Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Diane Teil 2 – Kapitel 8

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts
Zweiter Teil

Achtes Kapitel

Geschichtliche Betrachtungen und die Erscheinung im Turmgemach

Den nächsten Morgen dachte Herr Lobmeyer daran, seine Reise fortzusetzen. Unter welcher Gestalt sollte er sich im Schloss zeigen? Wenn der General die Justiz und ihre Priester nicht leiden konnte, so war es eine Tollkühnheit, unter dem Titel eines Advokaten Eintritt zu verlangen. Zudem wollte er auch dem General gar nicht vor die Augen kommen, denn er hatte nichts mit diesem alten Eisenfresser, wie er ihn nannte, zu tun. Während er noch hierüber grübelte, trat der Wirt ein.

»Ich begreife nicht«, hob der Rechtsgelehrte an, »wie Ihr Herr sich solche Dinge erlauben darf, wie ich sie gestern erlebte. Wer gestattet ihm, willkürlich Gericht über seine Diener zu halten? Er hat gestern Fragen entschieden, die vor ein Tribunal gehören, er hat Strafen diktiert, die er nicht anordnen darf, und die erst nach weitläufiger Untersuchung dem Kriminalsenat zu Königsberg auferlegt. Ich sehe, Ihr Herr spielt noch den alten Grundbesitzer der Feudalzeit. Klagt denn niemand über ihn? Ich will Euch dazu behilflich sein und Euch die Wege und Mittel aufzeigen, wo Ihr Eure Beschwerden anbringen könnt.«

»Mein bester Herr«, erwiderte der kleine Wirt. Seine Nasenspitze wurde rötlich. »Man hört, dass Sie ein gelehrter Mann sind, der aus der Hauptstadt kommt, und alles nach dem Buchstaben gerichtet wissen will. Im Leben sehen jedoch die Dinge anders aus, als auf dem Papier. Der General ist unser unumschränkter Gebieter und Herr. Wir haben uns ihm mit Leib und Leben ergeben. Das weiß er, darum ist ihm auch das Buchstabenwesen der Gesetze, die man in Berlin fabriziert, ein Spott. Wir sind frei, wohl war, wir können ihm kündigen, wir können ihn verklagen, aber niemand tut es, denn wir wissen alle, so stolz und wild er ist, so hält er doch das Ganze zusammen. Die gelehrten Herren mit ihrem neuen Teilungssystem können nicht heran, noch weniger kann der reiche Kaufmann kommen und uns und unser Hab und Gut wie eine Ware behandeln, aus der er Vorteil zieht. Lässt er uns heute einsperren und schlagen, so sorgt er auch für Weib und Kind. Kein Beispiel ist vorhanden, dass er den armen, durch Krankheit oder Alter unfähig gewordenen Dienstmann als Bettler von seinem Gebiet jagt, wie es alle seine Nachbarn tun. Der Bauer denkt zuerst daran, wer ihm Schutz verleiht, die Herren, die auf einen kleinen, halb geliehenen, halb geschenkten Boden sitzen, den sie heute haben und morgen schon wieder verlassen, können keine Zuversicht einflößen, bei diesem hier, der ein mächtiges Besitztum kraftvoll beisammen hält, dient der Dienstmann mit Vertrauen, denn er weiß, dass dieselbe Scholle, die er bearbeitet, schon von seinem Vater, Großvater und Urgroßvater bearbeitet wurde.«

»Das ist eine lasterhafte dumpfe Gesinnung, die dem Zeitgeist widerspricht, und die ausgerottet werden muss«, sagte der Advokat. »Und«, setzte er hinzu, »wie konnte er es nur wagen, das arme Fräulein, die sichtlich die größte Lust zum Heiraten hatte, von ihrer Ehe mit dem Handwerker abzuhalten? Auch dieser Fall qualifizierte sich zu einer Klage.«

»Da er zu des jungen Uhrmachers Lehre und Ausstattung die Kosten hergegeben hat«, erwiderte der Wirt, »und sonst noch für ihn sorgen wird, so zerrüttete sich dieser sein ganzes Lebensglück, wenn er nicht Folge leistete.«

»Eine solche Unterwürfigkeit ist gegen den Zeitgeist«, bemerkte der Advokat.

Wir verlassen jetzt diesen sehr achtbaren Jünger der Themis, um uns auf das Schloss des Generals zu begeben.

Es übt einen unbeschreiblichen Zauber auf das Gemüt des Beobachters aus, in einer Zeit, wie die unsere, wo alle Gegensätze sich mehr oder minder verflachen und die Individualitäten, die den Sittenschilderungen voriger Jahrhunderte einen so eigentümlichen Charakter gaben, immer seltener werden, noch auf eine Urform zu stoßen, die die Gesetze ihrer Bildung von keinem der vielen Einflüsse des bewegten Lebens unserer Tage herleitet.

Eine solche antirevolutionäre Erscheinung führen wir dem Leser in der Person des Generals vor. Doch um ihn gehörig erklärend zu beleuchten, ist es nötig, den Hintergrund anzugeben, von welchem die Gestalt sich abhebt, und der in einer Zusammenstellung historischer Tatsachen besteht. Das Land, das wir hier vorzüglich im Blick haben, ist die fortgesetzte Strecke fruchtbaren Marschlands, das sich von den Odermündungen bis zu dem Weichseldelta hinzieht und die reichen Städte Danzig und Elbing mit in sein Gebiet fasst. Dieser Teil des nordöstlichen Preußens war Besitztum des mächtigen Ordens, der seinen Sitz in Marienburg hatte. Das Schwert der Ritter gewann die alten heidnischen Priester und Litauen dem Christentum und der Gesittung und erteilte damit zugleich dem eroberten Boden einen eigentümlichen Charakter, der bis in unsere Tage hineinreicht, und ist der Charakter einer mächtigen und stolzen Aristokratie, wie er sich in keinem anderen Land findet. Die Einsamkeit dieser Gegenden, ihre Entfernung vom Herd der Kultur, haben ohne Zweifel dazu beigetragen, dass der ehrenwerte Stolz jener Eroberer in ihren Enkeln zu einem nicht zu billigenden Kastengeist erstarrte. Der mächtige Orden, der mit Kaiser und Reich in die Schranken trat, hat dem Geist moderner Aufklärung und der Fortbildung der christlichen Ideen weichen müssen. Allein die alten Ritter, die mit dem Kreuz der Demut auf der Brust Fürsten Gesetze gaben, sind nicht alle verschwunden. Um die Ordensfestung zu Marienburg wandeln noch die Schatten voriger Jahrhunderte. An den einsamen Gestaden der Ostsee hört man die sagenhaften Klänge herübertönen von einem Eiland, das die Fluten deckten, aber von dessen Pracht und Schöne noch einzeln aus der Tiefe ragende Türme und Zinnen sprechen. Die Weltgeschichte singt hier das melancholische und ergreifende Lied von einstiger staunenswerter Größe dem Jüngling ins Herz, und darf man sich denn wundern, wenn gegen die großen ossianischen Geister jener Tage die heutigen Bildungen ihm klein und verächtlich erscheinen. Dies alles will andeuten, dass der verpönte Name Aristokrat in jenen bezeichneten Gegenden noch in seiner ganzen stolzen Herrlichkeit, aber auch in seiner ehrenhaftesten Gestaltung herrscht. Die edelsten Namen der preußischen Geschichte sind hier zu finden, aber sie leben einsam und zurückgezogen. Selten sieht man diese grands Seigneurs im modernen Berlin und am Hof ihres Königs erscheinen. Sie bewahren streng ihren Unabhängigkeitssinn. Nur der Landtag zu Danzig sieht sie regelmäßig erscheinen und ihre Stimmen abgeben, wo es sich um das Wohl des Landes handelt. Die zwei mächtigsten Pfeiler, auf denen das Ordensgebäude ruhte, Gott und die Ehre, scheinen noch unverwandelt die Stützen zu sein, die die Idee des Adels trägt. Von hier aus wurde die erste Königskrone vergeben. Das verarmte und einsame Königsberg sieht stolz auf Berlin herab, auf diese Metropole, wo die moderne Industrie ihre Maschine aufgestellt hat, an der sie ihre bunten vergänglichen Gewebe künstelt. Allein dieses historische Bewusstsein, dass eine so edle Blüte der Ritterlichkeit treibt, hält auch gehässige Kräfte wach. Die Leibeigenschaft faktisch schon längst aufgehoben, ist es tatsächlich noch nicht ganz. Immer betrachtet sich der Herr als unumschränkter Gebieter, und der Untergebene paart die Willenlosigkeit eines Sklaven mit dem modern eingeimpften Trotz. Die Zerwürfnisse der neueren Zeit haben in diesen schwankenden und noch nicht festgestellten Elementen ihre Quelle. Hierher zielen die neuen agrarischen Gesetze, welche sich damit beschäftigen, die Rechte des Grundherrn und des Bauern festzusetzen. Viele Verordnungen, die das Gesetz gegeben hat, erweisen sich als unstatthaft, andere bleiben nur als unfruchtbarer Buchstabe auf dem Papier. Das Leben entwickelt sich nach organischen Gesetzen, und kein Kalkül einer noch so scharfsinnigen Gesetzgebekunst wird hier Hemmungen einlegen dürfen. Wir haben schon gesehen, wie ein mächtiger Gebieter auf seine eigene Hand, unbekümmert um die bestehenden Gesetzestafeln, Gerechtigkeit übte. Diese Skizze wird sich nun, wenn wir den Charakter des Generals in mitten seines kleinen Reiches schildern, zum Bild vervollständigt. Ein Mann, wie der General, wäre in einer Stadt wie Berlin und Breslau, eine unmögliche Figur, in jenem nordischen Küstenstrich ist sie nicht nur möglich, sondern völlig naturgemäß.

Wir wollen sein altes Stammschloss ins Auge fassen. Es ist unbetastet im Charakter der Schlösser jener frühesten Periode und hat viel Ähnlichkeit mit dem alten Residenzschloss des letzten Fürstbischofs von Ermeland, nur muss man sich dies auch nicht im eleganten Stil der mittelalterlichen Bauwerke in Italien und Frankreich denken, es erscheint vielmehr gegen diese gehalten schwerfällig. Allein in diesem Massenhaften liegt ein Reiz eigener Art. Der Orden legte den Keim zu den zwei Hauptelementen, auf die Preußens eigentümlicher Charakter noch jetzt beruht, das militärische und intellektuelle. Das erstere Motiv zeigt sich bei den Bauwerken vorherrschend. Überall glaubt man Festungsmauern zu erblicken. Die Häuser in den Städten, die Schlösser auf dem Land, selbst die Kirchen sind befestigt. Da das Land flach ist, konnte der Adel sich nicht, wie er es am Rhein tat, auf hohen Bergspitzen anbauen, er musste daher in der Höhe der Mauern und in ihrer besonderen Struktur den Schutz suchen, den ihm die Natur verweigerte. Dieses erste und dringendste Bedürfnis der Verteidigung ließ ihn zugleich die schmucklose, zu ihrem Zweck geeignete Form wählen, das Quadrat. Fast alle Gebäude zeigen in großer Einförmigkeit ein regelrechtes Viereck, selbst die Kirchen sind nicht in zierliche Poligone gebrochen, sondern bilden einfache Mauerwürfel, öfters selbst mit Schießscharten umgeben. Die Fenster sind vereinzelt angebracht, gehen tief und sind schmal. Es ist nicht zu leugnen, so schmucklos diese Burgen sind, sie doch eine kräftige und kriegerische Haltung zeigen, die die zierlichen Burgen am Rhein und an der Donau nicht veranschaulichen. Im Inneren dieser Schlösser herrschte damals reicher Schmuck und fürstliche Pracht. Aber dieser Schmuck und diese Pracht waren schwerfällig und überladen. Nur der Städter zeigte Geschmack und Sinn für die Künste. Das reiche Danzig wusste sich unter der Last seines Goldes und seiner Perlen nicht zu lassen, hierher zogen die Künste und die Schönheit. Der alte Artushof in Danzig, die Gemälde van Eyks und Möllers geben hier von Kunde. Die Burgen der Ritter waren weniger dem Putz zugänglich, ebenso die Klause des Mönchs. Man überließ die Ausschmückungen des Lebens demjenigen, der dieses Leben in Ruhe genoss, dem reichen Handelsmann, der nicht in den Krieg zog, nicht nötig hatte, die Schärfe eines guten Schwertes stets geprüft zu erhalten, sondern der bei schönen Frauen und bei süßem Saitenspiel sein Geld zählte und treffliche Bilder betrachtete. Der Zustand des Bauern damaliger Zeit war der eines Leibeigenen, dienstpflichtig mit Leben und Eigentum seinem Herrn. Jene unruhigen Tage erlaubten keinen festen und geregelten Besitz. Die Schmucklosigkeit in den Bauten der Gebieter artete in der Hütte des Landmanns in die roheste Barbarei aus. Noch immer ist etwas von diesem Charakter den jetzigen Dörfern eigen. Die Wohnung des selbst begüterten Dienstmannes bietet wenig mehr als eine, aus Backsteinen aufgemauerte, unregelmäßige, pyramidenförmige, Höhle, die den Herd und zugleich den Kamin des Hauses abgibt, während um diesen Kern aus Stein das eigentliche Haus herum gebaut ist, und in dürftiger Einteilung die notwendigsten Räume, um eine Familie und deren Hausrat zu beherbergen, enthält. Öfters sind eine Anzahl Haustiere aller Art die nächsten Anwohner der Familie, mit der sie im besten Vernehmen leben. Die Einsamkeit des Landes, seine abgeschlossene Lage, das dadurch bewirkte Festhalten an alte Gebräuche, machen, dass hier der Aberglaube herrscht, der öfters eine sehr finstere und drohende Gestalt annimmt, und die kleine Hütte, in der Armut, Elend und Unsauberkeit einkehren, versammelt an ihrem Herd auch den finsteren Separatistengeist und die abergläubige Spekulation. Es scheint, dass die politische Unfreiheit, die diesen Stämmen noch in der Erinnerung liegt, in ihrer Vereinigung mit dem Prinzip der protestantischen Glaubensfreiheit, ein Gemenge verworrener Begriffe gibt, die einesteils in Überspanntheit, anderenteils in Indifferentismus und Unglauben sich aussprechen.

Wir müssen von diesen allgemeinen Betrachtungen zu dem eigentlichen Schauplatz unserer Geschichte übergehen. Es kann dies am füglichsten geschehen, wenn wir die Ankunft der Tochter Florentins auf Schloss Windeck schildern. Zu diesem Behuf müssen wir einige Monate zurückgehen. Im zwölften Kapitel des vorigen Abschnitts sehen wir sie, sich zu dieser Reise anschicken, mit welchen quälenden Gefühlen von Ungewissheit und Zweifel sie es tat, haben wir nur angedeutet. Je näher sie sich jedoch der endlichen Entscheidung ihres Schicksals geführt sah, desto heftiger und bis zur Marter gesteigert wurde die Erregung ihres Gemüts, sodass, als die Türme des Schlosses Windeck vor ihr erschienen, ein heftiger Brustkrampf sie befiel und sie auf einige Minuten der Besinnung beraubte. Zum Glück war im Wagen niemand anders gegenwärtig, als das Kammermädchen. In einer besonderen mit allen Erfordernissen der Reisebequemlichkeit eingerichteten Kutsche befand sich die Fürstin, und ihr Neffe hatte ein Cabriolet inne, das er selbst lenkte. Als der Wagen mit dumpfem Schall durch das gewölbte Tor der Einfahrt rasselte, klang es wie unterirdischer Donner in Judiths Ohr.

Das Kammermädchen, das das Unwohlsein ihrer Gebieterin auf den Staub und die Hitze der Reise schob, rief jetzt heiter: »Wir sind endlich angelangt! O sehen Sie, gnädiges Fräulein, welch ein majestätisches Schloss, wie hoch die Mauern! Und dort das herrliche Wappen über dem Eingang. Es ist dasselbe, welches wir schon wenigstens zwölf Mal an verschiedenen Orten verteilt gesehen haben.«

Das Mädchen unterbrach ihre Bemerkungen, indem sie einen Angstschrei ausstieß: »O Himmel, das arme Bettelmädchen dort! Sie drängt sich so nah an unserem Wagen vorbei. Wenn die Räder sie nur nicht erfassen!«

Judith sah hinaus und erblickte ein mageres krankes Geschöpf in Lumpen, das sich, wie es schien, verfolgt von der Peitsche des Hofwächters zum Tor hinausdrängte. Der Anblick machte die Tochter des Verbrechers schaudern. So werde auch ich einst in Lumpen und Schande fliehen!, rief es in ihrem Inneren. Sie bedeckte ihr Antlitz, um das bleiche Gespenst nicht zu sehen.

Das erste Gemach, indem die Reisenden verweilten, war ein altertümlicher gewölbter Saal, dessen schmale Fenster nur ein düsteres Licht einließen. Dieses Licht beleuchtete eine Menge alter Rüstungen und lebensgroßen von der Zeit geschwärzter Gemälde. Eine kühle kellerartige Luft herrschte in diesem Saal. Die Fürstin ließ sich durch zwei Bedienten in einem Armsessel die breite Treppe hinauftragen. Sie fand die Zimmer, die man für sie ausgewählt hatte, ganz nach ihrem Geschmack eingerichtet und mit allem versehen, was sie in ihrem eigenen Haus verlassen. Dies war eine Aufmerksamkeit, die die Dame dem General zu Gute schrieb, die jedoch ihr Neffe ausgeübt hatte, denn der Besitzer des Hauses, lange Zeit schon von weiblicher Gesellschaft entblößt und verwirrt durch den besonderen Grund des diesmaligen Besuchs seiner Cousine, hatte Franz die Anordnungen des Empfangs übertragen und zugleich befohlen, man möchte ihm melden, wann es seiner Verwandten gelegen sein würde, seinen Bewillkommungsbesuch zu empfangen. Diese Förmlichkeit war bei zwei Personen, wie der General und die Fürstin eine Sache, die sich völlig von selbst verstand. Sie gehörte zu dem Codex der Sitte, in dessen Vorschriften beide aufgewachsen waren.

Die Fürstin hatte eine Toilette nötig, die das Doppelte der Zeit erforderte als zu Hause, ehe sie diese Aufforderung ergehen ließ. Sie hüllte sich in eine rosenrote Wolke aus Gaçe, die blonden Locken ihrer Perücke diesmal unter eine kleine Schleierhaube gezwängt, und ihren aufs Äußerste abgemagerten Hals und Nacken in vielfache Schleier gewickelt. Aus diesem sah nun das zarte, wie in seiner Porzellanmalerei gerötete Kindergesichtchen mit den großen blauen Augen, wie aus einer Wolke hervor. So kostümiert, setzte sie sich auf das Sofa, drückte sich in die Kissen, ließ sich ihr Riechdöschen geben und erwartete nun den Besuch ihres Verwandten, dessen schwere Stiefel, über den großen Speisesaal tönend, sich auch alsbald hören ließen. Man hatte Judith angedeutet, dass sie bei dieser ersten Zusammenkunft nicht gegenwärtig sein dürfe, und höchst willkommen war der Halberkrankten diese Frist. Der General erschien in einer etwas verblichenen Uniform der preußischen Freiwilligen, von denen er ein Corps gegründet hatte, und dessen Chef er gewesen war. Dieser Rock eines alten Patriotismus kleidete die derbe Gestalt, die ihn trug, vortrefflich. Man merkte gleich, dass ein Gesicht, wie dieses, keinen anderen bunten oder gestickten Kragen in seiner Nähe duldete. Die Unterredung dauerte nur wenige Minuten und bestand in den üblichen Förmlichkeiten. Um neun Uhr speiste die Fürstin zu Mittag allein auf ihrem Zimmer und eine Stunde später kam der Hausherr wieder, um sich nach dem Befinden seines Gastes zu erkundigen und ihr gute Nacht zu wünschen; etwas, was dem Ohr der Dame sehr sonderbar klang, da sie erst ihren Tag anfing.

Gegen Abend des vierten Tages lag Judith auf einem Ruhebett ihres Zimmers. Es war ein abgesondertes Turmgemach, das zierlich und bequem zu seinem jetzigen Gebrauch eingerichtet war. Es war eine Stunde vor Sonnenuntergang. Die Schatten der Pappeln vor dem Fenster bewegten sich spielend auf der noch hellen Wandfläche, die der Ruhenden gerade gegenüberstand, und auf die ihre in träumerisches Sinnen halbgeschlossenen Blicke nun zufällig geheftet waren. Das Düstere des Zimmers nahm zu, immer mehr verschwand der rötliche Abendschein, der sich um die Schatten bildete. Eine matte, bläuliche Fläche blieb, über die nur hin und wieder noch ein dunkler Hauch schwebte. All dieses sah Judith, denn ihre Aufmerksamkeit wurde durch, sie wusste nicht, welches dunkle Gefühl, auf diese Stelle an der Wand hingeleitet. In Pausen, wo diese Spannung etwas nachließ, ging ihr Sinnen in einen traumähnlichen Zustand über, dann aber musste sie wieder mit erwachtem Bewusstsein jene Stelle betrachten. Die bläulichen Schatten derselben hatte sich nun in tiefes Grau verwandelt. Aus diesem nebelhaften Grund blickten plötzlich zwei Augen hervor, mit scharfem Blick und erregter Miene. Nicht gewiss, ob sie träume oder wache, betrachtete Judith diese gespenstischen Züge. Immer deutlicher trat ein menschliches Antlitz an der Wand hervor, immer genauer zeigten sich die schroffen und starken Formen, die hohe Stirn, das weiße Haar und ein Stück von der Bekleidung des Halses. Judith fühlte sich beklemmt und geängstigt. Ein Bild vergangener Tage, eine fast schon vergessene, schreckliche Begebenheit trat lebendig, neugestaltet vor ihre Seele. Sie sah sich wieder auf die baufällige Galerie des alten Waldschlösschens versetzt. Jenes Antlitz, das ihr als das furchtbarste Schreckbild in der Nachtszene erschienen war, stand jetzt vor ihr, doch nicht, wie damals, in seiner Verzerrung, sondern ruhig, kalt, beobachtend, dennoch war es dasselbe Antlitz. Jeder Zug trat aus dem Dämmerlicht hervor. Traum und Wachen vermischten sich zu einer aufregenden Gruppe. Sie war wieder in jenem Waldschloss, sie stand wieder auf der Galerie, sie sah unter sich wieder das entsetzliche Vorgehen, das sie damals erschaute. Einen dumpfen Schrei ausstoßend, war sie im Traum eben im Begriff, die Treppe herab zu eilen, als das offen gebliebene Fenster in ihrem Zimmer zuschlug und dieser Ton sie weckte. Jetzt wusste sie, dass sie geträumt hatte, aber ihre Blicke auf die Wand richtend, sah sie noch immer das Antlitz, und die Augen von der Wand her waren auf sie gerichtet. Unfähig, unter diesem Zauberbann zu atmen, sprang sie vom Lager auf und stürzte sich auf die Wand zu. In diesem Augenblick schnappte eine Feder zu, und der Marmor bot eine völlig gleiche unsichtbare Fläche. Judith untersuchte die Stelle, sie ließ Licht kommen und entdeckte nun ein Schiebefenster, das sehr künstlich in die Wand eingefügt war. Sie besann sich jetzt, von Franz erzählen gehört zu haben, dass dieses Gemach einem früheren Besitzer als alchemistischen Laboratorium gedient und dass seine Angehörigen Mittel gefunden hatten, ihn bei seinen geheimnisvollen Arbeiten zu belauschen.

Die Tochter Florentins öffnete das Fenster. Indem die kühle Abendluft über ihre erhitzte Stirn säuselte, fand ihre erregte Seele Ruhe und Fassung.