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Der Detektiv – Die Jagd auf einen Namen – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Jagd auf einen Namen
1. Kapitel

Kommerzienrat Kammler, der Beauftragte der Wettgegner Harald Harst, war soeben gegangen und hatte noch zum Abschied uns von der Tür aus zugerufen: »Viel Glück! An diesem Nemo haben sich bisher alle vergeblich versucht. Wollen sehen, ob der große Harst mehr kann als die Kriminalbeamten und die meisten Privatdetektive Berlins!«

Kammler hatte es wirklich dieses Mal sehr eilig gehabt, uns die neue Aufgabe zu übermitteln und sie uns mit einem triumphierenden Schmunzeln jedes einzelne Wort betonend, mitgeteilt. Sie lautete: Wer ist der sogenannte Einbrecherkönig Andreas Nemo?

Harald Harst schaute Kammler nach und dann zum Fenster hinaus. Die Sonne war bereits im Untergehen begriffen. Ein prachtvoller Maitag neigte sich seinem Ende zu. Harst sagte träumerisch: »Berlin enthält mehr Geheimnisse als die Uneingeweihten auch nur im Entferntesten ahnen. Der solide Bürger liest wohl mal in der Zeitung eine seltsame Begebenheit, zerbricht sich darüber aber nicht weiter den Kopf. Ich glaube, auch Sie, lieber Schraut, werden sich kaum besinnen, dass vor etwa vier Wochen der geheimnisvolle Andreas Nemo – Nemo heißt ja auf Deutsch niemand – abermals in den Spalten der Tageszeitungen drei Tage lang in kurzen Notizen herumspukte …«

»Allerdings, darauf besinne ich mich nicht, Herr Harst. Aber …«

»Nun, aber …«

»Ja, das hängt mit jener Zeit zusammen, als ich noch den Namen Komiker-Maxe hatte und … und Taschendieb und nicht wie jetzt Ihr Privatsekretär und Gehilfe war.«

»Ah, Sie wollen andeuten, dass Sie damals gelegentlich über den Einbrecherkönig, den bisher niemand zu Gesicht bekommen hat und der doch fraglos existiert, Näheres gehört haben. Erzählen Sie.«

»Viel ist es leider nicht. Wir von der Zunft verkehrten damals in einem Kellerlokal in der Huttenstraße in Moabit. Es hieß Zur Mutter Schmidt. Im Hinterzimmer, an dem stets eine Papptafel Reserviert hing, tagte jeden Abend der Gesangverein Kleine Harmonie, dessen Mitglieder sämtlich schwere Jungen, Geldschrankknacker zumeist, waren. Die Kleine Harmonie habe ich nun einmal absichtlich belauscht. Es war eine gefährliche Sache, aber ich riskierte es, denn ein paar von der Zunft hatten mich durch ihre Andeutungen über die Vereinsgebräuche der Kleinen Harmonie sehr neugierig gemacht. Ich muss nun zunächst das Lokal Zur Mutter Schmidt näher schildern. Ein richtiges Kellerlokal ist es nicht. Es liegt fast zu ebener Erde. Man geht nur zwei Stufen hinunter. Die Küche und die Kellerräume liegen jedenfalls unter den drei Schankräumen. Der Speiseaufzug ging an der Wand des stets reservierten Zimmers in Gestalt eines quadratischen Schachts vorüber. So, nun will ich mich kürzer fassen. Es gelang mir, von diesem Schacht aus ein Loch durch die nur einen Stein starke Wand herzustellen. Es mündete unter einem imitierten hohlen Wildeberkopf aus Gips. Wenn ich diesen Kopf mit einem durch das Loch gesteckten Stäbchen etwas von der Wand abhob und ihn in dieser Lage festklemmte, bildete der hohle Schädel eine Art Schallfänger, sodass ich so ziemlich jedes Wort verstehen konnte, was die Harmoniker sprachen. Zwei Nächte habe ich in dem Schacht dann zugebracht, nachdem ich den Aufzug gründlich außer Betrieb gesetzt hatte, worüber Mutter Schmidt – sie heißt wirklich so, die Wirtin, und ist eine Witwe von etwa 50 Jahren – mächtig schimpfte, ohne zu ahnen, wer und weshalb man ihr den Streich gespielt hatte. Ich bekam so recht seltsame und abenteuerliche Dinge zu hören. Zunächst merkte ich bald, dass die Kleine Harmonie nichts anderes war, als ein Geheimbund von Verbrechern mit sehr strengen Satzungen. Verrat wurde mit dem Tod bedroht. Die Beute wurde stets unter die 31 Mitglieder geteilt. Dafür mussten aber auch alle gleichmäßig mithelfen, ein neues Ding zu drehen, die Sache auszubaldowern, Schmiere zu stehen und so weiter. Ich sagte 31 Mitglieder. Das 32. kannte offenbar keiner der anderen persönlich.«

»Aha, Andreas Nemo natürlich!«, warf Harst ein.

»Ja, so nannten sie ihn, auch wohl Treff-Ass, aber meistenteils sagten sie nur Er. Ich konnte dann aus ihren Reden entnehmen, dass dieser Nemo das strenge, allwissende und allweise Oberhaupt dieses Bundes war und dass, wenn er sich mal persönlich zeigte, dies stets in einer anderen Verkleidung geschah, sodass niemand ihn je in seiner wahren Gestalt gesehen hatte. Selbst als Frauenperson ist er zuweilen zu den Vereinsabenden erschienen und immer nur ganz kurze Zeit geblieben, um die Befehle für eine neue Sache auszugeben. Sie wissen ja, Herr Harst, dass die Kriminalpolizei dann eines Nachts die ganze Kleine Harmonie vor etwa zwei Jahren hinter Schloss und Riegel brachte; nur ihn nicht, und dass wohl sämtliche Mitglieder noch heute in verschiedenen Zuchthäusern sitzen dürften. Bei der Gerichtsverhandlung damals tauchten ja auch die Namen Einbrecherkönig und Andreas Nemo zum ersten Mal auf.« 

Harst erhob sich plötzlich aus seinem Schreibsessel und ging mit einem »einen Augenblick, lieber Schraut« in seine Bibliothek hinüber, kehrte dann mit einem Stoß sorgfältig geordneter Zeitungen zurück.

»Helfen Sie mir die betreffenden Nummern von etwa vor einem Monat suchen«, meinte er.

Wir hatten die drei Zeitungen bald gefunden.

Harst las vor.

Nummer eins vom 12. April. Die Geldschrankeinbrüche mehren sich wieder geradezu erschreckend. Es scheint fast, als wäre jene Zeit wieder aufgelebt, als noch die Bande des noch immer unentdeckt gebliebenen Einbrecherkönigs, der sich selbst mal seinen Kumpanen gegenüber Andreas Nemo genannt hatte – Andreas Niemand -, Berlin unsicher machte.«

Nummer zwei vom 13. April. Abermals ein schwerer Einbruch. Mit welcher Geduld müssen wohl diese Geldschrankeinbrecher ihre Vorbereitungen getroffen haben, um mitten in einem der belebtesten Viertel und so weiter, und so weiter. Dieses Meisterstück modernen Verbrechertums erinnert nur zu sehr an die Taten des in den Mantel undurchdringlichen Geheimnisses gehüllten Andreas Nemo …

Nummer drei vom 14. April. Entweder ein schlechter Witz oder … Nun, unsere Leser mögen selbst entscheiden. Heute Morgen erhielten wir folgenden Brief. Mit Interesse habe ich gestern und vorgestern in Ihrem werten Blatt die Notizen über Andreas Nemo gelesen. Ich bin vielleicht der einzige Mensch, der ihn je in seiner wahren Gestalt gesehen hat. Für 10.000 Mark will ich Ihnen nähere Angaben liefern. Nur muss Ihr Chefredakteur mir ehrenwörtlich versprechen, niemandem sei es, wer es sei, irgendwelchen Aufschluss über meine Person zu geben. Rücken Sie in Ihr Blatt unter Nemo im lokalen Teil eine zustimmende Erklärung ein, falls Sie auf mein Angebot eingehen wollen, das doch für Sie eine glänzende Reklame sein wird. Finde ich diese Notiz, so hören Sie mehr von mir.

Dieses mit Maschine gefertigte Schreiben halten wir nun für einen schlau ersonnenen Schwindel und werden es deshalb nicht weiter beachten. Sollte einer unserer Leser anderer Meinung sein und die 10.000 Mark opfern wollen, so mag er sich schriftlich oder persönlich bei uns melden.

Harst legte diese Zeitungsnummer zu den anderen zurück und sagte: »Da das Blatt dieses anonyme Schreiben nie mehr erwähnt hat, dürfte keiner der Leser 10.000 Mark übrig gehabt haben. Nun, wir wissen jetzt jedenfalls, hauptsächlich durch Sie, lieber Schraut, über Nemo doch schon so einiges, denn in der damaligen Verhandlung gegen die Kleine Harmonie haben die Angeklagten zum Beispiel verschwiegen, dass Er verkleidet zu den Vereinssitzungen erschienen wäre und haben behauptet, die Befehle ihres Oberhauptes stets schriftlich empfangen zu haben. Ich arbeitete zu jener Zeit bereits als Assessor auf der Staatsanwaltschaft und entsinne mich auf verschiedene Einzelheiten noch sehr gut, so auch darauf, dass die Angeklagten übereinstimmend angaben, dass dieser Nemo fast regelmäßig bei schwierige Einbrüchen persönlich für Minuten auftauchte, sehr klug durchdachte neue Anordnungen traf und wieder verschwand.«

»Ja – ja«, sprach ich zustimmend. Es war meine ehrliche Überzeugung. »Dieser Mensch muss in seiner Art ein Genie sein.«

Harst durchmaß nun sein Arbeitszimmer mit langsamen Schritten.

Dann machte er halt. »Schraut, wir jagen dieses Mal einem Namen nach. Es wird eine schwere Arbeit werden. Kammler tat so siegesgewiss. Er hofft, dass ich diese Aufgabe nicht bewältigen und so die Wette verlieren werde. Na, warten wir ab.«

Nach Tisch klebte ich mir einen blonden Bart vor, setzte eine Scheitelperücke auf meine Billardkugel von Kopf und fuhr in die Huttenstraße. Ich wollte doch nicht faulenzen, wenn mein Brotherr arbeitete.

Seit fast zwei Jahren war ich nicht mehr in dieser Gegend gewesen. Ich wusste nicht, ob Mutter Schmidt noch lebte. Nun, das Schanklokal war verschwunden. In den Räumen befand sich nun ein Obstladen – schade! Ich hätte so gern Mutter Schmidt gesprochen. Vielleicht hatte sie inzwischen was Neues über Andreas Nemo gehört. Ich brauchte ja mit Bestechungsgeldern als Gehilfe eines mehrfachen Millionärs nicht sparsam umzugehen.

Ich wollte schon umkehren, als ich auf den Gedanken kam, doch einmal bei dem Obsthändler anzuklingeln und mich nach Mutter Schmidts Verbleib zu erkundigen. So erfuhr ich, dass sie gestorben war und zwar sehr bald nach der Aushebung der Kleinen Harmonie durch die Kriminalpolizei. Ich blieb bei dem Obsthändler eine gute Stunde. Dann wanderte ich ein weites Stück des Weges zu Fuß heim. Die Nacht war so mild. Ich hatte ja in den letzten Tagen als gelähmter Schrammel so gut wie gar keine Bewegung gehabt. Gegen halb zwölf langte ich in der Blücherstraße vor unserem Haus an. Bei Harst brannte in der Bibliothek noch Licht. Die Fenster standen halb offen. Er spielte Klavier – mit ganz leisem Anschlag. Ich lauschte eine Weile. Natürlich wieder Wagner. Er liebt diesen Meister über alles. Motive aus dem Fliegenden Holländer waren es. Das Dämonische dieser Musik kam trotz des halben Anschlags voll zum Ausdruck.

Ich pfiff dann leise unter seinen Fenstern unser vereinbartes Signal.

Er kam und rief mir zu: »Ah, auch schon da? Ich habe Sie erwartet, Schraut. Sie sind wohl zu Fuß von der Huttenstraße bis hierher gegangen?«

Huttenstraße? Er wusste, wo ich gewesen! Also hatte er ebenfalls Mutter Schmidt besuchen wollen.

In seiner Bibliothek setzte ich mich dann in einen der weichen, tiefen Klubsessel. Er nahm wieder an dem Stutzflügel Platz. Sentas Liebeslied aus dem Fliegenden Holländer umrauschte mich. Meine Geruchsnerven spürten den süßlichen Rauch von Harsts Spezialzigarette Mirakulum trotz der offenen Fenster.

»Ich habe zwölf Mark für Autos ausgegeben«, sagte er plötzlich, ohne sein Spiel zu unterbrechen. »Aber ich habe dafür auch die tote Mutter Schmidt gefunden, wenigstens ihr neues Lokal. Sie selbst war nicht anwesend. Die Weiße war gut, und das Eisbein vorzüglich.«

Ich hätte mir als Harsts Mitarbeiter das Wundern längst abgewöhnt haben müssen. Aber dass er die tote Mutter Schmidt lebendig werden ließ, war mir doch zu viel. 

»Ich glaube, dass sie nicht anwesend war«, gab ich lachend von mir. »Sie müsste denn gerade als Geist auftreten. Sie meinen natürlich, Sie haben ein Lokal mit demselben Namen Zur Mutter Schmidt gefunden.«

Er drehte sich nach mir um. Seine Miene war ernst, bedeutungsschwer. »Lieber Schraut«, sagte er ganz leise, »sie ist nicht tot, sie lebt tatsächlich. Und weil sie lebt und doch gestorben sein will, dürfte es angebracht sein, ihr einige Beachtung zu schenken.«