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Diane Teil 2 – Kapitel 2

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts
Zweiter Teil

Zweites Kapitel

Die drei Vettern

Wir wollen diesen deutschen Sonderling näher ins Auge fassen. Es ist derselbe, an den der Baron von Brisson, der Neffe der Fürstin, jenen Brief schrieb, welchen Simeon für Judith entwendete, und aus welchem sie so wenig befriedigende und bestimmte Nachrichten schöpfte. Ernst, Graf von Windeck, war ein weitläufiger Verwandter der Familie der Fürstin und Franzʹ Universitätsfreund. Eine aristokratische Familie hat ihre Antipathien und Sympathien. Sie erstreckt diese eigenmächtig auf einige ihrer Zweige, die sie entweder begünstigt oder verfolgt. So war Franz der Verfolgte, Ernst der Geliebkoste und Bewunderte. Diese Ansichten zeigten sich bald, als beide junge Männer ihre Laufbahn im Geschäftsleben antraten. Für Ernst wurden eine Menge alter Diplomaten und Oheime von Einfluss in Bewegung gesetzt, um ihm eine Stelle, seinen ausgezeichneten Gaben gemäß, zu verschaffen. Für Franz fand sich kein Protektor, und man überließ ihn sich selbst. Zwei alte unverheiratete Hofdamen führten eine giftige Korrespondenz, in welcher alle dunklen Flecken der Familie besprochen wurden. Unter der Rubrik faux pas wurden die kleinen Zerstreutheiten junger Nichten, unter der Benennung sotises der angehenden Diplomaten dumme Streiche aufgezählt. Bêtes noires hießen die liberal anrüchig gewordenen Vettern, mauvais sujets Schulden machende, junge Neffen, imbecilles blödsinnig geborene oder gewordene Mitglieder der Familie, incurables schwachköpfige und gelähmte Oheime, die irgendwo in kleinen Städten von der Familie ernährt wurden, inevitables langweilige Projektenmacher ohne Geldmittel, die der Familie auf alle Weise beschwerlich fielen, und die, wenn man sie zur Tür hinauswarf, zum Fenster wieder hereinkamen. Alle diese Abteilungen und Unterabteilungen, diese Arten und Abarten einer weit verzweigten Sippschaft machten den Gegenstand des Briefwechsels der beiden Unverehelichten aus. In diesem schwarzen Register befand sich unter der Kategorie mauvais sujets der arme Franz von Brisson schon gleich nach Zurücklegung seines zehnten Lebensjahres aufgezeichnet. Sein Vater war schon von der Familie nicht gern in die Schranken zugelassen und gleich darauf in die Klasse der inevitables eingetragen worden. Er erfand Maschinen, die niemand brauchen konnte, er machte den Regierungen Anträge, die zurückgewiesen wurden, er korrespondierte mit Gelehrten, die ihm nicht antworteten. Unterdessen verschlangen seine Gläubiger sein kleines Grundstück. Er lebte zuletzt als eine Art Spaßmacher und mauvais plaisant im Haus der Fürstin. Als er starb, und man muss ihm den Ruhm lassen, dass er dieses Leben nicht lange ertrug, blieb der kleine Franz als Nachlassenschaft zurück. Er war ein hübscher Junge, er schmeichelte und liebkoste, und man hatte ihn gern. Es wurden Mittel herbeigeschafft, dass dieser kleine hübsche Taugenichts in eine glänzende Uniform gesteckt und auf ein Pferd gesetzt werden konnte. Aber nicht drei Jahre vergingen, als eine tüchtige Schuldenmasse den Protektoren des jungen Helden zur Last fiel. Man nahm ihn weg und brachte ihn auf eine Universität. Hier zeigte sich bald dasselbe Resultat. Endlich, nachdem der Briefwechsel der beiden Hofdamen genugsam zirkuliert und man dem armen Jungen den Stab gebrochen hatte, war er noch glücklich, eine Stelle, ähnlich der seines Vaters, im einsamen Schloss der Fürstin zu finden. Wir haben gesehen, dass dieser Posten ihm auf die Dauer nicht behagte und er hochfliegende Pläne fasste bei dem Ereignis des aufgefundenen Kindes, das die ganze Familie in Bewegung setzte, für immer auf einen grünen Zweig zu kommen. Aber der Arme, hier sollte er wieder mit seinem glücklichen Vetter, mit diesem Lichtgeist, zusammentreffen, denn Ernst war bei dieser Katastrophe ebenfalls eine Rolle zugeteilt, und zwar dieselbe, auf die der Unbegünstigte Anspruch machte.

Ernsts Charakter söhnte mit seinem Glück und der Vergünstigung, die ihm zuteilwurde, wieder aus. Das Unglaubliche war an ihm geschehen. Man hatte ihn nicht verziehen, nicht verzärteln können. In Reichtum aufgewachsen, gewohnt seine Wünsche befriedigt zu sehen, fortwährend gelobt und gerühmt, und dieses mit der ganzen Unverschämtheit der Sippschaftsliebe, hatte sich der Jüngling einen unverwüstlichen Kern rechtlicher Gesinnung, einfacher und ungekünstelter Tugend bewahrt. Er verachtete und tadelte niemand, die Torheit und das Verbrechen schienen für ihn nicht da zu sein. Dabei war er nicht Philosoph, er hatte nicht über das Leben nachgedacht, er ging nur still und gelassen seinen Weg hin. Und da sich keine Hindernisse, keine Steine des Anstoßes auf demselben fanden, auf wem sollte er da zürnen, mit wem grollen, durch welchen Anlass in Streit und Unwillen geraten? Es gibt glückliche Naturen, die für die Bahn, welche sie zu wandeln haben, geradezu geschaffen scheinen. Ernst war eine solche Natur. Er empfing Wohlwollen, Liebe, Aufmerksamkeit, Achtung. Es wurde ihm leicht, die milchsüßen Dinge auch anderen wieder zu bieten. Dies ist genug, um die Menschen in uns verliebt zu machen. Dazu kam ein einnehmendes Äußeres, eine schöne Gestalt, ein ausdrucksvolles und sprechendes Auge, ein Talent geselliger Bildung, Rang und Vermögen. Die Diplomatie heutzutage ist oft nur Toilettenangelegenheit, eine schöne Hand ist mehr wert, als die Note, welche sie schreibt. Aber Ernst nahm seine Stellung wichtiger. Er studierte und seine Studien trugen lebendige Früchte. Von der verzweifelten und bodenlosen Überschwemmung, die eine noch immer höher anwachsende Literatur über unsere Existenz gebracht hatte, leidet das Fach des modernen Staatskünstlers am meisten. Alle Welt stürzt sich über den Staat her. Jedermann will selbst sehen, selbst prüfen, selbst niederreißen und selbst wiederaufbauen. Man traut den Kabinetten nicht, und ihre Heimlichkeit ist der Zeit durchaus zuwider. Die Zeitungen schwatzen endlos und noch immer nicht genug. In diesem wilden Andrang haben die seit Jahrhunderten festgesetzten besoldeten Diener der Politik es schwer, ihre Stellung zu behaupten. Vor fünfzig Jahren umgab sie noch eine Glorie. Man glaubte an ihre Geheimnisse, man hatte Achtung vor ihren diplomatischen Siegeln. Heutzutage weiß man, dass es Männer sind, die goldbestickte Uniformen tragen und deren Geheimnisse in den Zeitungen stehen. Wenn das die Ansicht des großen Haufens ist, so sind darum die Altare noch nicht gestürzt für den Eingeweihten. Er weiß, dass große Talente sich auch hierher verirren, und dass auch hier geniale Kräfte arbeiten. Diese mit der Zeit im Einklang können Gewaltiges wirken und wirken es auch noch heute, obwohl manchem dieses unglaublich scheinen möchte in diesen Tagen charakterloser Unbedeutenheit, wie sie der Dichter nennt. Ernst war kein solches Genie, um neues Leben in ein veraltetes Korps zu bringen, er war nicht einmal ein Talent. Allein er war ein rechtlicher Mann, der sich und anderen nichts weißmachen wollte. Das ist sehr viel an einer Stelle, wo die meisten gezwungen sind, zu lügen. Der Gesandtschaft in Rom war er auf seinen Wunsch zugeteilt worden, die Wichtigkeit dieser Stelle in neuerer Zeit, wo auf mittelalterlicher Weise Staat und Kirche in Konflikt geraten zu wollen schienen, zog einen jungen Diplomaten an, der seine Studien mit Ernst betrieb und dem kein großer historischer Moment in den Annalen der vaterländischen Geschichte unbekannt geblieben war. So weilte Ernst schon fünf Jahre in Rom. Diese Zeit war für ihn eine Epoche fortwährender Triumphe. Man bewunderte höheren Orts seine Talente, man freute sich seiner Briefe, man teilte Gelehrten von Fach seine antiquarischen Forschungen mit und die diplomatischen Berichte, an denen seine Feder mitgearbeitet hatte, waren im Portefeuille des Ministers die gesuchteren Blätter. Ernst war ein Kind des Glückes hier, wie er es überall gewesen war. Er zählte jetzt zweiunddreißig Jahre. Bei einer Besuchsreise in der Heimat waren die Verwandten tätig, ihm eine glänzende Partie auszusuchen. Allein hier stießen sie zum ersten Mal in ihren Plänen auf Widersetzlichkeit. Der Diplomat wies die ihm Erkorenen entschieden zurück und ließ seine Gönner in Zweifel, ob er schon eine Dame des Herzens habe oder ob er gesonnen sei, ohne eine solche für die Zukunft sich zu behelfen. Fast schien das Letztere der Fall zu sein. Hierüber seufzten die Freunde, denn das Vermögen des jungen Diplomaten war nicht hinreichend, um fortwährend eine so reichliche und kostspielige Existenz, wie die seine, mitten unter kostbaren Gemälden, schönen Vasen, seltenen Büchern und an einer gut besetzten Tafel zu führen. Man hatte schon seiner Besoldung unter irgendeinem Vorwand ein Bedeutendes zugelegt. Allein auch dieses reichte nicht. Was bei Franz lebhaft getadelt wurde, fand bei Ernst Entschuldigung. Die zwei Hofdamen trieben von allen Seiten Geldbeiträge ein, denn sie zitterten bei dem Gedanken, dieses Wunder von Verstand und Liebenswürdigkeit könnte gezwungen sein, eine von seinen herrlichen Gemälden zu verkaufen oder eine Sommerwohnung, die er schon seit vier Jahren bewohnte, mit einer zu vertauschen, die weniger günstig gelegen war. Die bloße Vorstellung hiervon zog den beiden gefühlvollen Damen ein Nervenleiden zu. Grund genug also, um bei dem nun in Rede stehenden Ereignis, als eine reiche Erbin plötzlich aus der Dunkelheit hervortrat, zuerst an ihn zu denken.

Wir müssen zu dem Bild dieser zwei noch eines dritten Vetters Erwähnung tun, obwohl wir ihn dem Leser jetzt noch nicht näher vorführen und die Familie selbst ihn völlig vergessen hat. Er lebt in einem kleinen Landstädtchen, ist Förster in einer sehr untergeordneten Stellung. Die ehrlichen Pächter aus der Umgegend wussten nicht einmal, dass ein Graf von Windeck ihnen den Braten in die Küche schaffte. Joseph ist achtzehn Jahre alt und im höchsten Grad verwildert. Sein Großvater schon sagte sich förmlich von der Familie los, indem er eine Nymphe des Tals heiratete. Der Vater setzte seinerseits diese schäferlichen Heiraten fort, und Graf Joseph war der kräftige Sprössling einer schönen Griseldis. Eine Sage geht, dass einer der Sippschaft sich einst in das Waldstädtchen verirrte und ihm bei einer kümmerlichen table dôte ein Gesicht gegenübersaß, dem man es ansah, dass der Eigner desselben nicht französisch sprach und keinen Hof besucht hatte. Als der Reisende nach dem Namen dieses Gegenüber fragte, soll ein Farbenwechsel in seinem Gesicht entstanden sein, als der Wirt ihn ansprach. Nie hat ein sterbliches Auge ihn je wieder in diesen Gegenden gesehen. Graf Joseph fehlte gänzlich in den Registern der Familie, aber in dem Buch der Lebendigen, das die Natur führt, stand er als ein schöner kräftiger Jüngling verzeichnet. Seine arme und keusche Jugend kannte nur den nächtlichen Wald, seine zauderhaften Schatten und grünen Sonnenblitze, seine tiefen dunklen Seen und seine geheimnisvollen Klüfte. Hier zog der Knabe spielend umher, hier brauste der Jüngling wie ein nächtlicher Sturmwind und sang Lieder, so derb, so schreiend und so ungezwungen, wie er selbst war. Er hatte keine schöne Stimme, er wusste nichts von Poesie. Er war ein grober Bursche und feindlich gesinnt gegen jegliche Anstandspflicht. Man hatte ihm nicht die kleinsten Höflichkeitsmanieren beibringen können. Der Prediger des Orts, bei dem er in die Schule gegangen war, befand sich in einem ewigen Krieg mit diesem wilden, gegen alle Kultur eingenommenen Burschen. Auf der untersten Bank der Schulstube tronte der große, breitschultrige und starkschenklige Bube. Das Gesäusel der Wissenschaften, die sanften Melodien der Künste, die Süßigkeiten der Algebra, der Geografie und Geschichte, die empfindsamen Träumereien der Grammatik verhallten ungehört an seinem tauben Ohr. Sonntags, wenn die kleine Orgel der Kirche ihre hektischen Akkorde ertönen ließ, war Joseph nie der Kanzel seines Lehrers gegenüber zu entdecken.enn er zu entdecken war, so war es in der Attitüde eines sorglosen und tiefen Schlafes, eines Schlafes, wie ihn nur die Gerechten zu schlafen berechtigt sind. Diese kleine Genossenschaft entarteter Edelleute vegetierte ruhig in diesem weitabgelegenen Winkel der Welt. Sie entschlummerten ruhig nach einem Leben voll ungetrübten Friedens. Ihre Gräber waren nicht um einen Zoll höher aufgeworfen, als das des ehrlichen Bauern, der neben ihnen dem Tag der Ernte entgegenschlummerte. Joseph sah oft über die Kirchenmauer, wo seine Alten lagen. Er, der nicht auf die Stimme der Kultur und der Wissenschaften hörte, hörte gleichwohl auf das Geflüster des großen Fliederbusches, der die Gräber beschattete. Er konnte halbe Stunden lang stehen und dem Wehen des Grashalmes, dem Nicken der kleinen, gelben Blume zuschauen, die auf einem der Hügel prangte. Gedanken, die sich nie bis auf die Zukunft erstreckten, wanderten doch bei dieser Gelegenheit weiter. Joseph dachte, wenn er einmal genug Rehe geschossen habe, genug Hiebe auf den Rücken des alten widerspenstigen Klaus, des Waldwächters, hätte fallen lassen, endlich, wenn er oft genug seine redliche Rechnung dem Oberförster abgelegt und die kleine Summe, die ihm dann zufiel, eingesackt haben würde, er dann auch in dieser Erde liegen würde neben seinen Alten; beschattet von demselben Fliederbaum und unter denselben gelben Blümchen. Wir wollen diesen wilden Vogel in seinem Forst wieder entlassen und ihn rufen, wenn wir ihn nötig haben werden.

Unterdessen hatten Franzʹ Briefe das Nachdenken und die Tätigkeit des Diplomaten angeregt. Er hatte den Gerüchten, die ihm über das Auffinden des totgeglaubten Kindes zu Ohren gekommen waren, keinen Glauben geschenkt. Allein nun zeigte sich, dass eine sehr wichtige Angelegenheit in Rede stehe. Er schlug seufzend seine Konzepte aus dem Vitruo und seine Hefte voll der scharfsinnigsten Anmerkungen zu den Werken der neueren Bankkunst zusammen und klingelte seinem Bedienten, um Anstalten zur Toilette zu machen. Vorher trat er noch an seinen Bücherschrank und las eine Stelle im Machiavelli nach, die gestern im Kabinett des Monsignore, des Kardinals Selchini, zu einem anziehenden Disput Veranlassung gegeben hatten. Die Kombinationen dieses interessanten Zitates führten wiederum zu Parallelstellen in ähnlichen Werken. Nachdem Froissard und Giannone durchblättert waren, landete der Diplomat eben bei einem Kapitel des Giucciardini, das er mit den neuesten Kombinationen des Parini zusammenstellte, als der Kammerdiener durch ein leises, aber immer wiederkehrendes Husten zu erkennen gab, dass es höchste Zeit sei, seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Unwillig über so viel Pflichttreue legte der Graf die Bücher beiseite und ergab sich dem prosaischen Geschäft des Ankleidens. Allein, zu sehr Weltmann, um dieses Geschäft als eine nichtige und gehässige Handlung zu betrachten, wandte er von dem Augenblick an, wo er sich seinem großen Spiegel gegenüber sah, alle Aufmerksamkeit auf den einfachen, aber gewählten Morgenputz, in welchem er ging, um der Vicomtesse einen Besuch abzustatten. Es war nicht die gewohnte Stunde, zu der seine Freundin Besuche empfing. Er konnte daher dessen sicher sein, sie allein zu finden. Zerstreut und dieses Mal eiliger als gewöhnlich verließ er, beim Portal der Villa angelangt, den Wagen und beschritt fliegenden Fußes das schöne Mosaikpflaster des Vorsaals, leise eine wohlbekannte Tür öffnend. Musikklänge hallten ihm entgegen.