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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Gespenster – Zweiter Teil – Sechsundvierzigste Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Zweiter Teil

Sechsundvierzigste Erzählung

Das kattunene Gespenst in der Kirche zu Lauenburg

Um das Jahr 1792 ereignete sich in der Stadt Lauenburg an der Niederelbe folgende lächerliche Spukerei. Zwei Dienstmägde gingen an einem Wochentag gegen Abend um vier Uhr vor der hiesigen Stadtkirche vorbei. Die Kirchtüren waren sämtlich verschlossen, denn an diesem Wochentag und um diese Tageszeit wurde das ganze Jahr hindurch keine öffentliche Gottesverehrung gehalten. Dessen ungeachtet hörte man in der Kirche Stimmen, und zwar im Kanzelton reden. Dies setzte die Mägde in die größte Verwunderung.

»Kirchen«, meinten sie, »so wie überhaupt Begräbnisplätze und Leichengewölbe, sind, wie aller Welt bekannt ist, die vorzüglichsten Wohnsitze der Gespenster. Von wem anders, als von ihnen, könnte daher dieses spukhafte Reden herrühren?« Auch waren sie der weissagenden Meinung, ihren Predigern könne dieses sonderbare Spuken nichts Gutes vorbedeuten. Und so wie der Prediger bald nachher zu sterben pflege, wenn ihm während der Handlung des Abendmahls eins von den Altarlichtern von selbst verlösche, ebenso möchten die Lauenburgischen Kanzelredner auch nun nur an ihr Stündlein denken.

Indessen gingen sie ihren Geschäften in der Stadt nach und erzählten ihre Beobachtungen ungesäumt diesem und jenem. So wurde nun die Sache bald allgemein bekannt und ruchbar. Man strömte haufenweise zur Kirche, man horchte, und alle hörten mit Erstaunen das laute, aber doch unvernehmliche Geschwätz des Gespenstes. Es war, als ob es in einer unbekannten Sprache rede. Ein jeder aber bemerkte auch außerhalb der Kirche deutlich, dass der Geist offenbar den Ton eines gewöhnlichen Kanzelredners nachäffe. Einer von den beherztesten Anwesenden wagte es endlich, mit Beihilfe einiger anderen, die ihn hochhoben, durch eines der niedrigsten Fenster in die Kirche hineinzuschauen. Er hatte einen Anblick, nach welchem ihn nicht zum zweiten Mal gelüstete. Mitten in der Kirche stand ein Geist, gehüllt in ein Hemd von buntem Kattun, und gaffte gleich einer Bildsäule unverwandten Blickes nach einem anderen ganz weißen Gespenst, welches auf der Kanzel mit beiden Armen um sich schlug und dessen schwarzes Haar, in einen Puderzopf gesammelt, gleich einer Knotenperücke zwischen den Schultern herabhing.

Der Wagehals, welcher in einem flüchtigen Augenblick dies alles durch das Kirchenfenster sah, hatte bald den Tod davon und war von dem gehabten Schrecken auf der Stelle um seine sonst muntere Gesichtsfarbe gekommen. Die Umstehenden, welche dies bemerkten, fanden daher keinen Beruf, sich ebenfalls zum Fenster hinaufheben zu lassen.

Indessen zogen diese unzubezweifelnden Wahrnehmungen nun auch die Aufmerksamkeit der Denkenden und Ungläubigen im Städtchen auf sich. Man wollte dem Herrn Prediger Lesekow Anzeige davon tun, fand ihn aber nicht zu Hause. In dieser Verlegenheit wandte man sich daher mit der Bitte um gerichtliche Untersuchung des allerdings sonderbaren Geräusches an den dortigen Schlosshauptmann. Dieser gab ihnen ungesäumt eine Gerichtsperson mit, die sich in einem starken Gefolge von verständigen Leuten und von neugierigen Gaffern zur Kirche hinbegab, in welcher das Spuken noch immer gleich hörbar fortdauerte. Man öffnete die Kirchentür. Die Aussage jenes Wagehalses, welcher durch das Fenster den neugierigen Blick nach dem kattunenen und zu dem weißen Gespenst hin getan hatte, bestätigte sich vollkommen. Das Kanzelgespenst verschwand, so wie man in die Kirche trat. Das kattunene aber wollte nicht nur nicht verschwinden, sondern trieb durch seine entschlossene Annäherung die Untersuchenden wieder zur Kirche hinaus. Selbst die Gerichtsperson stutzte heftig, trat einige Schritte zurück und wollte den Kampfplatz schon räumen. Allein das Gespenst, Herr Prediger Lesekow im Schlafrock, redete den Erschrockenen freundlich zu und brachte dadurch, wenigstens die Beherztesten unter ihnen, wieder zum Stehen.

Nachdem man gegenseitig, beschämt und lächelnd, sich verständigt hatte, zeigte es sich, dass genannter Herr Prediger einen ungeübten Kandidaten des Predigtamtes diejenige Kanzelrede, welche er der Stadtgemeinde am nächsten Sonntag öffentlich halten wollte, nun bei verschlossenen Kirchtüren zur Übung blind durchmachen ließ. Daher der Puderzopf und der weiße Kandidatenrock mit schwarzen Knöpfen, in welchem das vermeintliche Gespenst auf der Kanzel erblickt worden war. Daher die Eilfertigkeit, womit der überraschte Kandidat beim Eintritt der Gespensterstürmer sich schamhaft gebückt hatte und unbemerkt von der Kanzel geschlichen war.