihr Fuß auf dem schlüpfrigen Boden ausglitt und sie einige Schritte vorwärts wankte. Es schien, als ob die Lebenden, so wie die Toten, sie mit gleicher Entschiedenheit von sich wiesen.

Der General führte sie fort. Auf der Treppe gab er vor, sein Taschentuch vergessen zu haben. Er kehrte um und blieb einige Augenblicke allein in der Gruft. Judith sah ihn durchs Gitter sich über einen noch frischen Sarg lehnen und auf eine leidenschaftliche Weise seine Stirn an den Sargdeckel pressen. Ein tiefer Seufzer tönte aus dem Gewölbe herauf.

Es war schon völlig Nacht, als die Wanderer nach Hause kamen. Durch das Hoftor reitend, sah Judith im Schein einer entfernten Laterne, dicht neben ihrem Pferd, eine dunkle Gestalt unbeweglich stehen. Das Pferd bäumte sich und wollte nicht von der Stelle. Weder Gesicht noch Gestalt des Unbekannten konnte die Reiterin erkennen. Allein ein geheimes Grauen sagte ihr, dass diese Gestalt komme, um ein drohendes Entsetzen über sie zu bringen. Die Tochter des Verbrechers bebte und vermochte sich kaum auf dem Pferd zu halten.