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Der Detektiv – Die Augen der Jolante – 5. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Die Augen der Jolante
5. Kapitel

Der Morgen graute bereits. Die See war leer. Nur in der Ferne waren ein paar Fischerboote zu sehen.

Harst ließ den Motor arbeiten. Das Drahtseil rollte sich auf der Trommel auf. Der an einem zurückziehbaren Balken hängende Korb kam höher und höher. Muskulski schaute mit wutverzerrtem Gesicht zu uns empor. Harst empfing ihn, den Revolver in der Hand, befahl ihm, auf den Abhang zu klettern, wo ich dem Langen dann die Hände mit Harsts buntem, großem Taschentuch binden musste. Wir brachten ihn dann in den Keller. Hier konnte er Klimke Gesellschaft leisten, da er genau wie dieser keine von Harsts Fragen beantwortet hatte.

Wir durchsuchten nun die Villa, fanden aber nichts, was uns irgendwie über die Pläne der Leute Aufschluss gegeben hätte. Harst schickte mich dann nach Sassnitz. Ich sollte Karl holen, der hier die beiden Gefangenen bewachen sollte. Um halb sieben Uhr war ich mit Karl wieder zurück. Harst gab ihm genaue Verhaltensmaßregeln, besonders über die Verpflegung der beiden. Gleich darauf wanderten wir, nun ohne Fips und Peter, gen Sassnitz.

Harst war recht schweigsam. Erst auf meine Bemerkung, er habe doch wohl vorhin den Klimke nur anzapfen wollen.

Als er gesagt hatte, er wisse nun alles, taute er auf und meinte: »Lieber Schraut, es ist tatsächlich so. Zweierlei hat mich heute Nacht auf die richtige Spur geleitet: die drei Kisten von gestern, Sie besinnen sich, und das Kreuzen der Jacht auf derselben Stelle. Wir wollen nun die Sache aber nicht weiter erörtern. Ich gebe zu: Alles weiß ich noch nicht. In meinem Hirn spukt dauernd der Name Jolante herum. Ich vermute, er hat mal zu irgendeinem Verbrechen in Beziehung gestanden. Zu welchem, das bekomme ich trotz meines tadellosen Gedächtnisses nicht heraus.«

Um acht Uhr gingen wir zum Gemeindevorsteher in dessen Privatwohnung. Dieser, ein älterer Herr und früherer Gutsbesitzer, fiel aus allen Wolken, als Harst ihm den Ausweis der Berliner Polizei zeigte.

»Ich bin Harald Harst, Herr Gemeindevorsteher, und ich stelle hier der geheimnisvollen Jacht nach. Ich bitte Sie um strengste Diskretion, dann werde ich Ihnen sagen, weshalb ich mich Ihnen anvertraue«, erklärte er in seiner gelassenen Art.

Der Gemeindevorsteher erwiderte, Diskretion wäre hier selbstverständlich.

 »Danke. So bitte ich Sie also, in aller Stille ein Fräulein Gerda Plauk alias Gerd und die jetzt bei ihr weilende Frau Hella Klimke zu verhaften und einzeln irgendwo – es braucht nicht gerade im Arrestlokal zu sein – festzuhalten. Haben Sie einen Mann, der verschwiegen ist? Dann lassen Sie, bitte, diesen diese Sache erledigen. Vielleicht geht es so am besten, wenn Sie sofort die beiden Damen auf das Amt bestellen. Abends würde ich Sie gut als Zeugen gebrauchen können. Wollen Sie sich also vielleicht gegen zehn Uhr in der einsamen Villa draußen zwischen hier und der Stubbenkammer einfinden?«

Der Gemeindevorsteher sagte mit Freuden zu. Wir gingen nun zu unserer Kneipe und unseren Wohnungen, wo Harst dem Wirt ein langes Märchen auftischte, das unsere Rückkehr ohne Fips und Peter erklären sollte.

Mittags war Harst beim Gemeindevorsteher, berichtete mir dann, dass die Gerd sehr patzig ihm gegenüber gewesen wäre und dass Frau Klimke sehr viel weinte, dass aber beide genau so hartnäckig geschwiegen hätten, wie unsere Gefangenen im Keller. Nach dem Mittagessen machten wir uns dann wieder zur Villa auf. Wir fanden dort alles in Ordnung. Karl Malke hatte die beiden gut bewacht. Wir fühlten uns nun wie die rechtmäßigen Herren des Hauses. Nur als wir den Postboten kommen sahen, schlossen wir uns im Haus ein und verhielten uns ganz still. Er warf einen Brief in den Briefspalt der Hintertür und verschwand ahnungslos, dass die Villa zurzeit von Zigeunern besetzt war. Harst besichtigte den Brief, der den Abgangsstempel Berlin trug und an Muskulski – Herrn Franz Muskulski Ingenieur – gerichtet war. Er schnitt ihn ohne Weiteres auf und überflog den kurzen Inhalt, reichte ihn mir dann mit einem Da haben wir es ja!

Ich las Folgendes: H. ist bestimmt nicht im Sanatorium bei seiner Mutter, wie ich schon depeschierte. Auch der Junge, dessen H. sich bei seiner Arbeit bedient, ist plötzlich von hier abgereist. Wohin, war nicht zu ermitteln. Auch im Universum-Klub nichts Neues, obwohl M. scharf aufpasst – Gruß – Dein St.

»Dieser M. kann nur der neue Klubdiener Mingloff sein«, vermutete Harst. »Er ist es fraglos auch gewesen, der diese, unsere jetzige Aufgabe an die Leute hier verraten hat, die ihn bestochen haben werden.«

Ich will hier gleich bemerken, dass diese Vermutung Harsts sich nachher als zutreffend herausstellte. St. war ein Spießgeselle Muskulski namens Stelling.

Bis zum Abend langweilten wir uns recht sehr. Ein neues Verhör, dass Harst mit Klimke und Muskulski vornahm, hatte abermals kein Ergebnis. Um zehn erschien der Gemeindevorsteher. Er war genauso gespannt, was sich nun in der kommenden Nacht ereignen würde, wie ich selbst. Doch Harst schwieg sich aus und meinte, er wolle uns die Überraschung nicht verderben. Wir saßen nun im Wohnzimmer mit den Fichtenmöbeln und unterhielten uns über alles Mögliche. Harst war sehr zerstreut.

Als ich eine Bemerkung über diese seine Geistesabwesenheit machte, sagte er ärgerlich: »Ich grüble noch immer über Jolante nach.« Und gerade gegen Mitternacht sprang er dann plötzlich auf und rief: »Ich hab’s – ich hab’s! Nein, dass mir doch gerade diese Sache nicht eingefallen ist!«

Aber was ihm eingefallen war, bekamen wir nicht zu hören.

Um ein Uhr machte Harst die dreifarbigen Laternen fertig, zündete sie an, hisste sie am Mast empor und ließ mich an der Leine ziehen, damit wie sonst das Blinkfeuer zustande kam. Er und der Gemeindevorsteher gingen an den Abhang und schauten zur Jacht aus.

Sie erschien wirklich wieder. Wieder kreuzte sie über eine Stunde hin und her. Dann musste ich die Laternen abblenden und sehr eilig begaben wir uns mithilfe des Aufzuges einzeln zum Strand hinab. Hier, wo nur ein etwa sechs Meter breiter Uferstreifen vorhanden war, mussten der Gemeindevorsteher und ich uns lang am Fuße des Abhangs hinlegen. Harst blieb aufrecht stehen. Sehr bald kam ein winziges Boot, in dem nur ein einzelner Mann saß. Dieser hatte, da die See ziemlich unruhig war, genug damit zu tun, sein Boot heil an Land zu bringen und erkannte zu spät, dass es nicht Muskulski war, der ihn erwartete.

Wir sprangen zu und packten den Mann. Er war so überrascht, dass er sich gar nicht wehrte. Er hatte einen blauen Seemannsanzug an und trug eine blaue Seglermütze. Das kleine Boot war leer.

Auch er antwortete auf keine Frage. Nur als Harst ihm dann eine schwarze Seidenmaske aus der Tasche zog, entschlüpfte seinen Lippen ein leiser Fluch. Dieser verbündete Muskulski hatte einen echten blonden Spitzbart und musste ein Seemann nach seinem tief gebräunten Gesicht sein. Harst und ich bestiegen dann das Boot und ruderten zur Jacht hinüber, während der Gemeindevorsteher den neuen Gefangenen mithilfe seines Revolvers in Schach hielt. Zu unserem Erstaunen fanden wir auf der Jacht dann nur einen alten, einfachen Mann und einen halbwüchsigen Burschen vor.

Der alte Graubart zeigte sich sofort zugänglicher.

»Ich wusste, dass die Geschichte eines Tages böse enden würde«, sagte er brummig. »Ich bin der Eigentümer dieser Motorjacht, von Beruf Fischer, und hatte sie mir in diesem Frühjahr zu Spazierfahrten mit den Badegästen angeschafft. Ich wohne in Dranske. Das ist ein kleiner Ort an der Nordwestküste Rügens. Anfang April kamen zwei Herren zu nächtlichen Fahrten. Sie bezahlten mich und meinen Enkel da sehr gut, aber wir mussten reinen Mund halten über alles. Die Herren erzählten mir, sie hätten zufällig von einem Goldschatz gehört, der gerade hier gegenüber der einsamen Villa auf dem Meeresgrund liege. Die See ist an dieser Stelle sehr flach, nur etwa zehn Meter tief, und diese Untiefe läuft weithin parallel zur Küste von Nord nach Süd. Wir haben dann stets mit einem besonders konstruierten Schleppnetz den Meeresboden abgesucht, aber nur dreimal was herausgefischt, einmal eine kleine Kiste, dann drei Kistchen und gestern ein eisernes Kästchen, das in ein Stück Leinwand eingewickelt und verschlossen war. Der, der die Jacht immer gesteuert hat, gehört eigentlich auch nicht zu den Bewohnern der Villa. Es ist ein Steuermann der Handelsmarine namens Steffen, und der Muskulski hat ihn auch nur gemietet. Steffen ist die ganze Sache auch schon über trotz des hohen Lohnes, den wir bekommen. Sie fragen, wie die beiden Herren hießen, die im April meine Lotte mieteten? Nun – Klimke und Muskulski nannten sie sich. Aber ich glaube nicht, dass es die richtigen Namen von ihnen sind …«

Als wir an Land zurückgekehrt waren, ließ Harst den Steuermann Steffen wieder frei. Dieser begab sich wieder auf die Jacht, die sofort davonfuhr. Zuerst brachte der Korb den Gemeindevorsteher, dann mich und zuletzt Harst nach oben. Dieser jedoch ließ eine lange Weile auf sich warten.

Wir sahen, dass er, in dem Korb stehend, den er in der Mitte der Steilküste hatte Halt machen lassen, die lehmige, rissige Wand mit der Taschenlaterne anleuchtete. Er schien in den Spalten etwas zu suchen. Als er nun oben erschien und sich aus dem Korb schwang, hatte er einen in ein Stück Zeug eingewickelten Gegenstand im Arm.

Seine Augen leuchteten, als er erklärte: »Wir haben Muskulski gerade zur rechten Zeit gestern abgefasst.«

Kaum zehn Minuten später saßen wir alle, auch die beiden Gefangenen und Karl, im Wohnzimmer. Der große Augenblick war da, wo die Schleier dieses Geheimnisses fallen sollten.

Und Harst begann: »Vor etwa zwei Jahren wurde von zwei gewieften Hochstaplern Klauswitz alias Klimke und Mürgner alias Muskulski beim Juwelier König in Berlin ein großer Raub verübt. Die Beute, deren wertvollstes Stück ein berühmtes Perlenkollier war, das unter dem Namen Die Augen der Jolante allgemein bekannt ist, mussten die Diebe dann aber auf der beabsichtigten Flucht nach Schweden von Bord des Rügendampfers Freyja aus in die See werfen, da sie einen Kriminalbeamten unter den Mitfahrenden erkannt hatten, dem sie die Schmucksachen nicht ausliefern mochten. Wo diese Versenkung der Beute stattgefunden hatte, wusste bisher niemand. Die Verbrecher hatten nach ihrer noch an Bord erfolgten Verhaftung erklärt, nicht genau angeben zu können, an welcher Stelle sie vier Kistchen und eine Kassette ins Meer geschleudert hätten. Sie wurden zu mehrjähriger Gefängnisstrafe verurteilt, entwichen aber, fanden sich wieder zusammen und klügelten nun einen Plan aus, wie sie ihre Schätze wieder heben könnten, die sie absichtlich gerade gegenüber dieser einsamen Villa damals der See anvertraut hatten, damit sie nachher einmal danach fischen könnten. Inzwischen hatte Klauswitz alias Klimke sich mit einem braven Mädchen verheiratet, die nicht ahnte, dass er ein Verbrecher war. Die arme junge Frau hat mir gestern Nachmittag selbst erzählt, wie und wann sie Klimke kennen gelernt hat. Mürgner alias Muskulski hatte seine Geliebte Gerda Plauk in Sassnitz als Spionin eingemietet, während er mit dem Ehepaar Klimke hier jede Nacht der Jacht Lotte durch das Blinkfeuer die Stelle bezeichnete, wo man hauptsächlich mit dem Schleppnetz kreuzen müsste. Gestern Nachmittag, als ich mir die drei Kisten ansah, deren Inhalt freilich schon anderswohin geschafft war, erkannte ich, dass sie sehr lange im Wasser gelegen haben mussten. Da reimte ich mir endlich zusammen, weshalb die Jacht hier vor der Villa kreuzte. Nur wonach gefischt wurde, das wurde mir erst klar, nachdem ich durch den Namen Jolante plötzlich auf die berühmte Perlenkette gekommen war. Diese Kette wurde gestern von der Jacht mit dem Netz hochgeholt. Als Muskulski dann merkte, dass ihm Gefahr drohe, als der Förderkorb plötzlich festsaß, da verbarg er die Kassette in einer Spalte an der Wand, wo ich sie aber gefunden habe.« Er öffnete sie und nahm das Perlenkollier raus. »Und dies sind die Augen der Jolante!«

Er hielt die prachtvolle Kette hoch. Matt erstrahlten die Perlen im Lampenlicht. Perlen bedeuten Tränen. Und Hella Klimke hat ihretwegen viel geweint. Aber – sie ließ sich nicht etwa von ihrem Mann scheiden. Sie liebte ihn, obwohl er ein Verbrecher war.

Unsere schöne Zeit als Zigeuner und Zirkusbesitzer war vorüber. Wir kehrten nach Berlin zurück, wo im Universum-Klub die Aufklärung des Geheimnisses der grauen Motorjacht große Sensation hervorrief und wo Harst dann sofort die neue Aufgabe bezeichnet wurde. Diese lautete: »Welchen Zweck haben die drei Anzeigen im Berliner Kurier vom 16., 22. und 28. Mai des Jahres, Morgenausgabe, links oben Seite 6, Kugelrand.«