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Der Spion – Kapitel 17

Balduin Möllhausen
Der Spion
Roman aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, Suttgart 1893

Kapitel 17

Der Klu-Klux-Klan

Die südliche Halbinsel, welche vom Missouri und Mississippi in ihrer Vereinigung gebildet wird, besteht aus fettem Schwemmland, auf welchem, eine Strecke landwärts, spärlich zerstreut vereinzelte, meist uralte Farmen gleichsam versteckt liegen; ferner aus sumpfigen Niederungen mit stagnierenden Pfützen und Teichen. Üppige Waldung bedeckt die ganze Halbinsel, so weit nicht hier und da eine Fläche zu Saatfeldern gelichtet wurde. Dieselben erzählen unzweideutig von der unerschöpflichen Zeugungskraft des schwarzen Erdreichs. Zahlreiche Truthühner, Waschbären, Opossums und Hirsche belebten jenes abgelegene Revier noch zu Anfang der 50er Jahre. Heute mag es anders geworden sein, je nachdem Axt und Pflug eine größere Herrschaft über diesen Winkel, den sogenannten Missouri-Bottom, erlangten. Der Abend hatte sich auf die den Zusammenfluss der beiden Riesenströme charakterisierende wilde Landschaft gesenkt. Das Boot, welches Oliva und Nicodemo trug, war noch bei Sonnenschein in den Missouri eingelaufen. Eine mäßige Strecke legte es hart am südlichen Ufer zurück, bevor es, durch eine kleine, zum Versteck geeignete Einbuchtung bestimmt, anlegte und die von ihm herbeigetragene Gesellschaft etwa zweihundert Schritte tiefer in den Wald hinein auf geeigneter Stätte ihre Vorbereitungen zum Übernachten traf.

Es dunkelte bereits, als ein mit sechs Ruderern bemanntes Boot mit unverkennbarer Vorsicht um den kapartigen Vorsprung herumbog, jedoch nur so weit, wie unumgänglich notwendig, um den Missouri bis zu seiner nächsten Biegung hin zu überblicken. Dort blieb es liegen, bis man durch die herüberdringenden Beilschläge und vereinzelte laute Stimmen darüber belehrt wurde, dass eine Anzahl Männer in der Nachbarschaft lagerte. Langsam ließ man das Boot wieder in den Mississippi zurücktreiben, wo es unterhalb des Ufers so weit abwärts glitt, bis es mit einem zweiten, ähnlich bemannten zusammentraf. Eine längere Beratung folgte zwischen den zwölf oder vierzehn Männern, welche sich auf die beiden Fahrzeuge verteilten. Als endlich eine Einigung erzielt worden war, banden sie die Boote an die nächsten bloßgespülten Baumwurzeln. Das Ufer ersteigend, drangen sie in den Wald ein. Wer sie in ihrem Tun beobachtet hätte, dem würde nicht entgangen sein, dass die sich geheimnisvoll regenden Männer bewaffnet waren, außerdem aber jeder ein Bündel mit sich führte, welches zu umfangreich und dennoch zu leicht, um vielleicht Lebensmittel in demselben zu vermuten. Dabei offenbarte sich in ihrem Wesen eine gewisse Feierlichkeit, gepaart mit finsterer Entschlossenheit, wie solche an den seines Amtes waltenden Scharfrichter erinnerte.

Nachdem sie den Wald betreten hatten, trennten sie sich in Gruppen zu drei und vier Mitgliedern voneinander, wie um nach einer ihren Wünschen entsprechenden Lagerstätte zu suchen. Hin und wieder lockten sie sich durch wenig auffällige Zeichen zusammen, um nach kurzer Beratung sich abermals zu zerstreuen. Allmählich gelangten sie so weit, dass sie den rötlichen Schein des von Nicodemo und den zu ihm gehörenden geschürten Feuers zwischen den Baumwipfeln hindurch unterschieden. Dann wurde es still, so still, als ob der noch als Urwildnis liegende Wald überhaupt kein Leben in sich geborgen habe. Nur die kleinen Geschöpfe, deren Wirken und Weben auf die Nacht entfällt, erfüllten die feuchte Atmosphäre unter den Bäumen mit ihren leise schnarrenden, summenden und krächzenden Akkorden. Zuweilen ertönte auch unterdrücktes Lachen vom Feuer herüber, wo die ewig gut gelaunten Farbigen in sorglosem Geplauder sich die Zeit verkürzten.

Zu dieser Stunde war es, als ein größeres, stark bemanntes Boot, nachdem es von unten herauf an der Missourimündung vorbeigerudert worden war, sich vom gegenüberliegenden Ufer des Mississippi trennte und, die Strömung ausnutzend, den Vorsprung des Missouri-Bottoms zu seinem Ziel wählte. Tommy führte in demselben den Oberbefehl. Kein Einziger befand sich unter seinen acht farbigen Männern, der seinem leisesten Wink nicht unverzüglich Folge geleistet hätte. Ohne jegliche Störung trafen sie im Missouri selbst gerade vor dem Kap ein. Dort säumten sie, bis sie das Boot unter überhängendem Gebüsch vollständig gesichert hatten. Zu ihren Waffen greifend, verschwanden sie bald mit katzenartigen Bewegungen im finsteren, dem Mondlicht verschlossenen Dickicht.

Im geschützten Waldwinkel nahmen zu derselben Zeit Oliva, Nicodemo und die vier Afrikaner vor dem lustig flackernden Feuer ihr Mahl ein. Auf den ausgebreiteten Decken, die später ihre Betten bilden sollten, rasteten sie. Seit einer Stunde und länger hatten sie Tommys Ankunft entgegengesehen. Lag der Gedanke an eine Gefahr ihnen fern, so fanden sie doch keine Erklärung für das Ausbleiben des sonst stets gewissenhaften und pünktlichen alten Burschen. Am wenigsten konnten sie ahnen, dass Tommy bei seinem Landen vor der Treppe durch Fegefeuer unter der Beteuerung, dass die Flüchtlinge bei ihrem Aufbruch von einem Spion heimlich überwacht worden waren, dringend gewarnt, sich auf dem ganzen Weg von Verrätern beobachtet wähnte und daher seine Wachsamkeit verdoppelte. Sobald er aber weit vor sich im von ihm gewählten Fahrwasser der beiden geheimnisvollen Boote ansichtig wurde, wuchs sein Argwohn schnell zur Überzeugung. Die Bewegung des eigenen Fahrzeuges nach derjenigen der beiden anderen peinlich genau abmessend, musste notgedrungen eine größere Verspätung eintreten.

Bis zur Beendigung des Mahls wartete Nicodemo noch. Dann beauftragte er seine Leute, das Boot zu besteigen und dasselbe so weit hinuntertreiben zu lassen, bis sie einen Blick um das Kap herum würden werfen können. Er hielt es für möglich, dass bei Tommy Zweifel über die fernere Richtung der Fahrt walteten, er vielleicht ängstlich auf ein Zeichen von ihm harrte.

Bereitwillig leisteten die vier Schwarzen Folge. Nicodemo begleitete sie zum Fluss, um von dort aus selbst einen Blick über den Strom zu werfen und demnächst, von der Sicherheit der Umgebung sich überzeugend, auf einem Umweg zum Lager zurückzukehren.

 

Oliva war dem Feuer nähergerückt. Das ihr anvertraute Päckchen hatte sie geöffnet und den Umschlag vor sich in die Flammen geworfen. Der erste Blick auf die offenen Briefe belehrte sie, dass sie von Palmer nicht getäuscht worden war. An verschiedene Bandenchefs, vornehmlich an Quinch, waren sie gerichtet. Sie enthielten klug berechnete Ratschläge betreffs der eigenen Märsche, wie Aufschlüsse über die Zusammenstellung der Nordarmee und deren Pläne, wie solche nur durch Verräter zu Palmers Kenntnis gelangt sein konnten. Auch die versprochenen noch unvollständigen Schriftstücke, welche zu seiner Zeit auszufüllen ihrem Ermessen unterlag, fand sie vor. Bedächtig las sie alles durch. Zuweilen belebte wohl heimlicher Triumph, dann wieder spöttisches Lächeln ihre Züge, sonst aber bewahrte sie nach wie vor ihren undurchdringlichen, gewissermaßen ausdruckslosen Ernst.

Nachdem sie Kenntnis vom Inhalt jedes einzelnen, kurzgefassten Berichts genommen hatte, schob sie alles in ihre beinahe bis zu den Knien hinaufreichende Stiefelschäfte. Etwas Reisig ergreifend, schürte sie träumerisch in einem Hügelchen glühender Asche. So hatte sie, seitdem Nicodemo sich entfernte, beinahe eine halbe Stunde verbracht, als sie plötzlich den Kopf herumwarf und argwöhnisch in den Wald hinein lauschte. Sie glaubte, in größerer Entfernung das Brechen eines dürren Astes unter vorsichtig einherschleichenden Füßen vernommen zu haben. Sich zu keiner Stunde und an keinem Ort sicher wähnend, zog sie sich leise aus der Nähe des Feuers zurück. War das Geräusch von Nicodemo ausgegangen, so musste die Aufklärung bald folgen.

Abermals unterschied sie eigentümliches Knistern, als ob aus einer anderen Richtung sich jemand behutsam durch das Buschwerk gedrängt habe. Wer auch immer nahte, ringsum geschützt durch dichtes Unterholz, hatte sie bis jetzt unmöglich entdeckt werden können. Kurze Zeit schwankte sie in ihrem Entschluss über die zunächst einzuschlagende Bewegung, dann streckte sie sich lang aus. Eine Schlange hätte sich nicht geräuschloser zwischen Halmen und Kraut hindurch gewunden, als sie unter einem breit verzweigten großblättrigen Strauch verschwand.

Wieder und immer wieder erneuerte sich das Rauschen und Knacken. Bald aus dieser, bald aus jener Richtung drang es herüber, bis sie endlich zwischen dem sie bergenden Laub hindurch eine Gestalt entdeckte, die, mit dem Misstrauen eines Raubtieres jeden Busch, jeden Baumstamm als Deckung benutzend, dem Feuer näher schlich. Nachdem diese sich überzeugt hatte, dass dasselbe, obwohl vor Kurzem geschürt und von Decken und den notdürftigsten Lagergeräten umringt, verlassen worden war, trat sie bis auf zwei Schritte heran. Zugleich schwang sie den Arm nach oben, offenbar ein Zeichen für die weiter abwärts weilenden Genossen, worauf sie sich schnell in den Schatten eines Baumstammes zurückzog. Nur ganz kurze Zeit dauerte es, und zwei ähnliche Gestalten tauchten seitwärts von ihr auf, jedoch ebenfalls den Bereich der leuchtenden Flammen meidend.

Oliva rührte sich nicht. Mit angehaltenem Atem spähte sie aus ihrem Versteck zu den fremdartigen Erscheinungen hinüber, und jäher Schrecken bemächtigte sich ihrer. Obwohl sie Furcht nie kennenlernte, in den verhängnisvollsten Lagen nie ihre Kaltblütigkeit verlor, so stockte doch der Pulsschlag ihres Blutes, als eine der Gestalten bei einer unvorhergesehenen Bewegung vom Feuer so weit beleuchtet wurde, sodass sie dieselben in ihren Umrissen notdürftig zu unterscheiden vermochte.

Wohl hatte sie vom berüchtigten Klu-Klux-Klan, jenem finsteren Auswuchses eines an Wahnwitz grenzenden Fanatismus und dessen in Geheimnis gehülltem verbrecherischen Wirken gehört, jedoch alles mindestens für Übertreibung, wenn nicht für fantastische Erfindung gehalten. Doch was sie nun klar vor Augen sah, das überstieg alle ihre Vorstellungen in so hohem Grad, dass sie in wirren Fieberträumen zu leben meinte. Die Blicke starr auf die rätselhafte Erscheinung gerichtet, erkannte sie, dass dieselbe mit einem von den Schultern bis zu den Füßen reichenden schwarzen faltigen Talar bekleidet war. Über den Kopf hatte sie dagegen eine Kappe aus demselben Stoff gestreift, deren Verlängerung ringsum bis auf die Schultern niederfiel und mit zwei Ausschnitten für die Augen versehen war. Die Verkleidung konnte also nur darauf berechnet sein, deren Träger nicht allein unkenntlich zu machen, sondern ihm auch einen gewissen Ausdruck starrer Unerbittlichkeit zu verleihen, wie er geeignet, lähmend auf denjenigen einzuwirken, der in die Gewalt dieser verworfenen Gesellschaft geriet. Sogar Oliva, die einem offenen Feind gegenüber nie zagte, war derartigen Eindrücken des Entsetzens bis zu einem gewissen Grad unterworfen. Indem sie aber entdeckte, dass die beiden anderen Männer ähnliche Umhüllungen trugen, wusste sie, dass es um sie geschehen sei. Es schwanden die letzten Zweifel, dass Verrat gewaltet, die unheimlichen Feinde sich an ihre Fersen geheftet hatten, um erst dann aufzutreten, wenn sie keine Störung ihres finsteren Treibens zu befürchten brauchten.

Da knisterte es hinter ihr unter behutsam einherschreitenden Füßen. Ein Schatten glitt vor sie hin und eine vierte Gestalt trat zwischen sie und das Feuer, wodurch sie ein noch deutlicheres Bild von der seltsamen Verkleidung gewann.

 

Einer der bereits anwesenden Unholde schlich neben den eben Eingetroffenen hin.

»Sie sind an den Fluss gegangen«, verstand sie die gedämpft gesprochenen Worte. »Verbergen wir uns in der Nähe, so können sie uns nicht entgehen. Wir brauchen nicht einmal ihren Schlaf abzuwarten.«

»Wir sollten sie einfach über den Haufen schießen«, hieß es zurück, »für ihr Ende hätten sie keine geeignetere Stätte auswählen können. Werden ihre Gebeine vom Getier benagt, haben sie es selbst verschuldet. Monate mögen vergehen, bevor ein Jäger seinen Weg hierher nimmt.«

»Lebendig müssen sie in unsere Hände fallen, um ein Geständnis von ihnen zu erpressen«, lautete die Erwiderung, »auch ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass sie ihre Unschuld zu beweisen vermögen.«

»Unsinn. Dieser Bursche ist derselbe verwegene Vaquero, über welchen Quinch berichtete. Bedürfte es eines weiteren Beweises, so läge er schon allein darin, dass er im Haus des hinterlistigen Sargfabrikanten seinen Unterschlupf fand, der wieder erwiesenermaßen unter dem Schutz des berüchtigten Kampbell steht. Seiner und seines geheimnisvollen Begleiters Beziehungen zu den aus dem Süden entronnenen Sklaven gedenke ich nicht.«

»Gleichviel. Eine Übereilung kann uns selbst verderblich werden. Und dann die Papiere. Wer anders als dieser Bursche könnte Aufschluss über deren Verbleib erteilen? Er muss sie beschaffen, und wären wir gezwungen, ihm die Haut in Streifen vom Rücken herunterzupeitschen. Und von einem solchen unreifen Jungen hat Palmer sich übertölpeln lassen? Es ist unglaublich.«

 

Vielleicht zum ersten Mal, seitdem Oliva gewissermaßen den Kriegspfad betrat, zitterte sie. Unter dem breit verzweigten Blätterdach lag sie zwar so verborgen, dass vor Anbruch des Tages kaum eine Entdeckung zu befürchten stand, trotzdem konnte ein unwillkürlich ausgestoßener Seufzer, die leiseste unbeabsichtigte Bewegung in jeder neuen Minute zum Verräter an ihr werden. Sie gedachte Nicodemos, des treuen, opferwilligen Freundes. Ihr Herz krampfte sich zusammen in dem Bewusstsein, ihn mit in das Verderben hinabgerissen zu haben. Ein Warnruf schwebte ihr auf den Lippen. Retten wollte sie ihn, ihm raten, die Flucht zu ergreifen, solange es noch Zeit sei. Doch wer sagte ihr, dass sie nicht gerade dadurch ihn dem Untergang weihe? Sie kannte ihn genugsam, um zu wissen, dass ohne sie er nimmer mehr das Weite suche, sein Leben zu ihrer Rettung einsetzen oder gemeinsam mit ihr fallen würde.

Noch starrte sie zwischen den Blättern hindurch verzweiflungsvoll auf die schattenähnlichen Gestalten, die im Begriff waren, sich in den Hinterhalt zu legen, als vom Fluss das Geräusch kämpfender Männer herüberdrang. Oliva versagte der Atem. Sie erriet, dass auch dort Feinde herbeigeschlichen waren und sich Nicodemos bemächtigt hatten, bevor er Zeit fand, zu den Waffen zu greifen. Wie Eis legte es sich um ihre Brust. Sie fluchte der Unvorsichtigkeit, die Farbigen zu der Flussmündung entsendet zu haben. Aber laut aufjammern hätte sie mögen, als Nicodemos Stimme mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Seelenangst herüberschallte, indem er sie mit den Worten warnte: »Fliehe oder du bist verloren!« Er brach ab, wie von einem Todesstoß getroffen, vielleicht auch, um nicht zu verraten, wo man sie zu suchen habe.

Um das Feuer herum herrschte nun Totenstille. Die in der Nähe verborgenen Feinde rechneten ohne Zweifel darauf, dass der Angerufene auf der Flucht dort vorüberkommen würde. Minuten vergingen, für Oliva bange, endlose Minuten. Bebenden Herzens lauschte sie den Stimmen, die in kürzeren und längeren Pausen aus der Richtung des Stromes herüberdrangen. Vergeblich trachtete sie, die Nicodemos zu unterscheiden. Endlich vernahm sie das Geräusch, unter welchem eine Anzahl Männer sich ihren Weg durch das Unterholz bahnte. Fast gleichzeitig wurden die in der Nachbarschaft lauernden Klan-Mitglieder wieder rege. Sie hörte wenigstens deren Bewegungen, wogegen sie selbst außerhalb ihres Gesichtskreises blieben. Erst als vier weitere vermummte Gestalten in den Schein des Feuers traten, näherten auch sie sich demselben. Anfänglich unterschied sie nur ein Gewirr schwarzer Talare. Sobald aber einer der früher Eingetroffenen das Feuer schürte und von dem zur Hand liegenden schnell zündenden dürren Reisig einen Vorrat auf den Gluthaufen warf, erkannte sie Nicodemo. Mit auf dem Rücken zusammengeschnürten Händen stand er zwischen zwei der Schergen, die ihn an den Oberarmen gepackt hielten. Sein von den emporlodernden Flammen grell beleuchtetes Antlitz war totenbleich. Aber als hätte das ganze in ihm wohnende Leben sich in den Augen zusammengedrängt gehabt, flogen seine Blicke rastlos in alle Richtungen. Erst nachdem er die Gewissheit erlangt hatte, dass Oliva nicht anwesend war, er also wähnen durfte, dass es ihr gelungen sei, noch im letzten entscheidenden Augenblick zu entschlüpfen, richtete er sich wieder trotzig empor. Bitterer Hohn trat auf seine Züge, als er überall undurchdringlich verschleierten Häuptern begegnete, mithin die Unmöglichkeit waltete, auch nur ein Gesicht hinlänglich zu betrachten, um die Gelegenheit zu einem späteren Wiedererkennen zu bieten. Doch was galt ihm das nun noch? Er befand sich in der Gewalt von Feinden, die schon allein um der eigenen Sicherheit willen keine Schonung kannten.

Aus dem Gespräch, welches die acht Klan-Genossen nunmehr führten, ging hervor, dass Nicodemo in demselben Augenblick überfallen und gefesselt wurde, in welchem er, auf dem Ufer des Stromes liegend, den Kopf über dessen Rand hinausschob, um nach dem bereits seit einer halben Stunde abwesenden Boot Ausschau zu halten. Die ihnen unerklärliche Entfernung der vier Schwarzen nannten sie einen glücklichen Umstand, durch welchen ihr Unternehmen überraschend erleichtert worden sei. Ingrimmig gedachten sie des hinterlistigen Vaqueros, jedoch immer noch hoffend, dass es den im Wald zerstreuten Genossen gelinge, sich seiner zu bemächtigen. Sie verhandelten noch darüber, als zwei davon mit der Nachricht eintrafen, nichts gehört oder gesehen zu haben, was als das Einherschleichen eines Menschen hätte gedeutet werden können.

»Und dennoch darf er nicht entkommen, und wären wir gezwungen, jeden einzelnen Strauch, jeden Baum auf eine Meile im Umkreis nach ihm abzusuchen«, hieß es eigentümlich hohl unter der Kappe eines Klan-Bruders hervor. »Seine Flucht beweist unwiderleglich seine Schuld. Solange er unter den Lebenden weilt, wird er eine Bedrohung für uns bleiben. Mit seiner List eint sich eine Gewandtheit, die davon zeugt, dass er bisher unter einem gewieften Lehrmeister arbeitete, und der ist kein anderer, als Kampbell selber.«

Auf den Rat des Vormannes wurde neues Holz oberhalb des Gluthaufens aufgeschichtet, dass die Flammen bis zwischen die niedrig hängenden Zweige des die unheimliche Szene überdachenden Baumwipfels hinein schlugen. Es war, als hätte man durch die vermehrte flackernde Beleuchtung dazu beitragen wollen, dem Gefangenen die Hoffnungslosigkeit seiner Lage vor Augen zu führen. Ein Verhöhnen aller menschlichen und göttlichen Gesetze lag im unverkennbaren Bestreben, durch barockes feierliches Verfahren ein zu begehendes Verbrechen mit einem Schein unerbittlicher Gerechtigkeit zu umgeben. So wartete man auch, bis der lodernde Scheiterhaufen neben der die schwarzen Gestalten mit rötlichen Reflexen überströmenden Beleuchtung, eine fast unerträgliche Hitze ausstrahlte. Dann wendete der Wortführer sich an Nicodemo, dem man unterdessen die Füße ebenfalls gefesselt und ihm eine solche Lage gegeben hatte, dass er sich mit dem Rücken an den zwischen dichtem Unterholz hervorragenden Baumstamm lehnte.

 

»Du befindest dich hier vor Männern«, begann er, »die berufen sind, nach strengen Gesetzen über Leben und Sterben zu entscheiden. Aber sie verurteilen nicht nur, sondern sie verschaffen ihrem Wahrspruch auch sofortige Geltung. Du und dein junger Genosse, ihr habt euch als Spione der Unionisten schwer an den Südstaaten vergangen. Spione stehen außerhalb des Gesetzes. Man schießt sie nieder, wo man ihnen begegnet, zertritt sie wie giftiges Gewürm, ohne deshalb eine Verantwortlichkeit auf sich zu laden. So ist es Sitte bei allen Nationen, die zum Schwert greifen, um ihre angestammten Rechte zu verteidigen. Ich hoffe, dich hiermit von dem Ernst deiner Lage überzeugt zu haben. Darauf hin frage ich dich jetzt: Wo blieb der Bursche, der vorgestern Abend in einem von vier flüchtigen Sklaven geruderten Boot gemeinschaftlich mit dir St. Louis verließ?«

Da sah sich Nicodemo höhnisch im Kreis um. Einige Sekunden säumte er, bevor er kaltblütig antwortete: »Leute, die sich scheuen, ihr Angesicht zu zeigen, können nur Verbrecher sein. Ich aber denke zu hoch von mir, um Verbrechern, in deren Gewalt ein unglücklicher Zufall mich lieferte, Rede zu stehen. Beabsichtigt ihr, mit eurer lächerlichen Verkleidung Eindruck auf jemand auszuüben, dann sucht euch furchtsame Kinder, nicht Männer, die gewohnt sind, dem Tod ins Antlitz zu schauen. Ihr spracht zu deutlich in meiner Gegenwart, als dass ich noch Zweifel über das mir bevorstehende Los hegen könnte.«

Wilde Flüche verhallten hier und da dumpf unter den Kappen, und der Vormann der heimtückischen Gesellschaft sprach weiter: »Du spielst mit deinem Leben. Mag es darum sein. Und so frage ich nochmals: Wo weilt der Bursche? Wo finden wir ihn? Ich gebe dir zu bedenken, dass immer noch eine Möglichkeit bleibt, dich vor Strick und Baumast zu bewahren.«

»Der Bursche wird klug genug gewesen sein, das Weite zu suchen«, versetzte Nicodemo höhnisch. »Im Übrigen lege ich auf die mir vorgespiegelte Möglichkeit keinen Wert.«

»Vielleicht wirst du dennoch gefügiger«, hieß es erbittert zurück. Auf des Sprechenden Wink zog einer der Gefährten eine Leine aus den Falten seines Talars hervor. Nachdem er mit boshaft berechneter Gemächlichkeit das eine Ende über den in der Höhe von acht Fuß oberhalb Nicodemos Haupt hervorragenden Ast geworfen hatte, beeilten zwei Genossen sich, die auf dem anderen befindliche Schlinge zu öffnen und um Nicodemos Nacken zu legen. Da störte eine unvorhergesehene Bewegung sie in ihrem Beginnen. Als alle sich zu derselben umkehrten, fielen ihre Blicke auf Oliva, welche in die volle Beleuchtung des Feuers getreten war.

Solange hatte sie in ihrem Versteck alle Martern ertragen, die ihr aus dem Anblick Nicodemos erwuchsen. Sobald man aber Anstalt traf, den treu verbundenen Freund gewissermaßen hinzurichten, schwanden ihre Rücksichten mit sich selbst. Im jähen Aufbäumen der angeborenen Verwegenheit erstickte die letzte Probe der Frauennatur. Todesverachtung trat anstelle des bisherigen Zagens, trotziger Hohn an die des Zweifelns und Schwankens. Doch bevor sie, die funkelnden Blicke im Kreis sendend und durch die Öffnungen in den Kappen die dahinterliegenden Augen suchend, das erste Wort fand, die Klan-Genossen aber in lähmendem Erstaunen sprachlos auf sie hinstarrten, ertönte Nicodemos Stimme.

»Warum hast du mir das angetan?«, rief er vorwurfsvoll aus. »War es nicht genug an dem einen Opfer? Mussten es deren zwei sein?«

»Entweder zwei oder keins«, antwortete Oliva mit kalter Entschlossenheit. Nur im tiefen Klang ihrer Stimme verriet sich die in ihr wogende heftige Erregung. »Wer die Männer auch sein mögen, die nicht zaudern, ihre verbrecherischen Pläne hinter einer jämmerlichen Maskerade zu verheimlichen: Ich bin bereit, Rechenschaft vor ihnen abzulegen, soweit sie auf Grund ihrer Übermacht berechtigt, eine solche von mir zu erwarten.« Wiederum ließ sie ihre Blicke verachtungsvoll von Gestalt zu Gestalt schweifen.

Da trat der Wortführer der finsteren Genossenschaft ihr näher. Eine Weile betrachtete er sie prüfend. Es war, als hätte er sich zuvor mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass die vor ihm Stehende tatsächlich dieselbe Person, welche er einst im Haus Palmers kennenlernte. Unerhört erschien ihm, dass in dem noch bartlosen schlanken Burschen, der sich damals in den Frauenkleidern mit derselben Leichtigkeit bewegte, wie jetzt in den seinem Geschlecht vermeintlich gebührenden, die Unerschrockenheit eines gereiften, erprobten Mannes wohne. Dann brach er das wieder eingetretene Todesschweigen mit den Worten: »Elender, unmündiger Knabe, in deiner eitlen Überheblichkeit vergiss nicht, dass du zu Männern sprichst, die nicht gewohnt sind, durch theatralisches Auftreten sich beirren zu lassen …«

»Wo liegt theatralisches Auftreten?«, warf Oliva mit einem Trotz ein, welcher sich in dem Bewusstsein begründete, auf alle Fälle verloren zu sein. »Ich frage nochmals: Wo liegt es? Aufseiten derjenigen, die auf Schritt und Tritt vom Tod bedroht, in Begeisterung für eine gerechte Sache einem gefährlichen Gewerbe nachgehen, oder da, wo man, als gälte es, Kinder einzuschüchtern, zu lächerlichem Mummenschanz seine Zuflucht nimmt.«

»Ein Mummenschanz, welcher demjenigen verhängnisvoll wird, der ihn aus eigener Anschauung kennenlernt«, sprach der Wortführer.

Bevor er fortzufahren vermochte, schaltete Oliva wieder herausfordernd ein: »Wie es nur die Art verruchter Räuber und Mörder sein kann.«

Durch den Kreis der Klan-Brüder lief ein Murmeln der Entrüstung. Stimmen wurden laut, die sich dafür entschieden, kurzen Prozess mit den beiden Verrätern zu machen. Der Vormann hob dagegen die Hand beschwichtigend und fügte hinzu: »Überlasst es mir allein, das Bürschchen zu überführen. Nachher mögt ihr eure Einwände erheben und vertreten.« Und zu Oliva gewendet: »Du sprachst von einem gefährlichen Gewerbe, von dem eines Spions. Du wiesest dich als solchen aus, als du in Frauenkleidern Zutritt bei einem angesehenen Herrn in St. Louis suchtest, angeblich, um ihm eine Gefälligkeit zu erweisen. Es gelang dir aufgrund deiner Schauspielerkünste und deines glatten Gesichtes, sein Vertrauen zu erschleichen. Und nun gestehe, während du die Blicke auf den um deines Gefährten Hals gelegten Strick gerichtet hältst: Wem dientest du als Spion? Dem Süden oder dem Norden, oder um schnöden Gewinn beiden Teilen zugleich?«

»Ich könnte antworten, was ich wollte, und würde keinen Glauben finden«, erklärte Oliva spöttisch. »Es lohnt sich also nicht der Mühe, auf Eure Frage einzugehen. Beurteilt mich nach meinen Handlungen, dann entscheidet selbst.«

»Du bist ein gefährlicher Bursche, umso gefährlicher durch deine Doppelgestalt«, versetzte der Wortführer in Unheil verkündendem Schmeichelton, »und deine Handlungen meinst du? Wie nennst du es, wenn ein verwahrloster Knabe deines Schlages in der wohl überlegten Absicht, nichtswürdigen Verrat zu begehen, unter Vorzeigung eines aufgefundenen Briefes einen durch die Würde hohen Alters ausgezeichneten Herrn gewissermaßen zwingt, ihm andere Briefschaften anzuvertrauen, die geeignet sind, ihn und andere in der Öffentlichkeit zu verdächtigen? Du zuckst die Achseln in deiner Verstocktheit. Ich dagegen nenne es eine todeswürdige Handlung. Gönnen wir dir aber noch eine kurze Frist, so geschieht es, um dir in Anbetracht deiner Jugend Gelegenheit zu bieten, dich zu rechtfertigen. Ob es dir gelingt, bezweifle ich. Dein Verrat ist erwiesen trotz deines Leugnens.«

»An wem übte ich Verrat?«, fragte Oliva kaltblütig; »an euch etwa? Zähltet ihr zu den Unionisten, so würdet ihr schwerlich zu einer Vermummung eure Zuflucht genommen haben. Seid ihr dagegen Anhänger des Südens, dann ist euer Verfahren so sinnlos unwürdig, dass ich fast bereue, den Sezessionisten jemals meine Dienste angeboten zu haben.«

Und weiter lautete das Verhör: »Wenn du wähnst, durch deine vorlauten Bemerkungen Eindruck auf uns auszuüben, so überschätzest du dein Können. Spare daher deine spitzen Reden und höre: Zu derselben Zeit, in welcher du Männern des Südens Dienste zu leisten versprachst, wohntest du bei einem Mann, der wegen seiner fortgesetzten Wühlereien und des Schutzes, welchen er den Feinden der Konföderation gewährte, längst für den Strang reif war, dem er sicher nicht entgeht. Außerdem lebtest du im täglichen Verkehr mit einem verwundeten Unionsoffizier, der sich durch seine Umtriebe gegen den Süden hervortat. Wie willst du das erklären?«

»Diene ich einer Partei mit vollem Herzen, so darf ich nicht davor zurückschrecken, unter die Gegenpartei mich zu mischen. Ein schwacher Kundschafter, der für sein Wirken nur sicheren Boden wählt.«

»Eine scharfsinnige Antwort«, höhnte der Vormann. Doppelt feindselig klang es unter der den Ton dämpfenden Kappe hervor: »Sie passt auf alle Fälle, lässt sich drehen und wenden nach Belieben. Beinahe zu scharfsinnig für ein unreines Bürschchen, welchem die Schlinge um den Hals liegt.«

»Jung mag ich sein, zeigt mir aber einen besseren Mann. Und liegt eine Schlinge um meinen Hals, so zieht sie immerhin zu. Seid sicher, dass ein furchtbarer Rächer ersteht, der mein Leben und das meines Gefährten von euch fordert. Ich wiederhole: Ein elender Kundschafter müsste ich sein, verstände ich nicht, für alle Fälle meine Gegenmaßregeln zu treffen. Auf Grund dessen werdet ihr noch einmal bereuen, Verrätern euer Ohr geliehen und auf leeren Schein hin euer Gewissen, wenn ihr überhaupt noch eins besitzt, mit einem Doppelmord beschwert zu haben.«

Der Wortführer sann eine Weile nach. Durch die Augenlöcher der Kappe hindurch funkelten seine Blicke auf Oliva. Während er die schlanke knabenhafte Erscheinung mit der kaltblütigen Ruhe verglich, welche sie sogar angesichts eines unabwendbaren Endes nicht verließ, schien er in seinem Entschluss zu schwanken. Hätte er einem um sein Leben bettelnden Feigling gegenüber hohnlachend den Stab gebrochen, so suchte er jetzt nach weiteren Beweisen für die Schuld der Gefangenen, bevor er sein Endurteil durch die Genossen bestätigen ließ. Endlich hob er wieder an: »Das Päckchen Briefe, welches dir anvertraut wurde, gib es heraus, damit ich sehe, dass es nicht in andere Hände überging.«

Oliva zuckte die Achseln geringschätzig. »Glaubt ihr, ich würde es bei mir behalten haben, um den ersten besten Unionisten, die mich durchsuchten, einen Beweis meiner Schuld zu liefern?«

»Ich wiederhole, gib es heraus, bevor wir zum Äußersten schreiten.«

»Ja, wenn es augenblicklich in meiner Macht stände«, antwortete Oliva gelassen. »Und ferner, wer seid ihr, dass ihr glaubt, aufgrund meines jugendlichen Äußeren mich wie ein Kind behandeln zu dürfen? Wer bürgt außerdem dafür, dass ihr nicht verkappte Unionisten seid, die eine Handhabe sowohl gegen mich als auch gegen meine Auftraggeber zu erbeuten wünschen?«

»Spare dein Gerede, vermessenes Gewürm«, herrschte der Vormann ihr nunmehr erbittert zu, »wenn wir dich erst durchsuchen, werden wir ja sehen. Jetzt eine andere Frage, und auf die Gefahr des augenblicklichen Hängens hin rate ich dir, der Wahrheit gemäß Auskunft zu erteilen. Du stehst in Verbindung mit Kampbell, dem berüchtigten Spion der Unionisten?«

Oliva lächelte spöttisch und erklärte mitleidig: »Wäre das der Fall, würde ich da einfältig genug sein, es einzuräumen? Doch beruhigt euch. Diesem Kampbell möchte ich noch weniger gern begegnen, als Leuten eures zweifelhaften Schlages.«

»Mit dir ist nichts aufzustellen«, versetzte der Wortführer ingrimmig, »in deinen Antworten offenbart sich eine Schlauheit, welche allein genügt, dich zu einem doppelzüngigen Schurken zu stempeln. Es bleibt mir also nur übrig, dich über das dir bevorstehende Los, welches dir ohne Zweifel noch recht harmlos erscheint, aufzuklären. Bis zum Anbruch des Tages erhältst du Zeit, dir die Sache zu überlegen. Vielleicht bist du bis dahin mehr geneigt, ein offenes Bekenntnis abzulegen. Wenn nicht, so bescheint die aufgehende Sonne deine Leiche wie die deines nicht minder verstockten Gefährten, die beide dort vom Baumast niederhängen.«

Auf ein Zeichen von ihm traten mehrere Vermummte heran. Ihre Hände auf Oliva legend, welche, das Nutzlose jeglichen Widerstandes einsehend, völlig regungslos verharrte, trafen sie Anstalt, sie ähnlich zu fesseln wie Nicodemo.

 

Während dieses Verhörs, bei welchem die Aufmerksamkeit jedes Einzelnen aufs Äußerste angespannt war, die Sinne aller aber mehr oder minder durch finstere Rachsucht, vielleicht auch Besorgnis um die eigene Sicherheit umfangen wurden, hatte man Nicodemo gänzlich außer acht gelassen. Saß er doch da, wie dem Leben nicht mehr angehörend. Nur in seinen Augen, die wie gebannt an Olivas Zügen hingen, webten abwechselnd banges Erstaunen und unsäglicher Jammer, um bald wieder durch das Aufleuchten tödlichen Hasses und ohnmächtiger Wut verdrängt zu werden. Verzweiflung ergriff ihn, so oft er gewahrte, dass Oliva seinen Blicken scheu auswich. Er ermaß den wilden Schmerz, der hinter dem ruhigen Antlitz tobte, den unbarmherzigen Vorwurf gegen sich selbst, sein Verderben, wenn auch nur mittelbar, verschuldet zu haben. Dabei ging ihm kein einziges Wort verloren. Trotzdem vermied er bedachtsam, in der Besorgnis, Olivas etwaige heimliche Pläne zu durchkreuzen, mit in die Erörterungen einzugreifen. Wenn er selbst aber in der hilflosen Lage einer Überwachung nicht mehr für wert gehalten wurde, so achtete man, durch das Verhör gefesselt, durch die Kappen dagegen im Wahrnehmungsvermögen beeinträchtigt, noch weniger auf die Umgebung des Lagers, in welcher es sich geheimnisvoll regte, als ob schattenhafte Geister zum nächtlichen Reigen sich zusammengehockt hätten.

Es geschah während des letzten Teils des zwischen dem Klan-Bruder und Oliva geführten Gesprächs, als Nicodemo plötzlich eigentümlich starr blickte, sein fahles Antlitz wie unter einem heftigen Blutandrang sich tiefer bräunte. Niemand bemerkte es, niemand sah, dass Zittern seine Gestalt durchlief. Hinter dem Baumstamm und unter dem dicht wuchernden Gesträuch und Kraut hervor, zugleich geschützt durch den Schatten des Stammes und Nicodemos breite Schultern, hatte sich eine Faust zwischen ihn und den Baum gezwängt. Gleich darauf fühlte er eine Messerklinge leise über seine Hände hingleiten und mit vorsichtigem Schnitt den sie zusammen schnürenden Strick lösen. Mit derselben Vorsicht wurde zum Schluss der Griff des Messers in seine Faust geschoben.

Von neuen Hoffnungen durchströmt und doch fieberhaft angstvoll lauschte er unter äußerster Anspannung seiner Sinne hinter sich. In jedem neuen Augenblick fürchtete er, ein unbeabsichtigt erzeugtes Geräusch zu hören, durch welches die Aufmerksamkeit der Klan-Genossen auf ihn hingelenkt worden wäre. Doch nichts unterschied er. Kein Blatt, kein Halm schien sich hinter ihm zu regen, während Tommy, gewandter als jene, und geübter im nächtlichen Kreuzen dicht verschlungener Wälder, langsam einherkriechend sich zurückzog und erst in sicherer Entfernung wieder aufrichtete. Nicodemo verharrte unterdessen, als hätte überhaupt keine Störung für ihn stattgefunden, nach wie vor in seiner gezwungenen Lage. Nur seine Finger regten sich, indem sie die Fesseln von den Gelenken streiften und demnächst die Faust das Heft des Messers fester packte. Dann war seine geistige Tätigkeit ausschließlich darauf gerichtet, den von Tommy und seinen Gefährten vorbereiteten Zeitpunkt zu erspähen, in welchem es ihm und Oliva ermöglicht sein würde, in den Wald hinein zu flüchten.

Abermals sank sein Herz, als er gewahrte, dass man, Oliva mit rauem Griff packend, Anstalt traf, ihre Hände zu fesseln. Der Ruf, zu entfliehen, bevor sie an dem freien Gebrauch ihrer Glieder gehindert wurde, schwebte ihm auf den Lippen. Zugleich schickte er sich an, emporzuspringen, als vom Fluss her ein Mann vollen Laufes herbeistürmte und dadurch dem Beginnen der sich mit Oliva beschäftigenden Genossen Einhalt tat. Ebenfalls vermummt, rief er dringlich aus: »Das Boot kehrt zurück! Die Schurken rudern aus Leibeskräften!«

»So mögen einige hingehen und ihnen ein halbes Dutzend Kugeln zusenden, da wird ihnen die Lust zum Landen vergehen«, befahl der Wortführer. Er kehrte sich den beiden Schergen wieder zu, die eben im Begriff waren, eine Schlinge um Olivas Handgelenke zu legen.

 

Doch bevor man den ersten Knoten schürzte, knallte aus dem Dickicht ein Schuss herüber. Mit durchschossenem Kopf zurücktaumelnd, stürzte der Wortführer über das lodernde Feuer hin. Bei diesem ungeahnten Angriff standen die Klan-Genossen wie zu Stein erstarrt. Ihr Entsetzen erhöhte, dass die eben noch hoch emporschlagenden Flammen durch den leblosen Körper erdrückt wurden und die bisher herrschende Helligkeit sich jäh in Dunkelheit verwandelte. Sie besaßen nicht einmal die Geistesgegenwart, dem Erschossenen beizuspringen, ihn vom Gluthaufen herunterzuziehen oder zu ihren Waffen zu greifen. Der Schuss war kaum gefallen, als Nicodemo den seine Füße haltenden Strick mit sicherem Griff durchschnitt und auf dieselben emporschnellte. Mit dem Ruf »Fort!« sprang er, das Messer schwingend, mit solcher Gewalt auf die vor Oliva stehenden Männer ein, dass sie bestürzt zur Seite stolperten und dadurch ihre Gefangene ganz frei gaben. Gleich darauf waren beide im Dickicht verschwunden, ohne dass auch nur einer versucht hätte, sie zurückzuhalten oder ihnen eine Pistolenkugel nachzusenden. Erst als ein zweiter Schuss aus dem Wald herüber dröhnte und ein anderer Klan-Bruder mit wütendem Aufschrei den zerschmetterten Arm kraftlos niedersinken ließ, löste sich die Erstarrung, welche sich aller bemächtigt hatte. Die Gefahr der sie beleuchtenden Flammen erkennend, die an dem Toten vorbei neue Lebenskraft gewannen, stoben sie auseinander. Nur einer besaß die Überlegung, den erschossenen Gefährten an den Füßen zu packen und von dem Feuer herunterzuschleppen. An einen Gegenangriff in dem finsteren Wald dachte keiner mehr. Im Bewusstsein, von Feinden umringt zu sein, die daran gewöhnt waren, im nächtlichen Kampf alle Vorteile auszunutzen, welche der Wald ihnen bot, dachten sie nur noch an Flucht und Rettung. Ihre Kopflosigkeit wurde aber dadurch noch gesteigert, dass Tommys gellende Stimme erschallte, indem er nach einem wahrhaft höllischen Lachen ihnen zurief: »Zwei liegen da! Wer will der Dritte, Vierte und Fünfte sein? Fort mit euch verdammten Mordhunden, wenn noch einer den Missouri-Bottom lebendig verlassen will! Fort in eure Boote, ihr schuftigen Kehlabschneider! Ein Schwarzer ist es, der es den wüsten Gentlemen befiehlt! Fünf Minuten und eine halbe Zeit geben wir euch! Wer dann noch zur Hand ist, wird an euren eigenen Stricken aufgehangen! Den Toten mögt ihr mit fortnehmen. Fahrt ihn bei hellem Tag durch die Straßen von St. Louis, damit die Leute die erstaunlichen Schurken erkennen, die nachts auf Raub und Mord ausgehen …«

Seinem wilden Eifer wehrte Nicodemo, der eben zu ihm herantrat. Ernst riet er, anderes zu bedenken, anstatt die eingeschüchterten Feinde zu einem Verzweiflungskampf zu reizen. Dann alle Farbigen zusammenrufend, unterrichtete er sie über ihr Verhalten, bis die erbitterten Klan-Mitglieder sich zur Fahrt stromabwärts eingeschifft haben würden.

Von allen Seiten argwöhnisch überwacht und den Erschossenen zwischen sich tragend, bahnten diese sich ihren Weg durch das Dickicht zum Mississippi hinüber. Dort stiegen sie zu ihren Booten hinab. Kein Wort wurde dabei laut. Erdrückend lastete auf ihnen das Bewusstsein, sogar die Todesursache des in der Stadt so bekannten Genossen verheimlichen zu müssen. Sie mochten die Stunde verwünschen, in welcher sie sich durch unbezähmbaren Fanatismus zu einem Unternehmen hatten verleiten lassen, über dessen mögliche Tragweite sie in so hohem Grad sich verrechneten.

Sie hatten die Boote vom Ufer abgestoßen, als abermals das Hohnlachen des triumphierenden Tommy an ihre Ohren schlug.

»Glückliche Reise!«, schrie er ihnen nach. In seinem Gellen offenbarte sich der tief gewurzelte Hass gegen alle Verteidiger der Sklaverei, in welcher er den schönsten Teil seines Lebens hindurch alle Unbilden tyrannischer Herren und Aufseher über sich ergehen lassen musste. »Glückliche Reise! Wenn ihr nach St. Louis kommt, meldet es auf dem Gericht! Vielleicht hängen sie uns wegen Totschlag!« Und wiederum lachte er den Scheidenden boshaft nach. Seine farbigen Freunde stimmten mit ein, dass es klang, als ob ein Schwarm Höllengeister den Wald belebt habe.

 

Oliva und Nicodemo hatten bis dahin kaum ein Wort gewechselt, höchstens eine kurze Bemerkung rücksichtlich der Beobachtung der abziehenden Feinde. Nur flüchtig ruhten ihre Hände ineinander. Es war der einzige Ausdruck ihrer Empfindungen, nachdem sie kurz zuvor mit dem Leben abgeschlossen hatten und einem grauenhaften Ende entgegensahen. Des Ereignisses selbst gedachten sie nicht in Worten. Nicodemo wusste, dass Oliva unzugänglich für irgendwelche auf ihre Wohlfahrt berechnete Ratschläge war. In ihr bebte dagegen der peinliche Gedanke, den von ihr unzertrennlichen Freund abermals in eine Lage gebracht zu haben, in welcher er doppelt litt.

Den Rest der Nacht hindurch blieb man noch zusammen, verlegte aber das Lager an das Ufer des Stroms. Folgenden Morgen, die Sonne war bereits aufgegangen und das Frühmahl hatte man gerade beendigt, bog ein Dampfer in die Missourimündung ein. Nicodemo und Oliva bestiegen das leichte Boot. Und unter den weit ausgreifenden Armen der schwarzen Ruderer schoss es auf den Strom hinaus. Auf ihren Anruf brachte man die Maschinen zum Stehen. Einige Fragen wurden gewechselt. Nach einem freundschaftlichen Abschied von Tommy und seinen Gefährten begaben sie sich an Bord. Gleich darauf trennte ein schnell wachsender Zwischenraum Dampfer und Boot.

Mit sich führte Tommy ein von Nicodemo mit Bleistift geschriebenes Blatt aus seinem Taschenbuch, welches dazu dienen sollte, ihn bei Martin Findegern, Krehle und Margaretha einzuführen. Weitere Aufschlüsse blieben seinen mündlichen Mitteilungen vorbehalten.

Auf dem Dampfer erregten die beiden westlichen Gestalten kaum Aufsehen. Im bräunlichen schlanken Burschen mit dem langen schlichten Haar glaubte man die Merkmale der Verwandtschaft mit der indianischen Rasse zu erkennen. In dieser Vermutung bestärkte der in seltsamem Widerspruch mit seiner Jugend stehende undurchdringliche Ernst, wie die Einsilbigkeit sogar im Verkehr mit seinem älteren, nicht minder düster schauenden, wortkargen Gefährten.