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Der Detektiv – Die Jagd auf einen Namen – 5. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Jagd auf einen Namen
5. Kapitel

Wir nahmen alle im Vorstandszimmer Platz. Nur Harst lehnte am Kamin, eine leicht qualmende Mirakulum zwischen den Fingern.

»Meine Herren«, begann er, »ich kann Ihnen melden, dass ich auch diese Aufgabe gelöst habe. Sie lautete bekanntlich: Wer ist der sogenannte Einbrecherkönig Andreas Nemo? Ich habe das Geheimnis, das diese bis dahin fast schemenhafte Persönlichkeit umgab, restlos aufgeklärt. Gestatten Sie, dass ich den Lebensgang dieses Mannes in aller Kürze schildere. Der Name Zirkus Salamonski dürfte Ihnen allen bekannt sein. Diesem Zirkus gehörten viele Jahre zwei hervorragende Artisten an, Thomas Brixen oder Clown Tom Brix und der Seiltänzerjongleur Gerhard Drewki, genannt Signore Gialdino. Brixen, frühzeitig Witwer und Vater einer liebreizenden Tochter, stand schon während seiner Zirkuszeit im Verdacht, mit allerhand dunklen Existenzen im Bund zu sein. Vor vier Jahren setzte er sich als wohlhabender Mann zur Ruhe. Er wohnte hier in Berlin in der Kalckreuthstraße 12 zusammen mit seinem Kind. Die einzige Schwester Brixens, die ihm auffallend ähnlich sah, hatte gleichfalls eine starke Neigung für die Schattenseiten des menschlichen Seelenlebens und besaß hier in Moabit in der Huttenstraße als Witwe eines Gasthauseigentümers eine seinerzeit recht berüchtigte Kaschemme Zur Mutter Schmidt, geborene Brixen. Als Drewki, der Seiltänzerjongleur, eines Tages verunglückte besorgte ihm sein Freund Brixen eine Stelle bei seiner Schwester, deren Vertrauter er sehr bald wurde. Diese Angaben verdanke ich in der Hauptsache dem Wachtmeister Schilling von der Kriminalpolizei, die sich aus Anlass der Festnahme der Mitglieder des Einbrechergesangvereins Kleine Harmonie sowohl mit der Witwe Schmidt als auch mit Drewki näher beschäftigt hat. Ich betone aber, dass damals das verwandtschaftliche Verhältnis zwischen der Schmidt und dem früheren Clown und jetzigen Rentner Thomas Brixen nicht festgestellt wurde. Die Geschwister hatten guten Grund, es zu verheimlichen. Weshalb, werden Sie sofort sehen.«

Harst rauchte ein paar Züge und fuhr fort. »Nun die Hauptpunkte des Ganges meiner Ermittlungen in dieser Angelegenheit: Meine Aufmerksamkeit musste sich notwendig zuerst der Kaschemme der Schmidt zuwenden, denn dort hatte ja Andreas Nemo als geheimnisvoller Leiter eines Verbrecherbundes gewirkt. Von einer in demselben Haus wohnenden Gesangslehrerin erfuhr ich Näheres über Mutter Schmidt, ihre Eigentümlichkeiten und ihren Tod; weiter aber auch, dass die tote Mutter Schmidt wieder lebendig geworden war und in der Berliner Straße in Wilmersdorf eine Speisewirtschaft betrieb. Als ich dies alles von dem Fräulein Mallinger hörte – damals wusste ich noch nichts von Brixens Verwandtschaft mit der Schmidt -, vermutete ich zunächst, Mutter Schmidt hätte selbst den Andreas Nemo mit viel Geschick gespielt und dann ihren Tod vorgetäuscht, um abermals unbeobachtet von der Polizei die alte Rolle als Einbrecherkönig wieder aufnehmen zu können. Dann erschien bei mir eine junge Dame, Fräulein Zenta Brixen, die heimliche Verlobte des Bildhauers Bruckner, der seit acht Tagen verschwunden war. Erst glaubte ich, die tief Verschleierte, die ihren Namen zunächst verschwieg, wäre keine andere als Mutter Schmidt selbst, denn sie hatte alle Eigentümlichkeiten an sich, die mir die Mallinger als für die Schmidt charakteristisch angegeben hatte. An demselben Morgen hatte ja der Berliner Kurier meine neue Aufgabe veröffentlicht. Ich musste diesen Irrtum sehr schnell einsehen. Fräulein Brixen lüftete den Schleier. Ihre Jugend war ihr bester Ausweis. Sie erklärte, ihr Vater wäre Rentner und wüsste nichts von ihren Beziehungen zu Bruckner, nach dem ich baldigst Nachforschungen anstellen sollte. Sie ließ mir zwei Zettel da – Nachrichten von Bruckner. Ich stellte fest, dass der zweite Zettel gefälscht war, und kam notwendig zu der Überzeugung, der Bildhauer wäre ermordet worden. Den gefälschten Zettel hatte nun eine rothaarige Frau heimlich in Bruckners Atelier gebracht. Und die wieder aufgelebte Mutter Schmidt sollte jetzt rotes Haar haben! Kaum hatte ich zu meinem treuen Mitarbeiter Schraut nach Zenta Brixens Weggang geäußert, ich hielte unsere neue Aufgabe für recht aussichtslos, als mein Hirn einen seltsamen Gedanken gebar: Zenta Brixen hatte alle die Eigentümlichkeiten gezeigt, die die Schmidt besitzen sollte; und Zenta war ihres Vaters einziges Kind, lebte mit ihm zusammen und musste von ihm das, was von seinen Eigentümlichkeiten nicht geradezu auf sie vererbt war, durch den steten Verkehr mit ihm angenommen haben. So glitt mein argwöhnisches Denken zum ersten Mal auf einen Mann zu, der mir bisher ganz unbekannt war. Es glitt hin, umspielte diesen Rentner und schuf sofort eine neue Schlussfolgerung: Zenta hatte beide Zettel an sich genommen, von denen der zweite nach der Vorlage des ersten gefälscht war; zunächst den ersten, den sie mit nach Hause genommen und, wie sie uns erzählte, in ihren Schreibtisch eingeschlossen gehabt hatte. Wie war nun der Fälscher des zweiten Zettels in den Besitz der Vorlage gelangt?, fragte ich mich. Und ich gab mir die Antwort: Er kann ihn nur einige Zeit heimlich aus dem Schreibtisch entfernt haben! Wer hatte hierzu die beste Gelegenheit? Zentas Vater, der vielleicht, nein, wahrscheinlich, ebenfalls all die Eigentümlichkeiten der Mutter Schmidts in sich vereinigte! So war ich zum zweiten Mal beim Rentner Thomas Brixen angelangt. Und jetzt war der erste leise Argwohn bereits zum schweren Verdacht geworden, denn der, der den zweiten Zettel gefälscht und den doch eine Rothaarige in die Wohnung Bruckners getragen hatte, musste ja ein Interesse daran haben, dass der Anschein noch eine Weile bewahrt würde, als ob der Bildhauer freiwillig seinem Atelier noch immer fernbliebe, musste mithin dessen Schicksal kennen, das ein recht trauriges meines Erachtens war, eben das eines Ermordeten! Wozu sonst wohl der zweite Zettel von fremder Hand, woher sonst der richtige Schlüssel, mit dem die Rothaarige sich Zutritt zum Atelier verschafft hatte, woher auch das Fehlen jeder Nachricht an seine Braut? Als ich mir alles dies überlegt hatte, fiel mir nun auch eine Äußerung der Mallinger über die Eigentümlichkeiten der Schmidt ein. Sie hatte mir gesagt: ›Seltsamerweise habe ich diese nach links geneigte Kopfhaltung, diese die Worte begleitenden Gesten der linken Hand und manches andere nicht immer bemerkt, sondern zumeist nur, wenn ich mal die Schmidt in ihrem Lokal besuchte, und auch dann nicht regelmäßig.‹ Als ich mich an diese Äußerung erinnerte, sagte ich mir sofort: Hier haben ohne Frage zwei Personen Mutter Schmidt gespielt, zwei, die sich sehr ähnlich sehen und von denen die eine, so unwahrscheinlich es auch sein mag, ein Mann war – eben Thomas Brixen!« 

Harst holte nun das Bild der Schmidt hervor und reichte es Kammler. »Dies ist Olga Wilhelmine Schmidt. Während ich fortfahre, können die Herren es sich ansehen. Mein Interesse gehörte nun mehr nur noch Thomas Brixen. Ich mietete mich verkleidet dem neuen Lokal der Mutter Schmidt gegenüber ein und versuchte dann, Brixen aus nächster Nähe betrachten zu können. Ich hatte Glück. Er ging mit Zenta aus, und selbst auf die Entfernung hin erkannte ich die außerordentliche Ähnlichkeit zwischen der Schmidt und diesem glattrasierten Rentner. Nun war ich meiner Sache völlig sicher, nun wollte ich aber auch noch alle Nebenumstände, insbesondere das Verschwinden Bruckners eines im Übrigen sehr anrüchigen Charakters, feststellen. Ich muss jetzt noch erwähnen, dass ich kurz nach dem Besuch Zentas bei mir von Andreas Nemo einen Drohbrief erhalten hatte und dass Mutter Schmidts Lokal auffallender Weise an demselben Tag gegen sechs Uhr nachmittags durch eine Papptafel mit der Aufschrift Vorläufig geschlossen von der Inhaberin für den Verkehr gesperrt wurde. Für mich war dieses Pappschild ein Beweis, dass Nemo befürchtete, ich könnte in der Speisewirtschaft verkleidet spionieren wollen. Ich war jedoch schon vorher einmal dort gewesen, hatte mir die rothaarige Wirtin genau angeschaut und hatte gehört und gesehen, dass es dort eine Kegelbahn gab, die aber offenbar nur für ganz bestimmte Gäste reserviert war. Dies erinnerte mich an das reservierte Zimmer für die Kleine Harmonie in der Huttenstraße, zumal in letzter Zeit wieder sehr viele schwere Einbrüche hier verübt wurden, die auf eine wohlorganisierte Bande hindeuten. Nachts schlich ich über Zäune und Dächer bis an den Hintereingang der Kegelbahn und entdeckte unter derselben eine Schlosserwerkstatt, in der lediglich Einbrecherwerkzeug hergestellt zu werden schien. Das Geräusch der Kegelkugeln sollte eben das Hämmern in der Werkstatt übertönen. Als ich noch dort unten weilte, musste ich in eine Kiste kriechen, da drei Leute den Raum betraten. Unter diesen befand sich ein Buckliger namens Drewki, eben der Vertraute der Schmidt. Die drei sprachen unter anderem auch über einen Toten, den sie letztens auf dem nahen Kirchhof verscharrt hatten. Ich entnahm ihren Reden Folgendes: Der Tote war Bruckner. Er hatte zufällig die Ähnlichkeit zwischen Mutter Schmidt und Brixen entdeckt und war der Wahrheit dann dadurch ganz auf die Spur gekommen, indem er sich an Zenta heranmachte und sie aushorchte. Von ihm stammt auch eine Anzeige in der Zeitung, in der jemand für 10.000 Mark nähere Mitteilungen über Andreas Nemo liefern wollte. Er hat dann verkleidet vor acht Tagen seine Wohnung nur zu dem Zweck verlassen, gegen Brixen weiteres Material zu sammeln, um nachher von ihm Geld erpressen zu können. Drewki fasste ihn jedoch in der geheimen Werkstatt ab, schlug ihn mit einem Hammer zu Boden und fand bei ihm den Entwurf eines Erpresserschreibens. Die Leiche wurde dann auf dem Kirchhof vergraben. Brixen aber war es, der nun den gefälschten Zettel in das Atelier trug. Ich gelangte nachher glücklich aus der Werkstatt wieder heraus. Am folgenden Morgen las ich Schillings Bericht über Brixens Vergangenheit. Da erst erfuhr ich, dass er Clown gewesen, dass er sich also auf alle Theaterkünste verstand. Heute Abend nun, als er mit seiner Tochter nach München reisen wollte, da ihm der Berliner Boden doch zu gefährlich dünkte, ist er uns leider entschlüpft. Dafür hat aber die Kriminalpolizei auf meine Veranlassung bereits nachmittags sowohl Drewki alias Gialdino als auch Mutter Schmidt verhaftet, Letztere hauptsächlich deswegen, weil sie, als eines Nachts eine bei ihr in der Huttenstraße Unterkunft suchende Taschendiebin plötzlich verstarb, diese Gelegenheit dazu benutzt hat, diese Frau unter ihrem Namen begraben zu lassen. Bemerken möchte ich noch, dass Zenta Brixen von der Existenz dieser Tante Wilhelmine nie etwas gewusst hat und dass das Geschwisterpaar einander an krankhaftem Hang zum Verbrechen, an Abenteuerlust, Habgier und Schlauheit völlig ebenbürtig gewesen sein muss. Die verhaftete Schmidt hat sofort ein umfassendes Geständnis abgelegt, um nicht etwa in die Mordsache Bruckners mit hineingezogen zu werden. So, meine Herren, ich denke, Sie werden befriedigt sein. Sie sehen, wie verhängnisvoll zuweilen kleine Eigenarten werden können, die die Tochter vom Vater annimmt, der aus Lust am Konsolenspielen die Schwester gern vertrat.«

Kommerzienrat Kammler erhob sich, reichte Harst die Hand. »Wir gratulieren zu dem Erfolg von Herzen. Schade, dass ich Ihnen nun nur eine anscheinend leichtere Aufgabe stellen kann: Weshalb wurde die Leiche des chinesischen Kochs des Orientreisenden Arthur Malzahn geraubt?

Harst lächelte ein wenig. »Leichtere Aufgabe? Sie sind ein böser Examinator meiner Fähigkeiten, Kammler!«