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Review: Das Fantasie-Kontinuum

Michael Sagenhorn
Das Fantasie-Kontinuum
Erstveröffentlichung auf dem alten Geisterspiegel am 20. 07.2007

Der Große Xoork wanderte mit Sorgen beladener Miene durch die leeren Fabrikhallen der Produktionsstätte B, dort, wo gewöhnlich ergreifende Liebesgeschichten und einfache Schnulzen hergestellt und mittels komplexer Technik, sogenannter Fantonien, in die Köpfe kreativer Menschen eingegeben wurden. Derzeit arbeitete niemand an den gewaltigen Apparaturen, bestehend aus Schmachtröhren und Herzleidtriebwerken, verschmiert mit Wehmutsgelee und Tränenöl. Nach der Sitzung des Senats hatte er alle Arbeiter zu einem Krisengespräch zusammenrufen lassen, denn ein sofortiges Handeln war unvermeidbar geworden. Von der schnellen Umsetzung des Senatsbeschlusses hing das Schicksal der Lesagen ab, vielleicht sogar das Schicksal der Menschen. Immerhin gehört das Volk der Lesagen, zu den dienstbaren Geistern der Menschen, auch wenn die Menschen aufgrund ihrer niedrigen Entwicklungsstufe nichts von den Lesagen und ihrem Reich, der Utopiemaschine wussten. Das war auch gut so, denn ein Mensch hätte das Konzept der Utopiemaschine eher als beunruhigend empfunden, da das monströs wirkende Konstrukt den größten Teil des Kosmos einnahm. Es konnte aber unmöglich im Netz der dunklen Materie von den Bewohnern diesseits des Raumes entdeckt werden. Selbst sehr hoch entwickelten Arten, jene die es verstanden, das Raum-Zeit-Gefüge künstlich zu durchbrechen, blieb die Maschine der Lesagen verborgen. Doch jedes Lebewesen spürte ihre Präsenz.
»Meine lieben Freunde!«, begann der Große Xoork, als er den Vorsaal mit den versammelten Arbeitskräften betrat.
»Die Lage auf unserer Obhutwelt ist überaus kritisch! Die Fantasie der Menschen hat in den letzten Jahren einen kontinuierlichen Rückgang erlebt, originelle Ideen nehmen weiterhin ab. Geschichten gleichen sich wie Hühnereier, vor allem Filmfortsetzungen sind bei den Menschen im Trend, wobei fast jeder neue Teil, verglichen zu seinen Vorgängern, an Qualität verliert. Damit wird unweigerlich der Charme der Ursprungsgeschichte zerstört. Beim Fernsehen der Menschen ist seichte Unterhaltung zum Standard geworden. Welchen aufrichtigen Lesargen schmerzen zum Beispiel nicht die andauernden Zuschauer-Quizsendungen, deren Fragen die Frage aufwerfen, ob die Verantwortlichen an der Intelligenz ihrer Zuschauer zweifeln. Dieses und andere Konzepte werden auch noch schamlos kopiert und bis zum Abwinken vermarktet.«

Der Große Xoork legte eine Schweigeminute ein, als müsste er seine eigenen Worte erst verdauen. Auch die Arbeiter schwiegen betroffen. Jedem war die Lage bewusst. Dann setzte der Große Xoork seine Rede fort.
»Ich könnte noch viele Beispiele anführen, und viele Missstände, die auch in anderen Medien vorherrschen, doch ich glaube, das erspare ich uns. Sie alle wissen ja Bescheid. Den meisten Menschen ist die Krise bekannt, doch sie glauben, sie seien selbst daran schuld. Sie vermuten, dass den Verantwortlichen der Mut fehle, neuen Ideen eine Chance zu geben. Andere Menschen bezichtigen ihr Universaltauschmittel Geld, da es stark süchtig macht. Wir aber wissen es besser! Daher hat der Senat beschlossen, unsere Fantasieentwicklungsumgebung Musen gegen das brandneue FDT 4120 einzutauschen, ein Fantasy Developer Tool mit unglaublicher Leistungskraft, denn was zu Homers Zeiten noch brauchbare Geschichten hervorgebracht hatte, ist heute nicht unbedingt noch zeitgemäß. Morgen legen wir los! Die Umstellung soll in sechs Monaten abgeschlossen sein.«
Da begannen die Arbeiter zu tuscheln, aufgeregtes Raunen erfüllte den Saal wie ein dumpfes Lied.

Wortlaute klangen durcheinander: »… morgen? …«

»… Was ist eigentlich FDT? …«

»… ist doch verrückt!«

»… und was ist mit meinem Urlaub …?«

»Entschuldigung!«, rief einer etwas lauter, an den Großen Xoork gewandt. »Ich will mich ja nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber gibt es jemanden bei uns, der sich mit der neuen Apparatur auskennt? Es ist nämlich so, dass mir keine Abteilung einfällt, die das FDT-System schon im Einsatz hat.«
»Lieber Weisenax! Wir sind die Ersten, die das FDT 4120 für ihre Obhutwelt einsetzen werden. Ist das nicht wunderbar? Wir sind die Vorreiter einer neuen, innovativen Art der Geschichtenkreierung. Damit schreiben wir Lesagen von Abteilung Erde Geschichte!«
»Aber, Großer Xoork! In welchem Umfang stehen uns die Entwickler von FDT 4120 zur Seite? Schließlich haben wir keine Ahnung von dessen Funktion.«
Der Große Xoork schaute mit allen 14 Augen, als hätte er den Sinn der Frage nicht recht verstanden. »Mein lieber Weisenax! Die Entwickler kosten ein stattliches Sümmchen an Quanten pro Zyklus. Wir wollen doch hübsch wirtschaftlich bleiben, oder? Das können wir genauso gut, schließlich sind wir Experten! Uns stehen da außerdem ein paar Haftzettelchen mit den Notizen der Entwickler zur Verfügung. Anhand dieser unschätzbaren Unterlagen werden Sie in der Lage sein, das neue System im Handumdrehen zu beherrschen. Nun schauen Sie nicht so betröpfelt. Schließlich haben Sie das Vergnügen, ein völlig revolutionäres System bis ins letzte Detail zu studieren. Ach! Manchmal beneide ich Sie alle! Wie gerne würde ich auch mit anpacken, aber dafür fehlt mir die Zeit«, seufzte der Große Xoork, der ja die schwere Last der Verantwortung für die Umstellung tragen musste und daher niemals noch zusätzlich praxisbezogene Aufgaben übernehmen konnte. Er musste sich leider auf Kommunikation und Organisation beschränken.

 

***

 

So begann also die großartige Einführung des neuen Fantasy Developer Tool 4120. Da es aber an den Menschen noch nicht erprobt war, kam es während der Testphase zu allerlei Wunderlichkeiten. Hollywood erlebte das große Jahr der goldenen Himbeeren. Da war nicht mehr von toten Dichtern die Rede, die in ihren Klubs grüne Tomaten zum Frühstück aßen, sondern davon Wie ich ein wieder verwertbares Plastik-Sahne-Röllchen verzehrte’ Brachte man noch Filmen wie Die Kronen des Korks, Des Nonsens reinste Gedanken oder Jenseits des stillen Gnus große Verwunderung entgegen, wurden bei anderen Werken, vor allem bei den unendlichen Fortsetzungsgeschichten, die ersten Unmutsbekundungen laut. So mancher Kinobesucher lief beinahe Amok als Der weiße Hai 30 – Jetzt mit blendend weißen Zähnen anlief, besonders als der Hauptdarsteller ein gewisser Doktor zur Bestform auflief und den Hai am Ende mit einer (roten) Tomate tötete, die er mittels einer klinisch getesteten Zahnbürste abgefeuert hatte.
Auch bei den Printmedien lief einiges verkehrt. Aufgrund eines Defekts in der neuen Maschine schaltete sich der blumige Einfallsreichtum der Journalisten für Tagesblätter vollkommen ab. Sie schrieben nur noch nüchtern die Wahrheit, worauf manche große Tageszeitung natürlich Konkurs anmelden musste, weil dieses langweilige Schundblatt niemand mehr zum Lesen reizte. Selbst der ehrbare Beruf des Schriftstellers begann darunter zu leiden, als denen nichts mehr einfiel und sie nur noch Branchenbücher auf den Markt brachten. Nur das TV blieb zu diesem Zeitpunkt noch unberührt. Zum Sommerloch strahlte es ohnehin nur Wiederholungen aus.

Doch das waren nur kleine, zu vernachlässigende Unstimmigkeiten im neuen, großen System. Unsere Lesagen arbeiteten unermüdlich, um all diese Fehler zu beseitigen. Doch es gab auch Querulanten, die mit der Revolution nichts anzufangen wussten.

»Was schon Dante inspirierte, wird doch für die heutigen Einfallspinsel noch brauchbar sein«, sagten sie verstockt.
Einige gingen sogar soweit, die Arbeit zu sabotieren. Sie zerstörten empfindliche Elemente der Maschinerie, nur um daraufhin zu sagen: »Seht her! Was für eine nutzlose Maschine.«
Der Große Xoork ließ sich davon aber nicht verdrießen. In diesem Fall musste er die Entwickler von 4120 doch vor Ort bestellen. Sie galten als sehr sorgfältige Burschen, die nicht guten Gewissens einen einzelnen defekten Knopf wechseln wollten, ohne auch die gesamte Einheit auszutauschen, die mit diesem Knopf aktiviert wurde. Die Quanten, die die Ingenieure für das neue Element bekamen, spielten natürlich nur eine nebensächliche Rolle. Wichtig war nur die Sicherheit der empfindsamen Apparatur, selbst dann, wenn es sich beim getauschten Element um den automatischen Wischmopp gehandelt hatte. Leider waren die Ignoranten nicht die einzigen Saboteure.
»Wie steht’s Weisenax, wie steht’s?«, fragte der Große Xoork zu Beginn jedes Arbeitstages.
»Wir haben größere Probleme mit den Genreverteilern«, erklärte der Arbeiter dieses Mal. »Es läuft einfach kein Genre dahin, wo es hinsoll. Gestern Abend hatten ein paar Menschenkinder Weinkrämpfe und Nervenzusammenbrüche, weil Kannibalen in ihre Bilderbücher gelangt sind. Wir sind nun dabei, die Informationsleitungen um einen Datenbus zu erweitern.«
»Datenbus? Unsinn! Lassen Sie mich mal die Konstruktionspläne sehen.« Damit riss der Ehrwürdige dem verdutzten Weisenax die Pläne aus der Hand. »Aaaaaha!« Der Große Xoork deutete auf einen Teil des Planes. »Dort müssen Sie einen zusätzlichen Verteiler anbringen, damit sich die Genreflut gleichmäßig verzweigen kann.«
»Aber …«
»Kein Aber! An die Arbeit, lieber Weisenax.«
Doch der zusätzliche Verteiler sorgte für eine Überlastung an einer anderen Stelle der Apparatur, worauf die mit einem lauten Knall explodierte; sehr zur Freude der anschließend gerufenen Entwickler.
»Sind sie wahnsinnig, Weisenax?«, brüllte der Große Xoork, als er die Bescherung sah.
»Das war der zusätzliche Verteiler, Boss, den ich beim Genre Splitting auf Ihre Anweisung hin angebracht habe.«
»Ein zusätzlicher Verteiler? Warum hören Sie nicht zu, wenn ich etwas sage? Sie sollten einen weiteren Datenbus verlegen!«
»Aber …«
»Kein Aber! Haben Sie die Weisung dieses Mal auch richtig verstanden? Ts! Verlegt einen Verteiler, wo ein Datenbus hingehört. Ich frage mich, ob ohne mich überhaupt etwas vorwärts ginge«, schimpfte der Große Xoork, der es nicht leicht mit all den ungebildeten Untergebenen hatte und stampfte davon.

 

***

 

Auf der Erde war der Teufel los. Mittlerweile hatten sich die Testläufe der neuen Maschine auch auf das Fernsehen ausgewirkt. Neue Ideen für Shows aller Art blieben aus. Die harte Reality bestand darin, dass sogar bekümmernder Talk zur Comedy wurde. Vorbei war es mit Dance und Superstars, die Experten prognostizierten eine Zukunft so schwarz wie ein Raab. Gott saß wahrscheinlich der Schalk im Nacken, denn selbst der beliebte Günter löste sich in Jauch auf. Geblieben waren die Nachrichten, gespickt mit Politikern, die selbst jetzt noch fabelhafte Geschichten zu erzählen wussten, und Menschen, die sich überhaupt nicht gernhatten, sich daher blutige Gefechte lieferten und das Wort darüber ganz vergaßen. Da gingen überall die Menschen auf die Straßen und randalierten, denn sie wollten nicht ausschließlich Gewalt im Fernsehen sehen. Sie wollten gerne gute Geschichten hören, aber nicht von Politikern erzählt. Daher wurden sie sehr wütend. Vielerorts brannten Bibliotheken, Kinos und Studios. Sie schlugen alles kurz und klein und vergriffen sich am Eigentum sehr mächtiger und reicher Menschen. Die ließen sich das nicht gefallen und schlugen auf ihre Weise fürchterlich zurück. Die anfänglichen Tumulte verwandelten sich in offene Aufstände, die sich unkontrolliert ausbreiteten. Nun ging es keineswegs mehr nur um einfache Unterhaltung oder schlechte Geschichten. Andere Missstände wurden von den Wortführern der Aufstände an den Pranger gestellt. Die Menschen begannen sich untereinander die Köpfe einzuschlagen. Viele Regionen wurden zum Ausnahmegebiet erklärt. Der Erdball verdunkelte sich.

In der Zwischenzeit fragte man bei den Lesagen: »Wurden alle Interfaces integriert und getestet?«
»Interfaces? Was für Interfaces, Boss? Niemand hat etwas von Interfaces gesagt.«
»Haftzettel 734, mein lieber Weisenax! Also wirklich! Muss ich mich um alles kümmern? Wir können doch unmöglich mit 4120 in den Echtbetrieb gehen, ohne vorher die alten Geschichtsschablonen zu übernehmen. Nun machen Sie aber! Wir wollen doch pünktlich in zwei Tagen fertig werden.«
»Wie soll ich so schnell alle Interfaces erstellen? Ich habe Tag und Nacht am Ideenkonverter gearbeitet. Außerdem rate ich dringend von einem Echtbetrieb zu diesem Zeitpunkt ab. Sehen Sie doch, was allein die Testläufe für Schaden unter den Menschen angerichtet haben.«
»Das kriegen wir schon in den Griff. Was wir jetzt brauchen, ist ein wenig Optimismus.« Der Große Xoork packte Weisenax an den Schultern. »Mut, Weisenax! Denken Sie an die vielen fantastischen Geschichten und an all die revolutionären Ideen. Weisenax! Harry Potter darf nicht der letzte Geistesblitz der Menschen gewesen sein!«
»Mag schon sein! Ich halte es dennoch für riskant!«

Nun ist es ja altbekannt, dass den Dummen das Glück besonders hell aus dem Hintern scheint. So auch in unserem Fall. Obwohl die Umstellung völlig konfus vonstattenging und das FDT 4120 viel zu früh eingesetzt wurde, glückte die Ablösung irgendwie, worauf der Große Xoork vom Senat besonders geehrt wurde. Seinem Fachwissen, seiner Einsatzbereitschaft und seiner Entschlossenheit sei es zu verdanken, dass die Ablösung der alten Maschinen so gut geplant und ohne nennenswerte Zwischenfälle vonstatten gelaufen war. Man war sich einig, dies geschah zum Segen der gesamten Menschheit, die, wenn sie sich von den Folgen des Dritten Weltkrieges erholt hatte, einem Zeitalter der wunderbaren Geschichten entgegenfiebern durfte.