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Der Detektiv – Der Mord im Sonnenschein – 2. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 7
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Mord im Sonnenschein

2. Kapitel

Der neue Gast

Die beiden ersten Erfolge meines Brotherrn und Gönners, zugleich auch meine beiden ersten schriftstellerischen Versuche – ich meine Heft 1 und Heft 2 dieser Sammlung – habe ich nicht in der sogenannten Ichform abgefasst. Harst meinte, nachdem er sie gelesen hatte, ich solle für diese dritte Erzählung besser die persönliche, also die Ichform wählen.

»Ich glaube, Sie vereinfachen sich damit die Arbeit und vermeiden unnötige Längen, lieber Schraut.«

Nun, er mag recht haben – wie immer.

Ich schlief bis gegen acht. Dann weckte mein Heinrich mich.

»Herr Schrammel, es ist heute so prächtiges Wetter. Ich werde Sie auf die Hotelterrasse bringen. Dort haben Sie die belebte Straße und den Hoteleingang vor sich.« Dies sagte er laut. Dann ganz leise, wobei er mir den Stehkragen anknöpfte: »Falls einer der Kellner sich mit Ihnen unterhalten sollte, so versuchen Sie, herauszubringen, ob die Reuperts hier des Öfteren den Besuch eines kleinen, pockennarbigen Mannes mit auffallend langen Armen empfangen haben.«

Eine Viertelstunde später saß ich mit Kissen im Rücken in einem Korbsessel auf der Terrasse und nahm das erste Frühstück ein. Mein Heinrich blieb bei mir, bis ich mit dem Morgenkaffee fertig war und legte mir dann eine Zeitung in den Schoß, deutete auf etwas ganz dick Gedrucktes: Amnestieerlass! Dann ging er, angeblich zum berühmten Professor, den ich konsultieren wollte. Ich aber las – las und mein Herz hüpfte vor Freude. Mit Recht. Ich hatte ja noch etwas auf dem Kerbholz, hatte ja einst als Komiker-Maxe eine traurige Berühmtheit als Taschendieb gehabt und war erst auf Harsts warmes, verstehendes Herz wieder auf den schmalen Pfad der Ehrlichkeit gelangt. Und jetzt die Amnestie! Ich brauchte nicht mehr zu fürchten, dass ich als aus der Strafanstalt entwichener Häftling wieder ergriffen würde! Ich war frei, frei, konnte ohne heimliche Angst unter den Menschen mich bewegen, brauchte nicht mehr als »Max Schüler« Harsts Privatsekretär zu sein wie damals in Szentowo!

Gegen elf Uhr fuhr ein Auto vor und brachte einen neuen Hotelgast. Ich hatte mich gerade mit Herrn August Schütze, dem Gründer des Sonnenschein, unterhalten und von ihm auch glücklich herausgeholt, dass die Reuperts nie bei sich Besuch gesehen hätten – niemals. Noch manches andere hatte er über die beiden jetzt steckbrieflich verfolgten Mörder erzählt, über ihre Lebensweise, ihr bescheidenes Auftreten und ihr Bestreben, mit all und jedem gut Freund zu sein.

Da kam das Auto. Ich habe vorzügliche Augen. Ich sah, dass der kleine, überelegant gekleidete Herr, der ihm entstieg und der zwei große Koffer mit sich führte, Pockennarben im Gesicht hatte, sah es trotz des blonden Spitzbarts, der die Wangen bedeckte und den ich sofort für unecht hielt, bemerkte weiter zwei sehr lange Arme und dazu Hände von Handschuhnummer 12 etwa.

Ich saß nun buchstäblich wie auf Nadeln. Wo nur Harst so lange blieb! Er wollte doch spätestens um halb zwölf zurück sein. Wo war er überhaupt? Etwa wieder hinter der holden Gertrud her?

Dann drückte sich unser Karl in meiner Nähe herum. Ich ahnte, dass er etwas wollte. Ich rief ihn an: »Bringe mir ein paar Zeitschriften, Junge!«

Es dauerte gut fünf Minuten. Dann erschien er wieder, legte mir Sport im Bild in die Hände und flüsterte: »Vorn ein Zettel für Harst. Er musste ihn eben erst geschrieben haben.«

Ich las: »Pockennarbiger mit Affenarmen auf Nr. 29 als Ingenieur Josef Bremer. Zwei große, neue Koffer. Kommt angeblich aus Wien. Will nur vier Tage bleiben.« Den Zettel schob ich dann in den Ärmel. Er bewies mir, dass Harst auch unseren kleinen Verbündeten auf den Mann mit den Pockennarben aufmerksam gemacht hatte.

Erst um zwölf kam mein treuer Heinrich mit einem Auto vorgefahren, geleitete mich mithilfe des Portiers in den Kraftwagen und erklärte, der Herr Professor erwarte uns. Wir landeten aber im Tiergarten, saßen hier im richtigen Sonnenschein auf einer Bank und tauschten unsere Erlebnisse aus. Als Harst hörte, dass ein Pockennarbiger in unserem Hotel vorhin abgestiegen wäre, erstarrte er geradezu. Ich habe nie wieder ein so verblüfftes Gesicht an ihm gesehen wie damals.

»Unmöglich!«, meinte er, »unmöglich! Wenn es der ist, den ich im Auge habe und nach dem Sie die Kellner ausholen sollten, dann – dann ist die Geschichte wirklich oberfaul für uns! Denn als ich gestern Abend diesen Ausdruck gebrauchte, leistete ich mir nur einen kleinen Scherz, lieber Schraut. In Wahrheit hoffte ich gestern dicht hinter unserem Wilde drein zu sein. Aber jetzt …« Dann entnahm er einer Bastzigarrentasche eine seiner Mirakulum. »Ich werde Ihnen nun meine erste, offenbar verfehlte Theorie entwickeln, Schraut. Geben Sie acht. Halt – zunächst: meinen herzlichen Glückwunsch der Amnestie wegen. Auch meine Mutter lässt gratulieren. Ich war für Minuten daheim in der Blücherstraße. Mein gutes Altchen erkannte den einzigen Sohn nicht! Doch nun meine Theorie; in aller Kürze. Die Offiziellen wissen nichts von der Anzeige. Die Preßburger Straße 5 war ihnen von vornherein zu gleichgültig. Mir nicht. Es war doch sehr merkwürdig, dass ein alter pflichtgetreuer Beamter wie Schmiedicke sich durch ein Trinkgeld sollte dazu haben verleiten lassen, seinen Bestellgang zu unterbrechen, elf Häuser zu überspringen und erst einmal ins Hotel Sonnenschein zu den angeblichen Reuperts zu gehen, nur durch ein Trinkgeld! Ich sagte mir: Hier muss eine andere Art Beeinflussung vorgelegen haben, eine stärkere, die doch wiederum so beschaffen war, dass der Geldbriefträger nicht aufmerksam wurde, nicht argwöhnisch. Weshalb die Reuperts überhaupt dafür sorgen mussten, dass Schmiedicke die elf Häuser übersprang, ist Ihnen ja aus den Zeitungsberichten bekannt. In diesen Gebäuden liegen viele Geschäfte, Kontore und zwei Banken! Die Beute für die Verbrecher wäre nur ein Viertel so groß gewesen, hätte Schmiedicke erst diese Bestellgänge erledigt. Also eine stärkere Beeinflussung. Aber welche? Diese Frage legte ich mir schon vor, ehe wir nach Hamburg fuhren. Dann fand ich die Anzeige in der Abendzeitung auf dem Weg zum Lehrter Bahnhof. Fünf Preßburger! Das war nie und nimmer eine echte Heiratsannonce, das war vielleicht, so mutmaßte ich, ein Weg, auf dem die Mörder, die sich getrennt haben konnten, einander Nachricht in Form einer Geheimschrift geben wollten, zum Beispiel derart, dass die Wörter der Anzeige eine andere, vorher vereinbarte Bedeutung hatten. Ich erwartete daher eigentlich eine zweite Anzeige mit derselben Überschrift, aber anderen Inhalts, erwartete jedoch nicht, dass die Offerten auch abgeholt werden würden und lauerte daher auf der Expedition all die Stunden eigentlich nur aus alter Gründlichkeit, da ich jede, auch die entfernteste Möglichkeit, einen Schritt vorwärts zu kommen, beharrlich ausnutzte. Wie gesagt: Ich war überrascht, als Gertrud Hold, versehen mit dem Ausweis der Expedition, die eingelaufenen Briefe herauserbat. Nachdem ich dann bei der Pestell gewesen war, führte mich mein Weg zur Preßburger Straße 5. Inzwischen hatte sich nämlich in mir das Gefühl noch verstärkt, dass in diesem Haus für mich sozusagen ein Fädchen bereitlag, welches ich aufnehmen und das mich dann vielleicht allmählich an mein Ziel geleiten konnte. Dieses Gefühl war eben durch die Annonce mit der merkwürdigen Überschrift wachgerufen und dann durch den Taugenichts, dessentwegen die Hold ihr Elternhaus verlassen haben sollte, gesteigert worden. Sie verstehen das alles doch, Schraut, nicht wahr? Sollte Ihnen etwas unklar bleiben, so fragen Sie nur.«

»Bisher ist alles durchaus verständlich, Herr Harst«, versicherte ich.

»Gut – also weiter. Ich nahm mir in der Preßburger 5 den Hauswart vor. Es genügten zehn Mark, seine Kehle zum Wasserfall zu machen. Er beantwortete mir jede Frage und redete mehr als mir lieb war, denn für unnütze Worte bin ich nicht. So erfuhr ich denn, dass drei alleinstehende Damen in Nr. 5 möbliert vermieten. Ahnen Sie, weshalb mich dies interessierte?«

Ich gab mir die redlichste Mühe, wenigstens ungefähr so schlau wie Harald Harst zu sein. Aber ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich abermals meine Unzulänglichkeit bewies, die Schultern fragend hob und schwieg.

Harst schüttelte den Kopf. »Unbegreiflich, lieber Schraut. Es ist doch so einfach! (Bei ihm ist alles selbstverständlich einfach, auffallend und klar!) So sehr einfach. Denken Sie doch an die stärkere Beeinflussung!«

»Aha – ganz richtig!«, sagte ich schnell. Dabei hatte ich keine Ahnung!

»Na also – die stärkere Beeinflussung. Ich hatte sie mir so vorgestellt: Die beiden Reuperts haben in Nr. 5 einen Verbündeten wohnen, der sich mit Schmiedicke ebenfalls durch häufigere Geldempfänge so etwas angefreundet hat und der dem Postbeamten gegenüber dann am Mordtag, als dieser ihm wieder Geld auszahlt, wie zufällig erwähnt, die Reuperts müssten plötzlich abreisen und hätten gern den Betrag einer erwarteten Anweisung hier noch in Empfang genommen. Vielleicht mache er mal eine Ausnahme und gehe sofort zum Hotel Sonnenschein, um die beiden Herren noch anzutreffen. Schmiedicke wird auf diesen Köder zu seinem Verderben angebissen haben, übersprang wirklich die zwischenliegenden Häuser und verlor sein Leben einer Gefälligkeit wegen. So, nun wissen Sie, weshalb ich den Hauswart von Nr. 5 zum Reden brachte. Ich suchte eben diesen Verbündeten der Reuperts. Und ich fand ihn, wenn auch nicht persönlich, so doch genug von ihm, um mir zu sagen: Das ist er! Drei Damen vermieten möbliert. Als ich bei der zweiten, einem Fräulein Müller mit dem ganzen lächerlichen Gehabe der männertollen alten Jungfer, dann gleichfalls eine schön ausgeklügelte Geschichte vortrug, dass ich einen Herrn suche, der mir als Zeuge in einem Beleidigungsprozess wertvoll wäre, den ich aber kaum von Ansehen kenne, gelang es mir binnen zehn Minuten festzustellen, dass ein Wiener Ingenieur namens Josef Bremer bei ihr das Vorderzimmer mit eigenem Eingang bis zum 15. Mai gemietet gehabt hatte, jedoch seit dem 3. Mai mittags verreist wäre – zu einer Geschäftstour. Merken Sie auf, Schraut. Am 3. Mai verreist, und zwar mittags! Hätten Sie da nicht auch in Gedanken vor Freude einen Luftsprung gemacht? Sicherlich! Das Weitere war eine Kleinigkeit. Ich ließ mir Herrn Bremer beschreiben. Ich brauche das Signalement nicht zu wiederholen. Es ist eben der Pockennarbige. Dann erfuhr ich weiter, nachdem ich Fräulein Klementine Müller – sie ist nebenbei Friseuse – verschiedentlich schmachtende Blicke zugeworfen hatte, dass Bremer seit dem 20. April bei ihr gewohnt hätte – und einen Tag vorher sind die Reuperts im Sonnenschein abgestiegen, dass er sehr häufig Wertbriefe und Geld mit der Post erhielt und im Übrigen wenig zu Hause war. Besuch hätte er nie empfangen, auch nie erwähnt, dass er in Berlin nähere Bekannte hätte. Auf diese Weise kam ich dem Pockennarbigen auf die Spur. Wenn Sie nun jetzt, glaubte ich, einen kleinen Fehler in Harsts Schlussfolgerungen entdeckt zu haben, beeilte ich mich, meine Weisheit an den Mann zu bringen.«

»Einen Augenblick, Herr Harst«, unterbrach ich ihn. »Ihren Ausführungen nach wäre also Schmiedicke direkt von Bremer zu Reuperts gegangen, nicht wahr? Das trifft doch aber nicht zu, denn er hat ja nach den Ermittlungen der Offiziellen in Nr. 5 einer Frau Regierungsrat Walter das letzte Geld ausgezahlt und nicht dem Pockennarbigen.«

»Sehr gut, lieber Schraut, sehr gut«, lobte Harst. »Sie machen sich. Diese Einwendung ist berechtigt, aber nicht stichhaltig. Schmiedicke wird eben noch schnell Nr. 5 ganz erledigt haben, damit er nicht nachher abermals all die Treppen emporklettern musste.«

Ich war geschlagen, nickte etwas gedemütigt und nahm mir vor, beim Entdecken kleiner Fehler in Zukunft vorsichtiger zu sein.

Harst aber fuhr fort: »Wenn Sie sich nun auf das besinnen, was ich Ihnen gestern Abend über Gertrud Hold erzählte, nämlich, dass sie tatsächlich eine holde Mädchenblüte ist, so werden Sie verstehen, dass ich nicht recht annehmen konnte, dass der Taugenichts, den sie liebte, gerade dieser Pockennarbige mit Affenarmen und so weiter wäre. Immerhin, die Liebe fällt verschieden, mal auf eine Rose, mal auf eine Distel! Jedenfalls unterstellte ich: Bremer ist Gertruds Erkorener! Ich musste nun auch meine erste Ansicht über die Heiratsannonce revidieren. Einem Nachrichtenverkehr zwischen den Reuperts diente sie nicht. Das war nun vollkommen klar. Sie wurde vielmehr zur Übermittlung von Briefen des Liebhabers der Hold an diese benutzt. Das war jetzt die zwangloseste Erklärung und stand auch mit dem enttäuschten Gesicht der Hold beim Öffnen der beiden Briefe auf der Expedition in Einklang. Sie hatte auf ein Schreiben von ihm gehofft, aber nur richtiggehende Offerten auf das Heiratsgesuch gefunden! Das waren die Erfolge von gestern. Heute früh erteilte ich dann Ihnen und Karl die gleichen Aufträge; Erkundigungen darüber einzuziehen, ob die Reuperts mit einem Pockennarbigen verkehrt hätten. Und nun, nun ist dieser Bremer in unserem Hotel abgestiegen! Das wirft all meine Kombinationen über den Haufen! Ich hielt Bremer für einen Komplizen der Mörder, ich wähnte ihn wie diese weit weg von Berlin an irgendeinem Ort, von wo aus er dann an die Hold, damit diese den Brief nicht in der Pension erhielt, unter KW 111 hätte schreiben können. Jetzt wohnt er dort, wo er unbedingt eine Menge verkleideter Kriminalbeamter zu fürchten hat, jetzt hat er sich sozusagen in die Höhle des Löwen, an den Tatort selbst gewagt. Würde das wohl einer tun, der die Offiziellen zu fürchten hat, würde das jemand selbst riskieren, wenn er annehmen kann, dass bisher seine Beteiligung an dem Verbrechen nicht entdeckt ist? Niemals! Und was brauchten Bremer und die Hold den umständlichen Weg der Heiratsannonce für eine Mitteilung zu wählen, wenn Bremer sich so sicher fühlt, dass er sogar im Hotel Sonnenschein und unter seinem früheren Namen absteigt?! Sehen Sie ein, Schraut, dass nun mein ganzer Bau eingestürzt ist? Ich hatte bestimmt damit gerechnet, durch die Hold die Mördersippe fangen zu können. Und nun? Ja, was nun!«