Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt – Folge 7
Jörg Kastner
Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Band 7
Der Fluch von Starcrest
Abenteuer, Heftroman, Bastei Verlag, Köln, 66 Seiten, 1,90 €, Neuauflage vom 18.09.2018
Kurzinhalt:
Die Reiter kamen mit dem ersten Glimmen der Morgenröte. Ihre geisterhaften Umrisse lösten sich aus dem Unterholz, als sich die Pferde langsamen Schrittes den prächtigen Gebäuden von Starcrest näherten. Noch behielt die Dunkelheit die Oberhand über die zaghaft tastenden Sonnenstrahlen und hüllte die drei Dutzend Reiter in ihr kaum durchdringbares Tuch. Sie verbarg die unrasierten Gesichter der Männer, die teils versteinert wirkten, teils hasserfüllt und teils erregt. Eins aber war allen Gesichtern gemein: In ihnen stand der Tod geschrieben.
Leseprobe
Kapitel 1
Starcrest in Flammen
Die Reiter kamen mit dem ersten Glimmen der Morgenröte. Ihre geisterhaften Umrisse lösten sich kaum merklich aus dem Unterholz, als sich die Pferde langsamen Schrittes den prächtigen Gebäuden von Starcrest näherten. Noch behielt die Dunkelheit der nächtlichen Schattenwelt die Überhand über die zaghaft tastenden Sonnenstrahlen und hüllte die drei Dutzend Reiter in ihr kaum durchdringbares Tuch. Sie verbarg die unrasierten Gesichter der Männer, die teils versteinert wirkten, teils hasserfüllt und teils aufgeregt. Eins aber war allen Gesichtern gemeinsam: In ihnen stand der Tod geschrieben. Hätte jemand die unheimlichen, fast lautlosen Reiter beobachtet, hätte er sofort gewusst, dass der neue Sonnenaufgang für die Plantage am Missouri keine Freude und kein Leben brachte.
Nur den Tod.
In einer langen Linie lenkten die Reiter ihre Tiere auf das weiß aus der Finsternis stechende Herrenhaus und die angrenzenden flachen Gebäude der Aufseher zu. Die Enden der Linie bogen sich zangenartig nach vorn und kreisten das Herz von Starcrest ein. Noch immer fast lautlos, denn die Pferdehufe waren mit dicken Lappen umwickelt. Die Blicke der Reiter gingen zwischen den Gebäuden und ihrem Anführer hin und her.
Das asketische Gesicht des großen, hageren Enddreißigers auf dem ebenfalls großen Falben spiegelte die Gefühlswelt seiner sämtlichen Begleiter wider. Seine Züge wirkten versteinert und waren doch von Leben erfüllt. Seine schmalen, fest zusammengepressten Lippen und das Feuer in seinen tief liegenden Augen verrieten den Hass, der ihn vorantrieb. Das nervöse Zucken der Augenlider und hin und wieder das fahrige Streichen über seinen dunklen, scharf ausrasierten Vollbart waren Zeichen seiner Erregung.
Je näher Byron Cordwainer den Gebäuden von Starcrest kam, desto größer wurde seine Erregung und desto unbändiger verlangte der Hass, der ihn fast auffraß, danach, sich endlich Luft zu verschaffen. Seine Hand fasste an den Griff des schweren Kavalleriesäbels an seiner Hüfte, und bei dem Gedanken an das Blut, das bald die glänzende Klinge bedecken würde, wurde ihm fast warm ums Herz.
Cordwainer musste sich regelrecht zwingen, seinem Falben nicht die Sporen in die Seiten zu schlagen, um ihn voranzutreiben, möglichst schnell den Plantagengebäuden und der blutigen Ernte, die er heute einfahren wollte, entgegen. Aber der Sohn von Avery Cordwainer, dem Bürgermeister von Blue Springs, hatte gelernt, sich zu beherrschen. Sein Vater hatte ihn darauf gedrillt, damit Byron ihm nacheifern und eines Tages der mächtigste Mann der Stadt werden konnte.
Der Mann in der Uniform eines Majors hielt seinen Falben zurück und damit auch die Männer, die hinter ihm ritten. Angestrengt durchschnitten seine Augen die beginnende Dämmerung, um zu sehen, wie weit seine Flankenreiter mit der Umzingelung der Plantage waren.
Fast war es vollbracht, als plötzlich eine Tür laut in den schlecht geölten Angeln quietschte. Sie gehörte zu den Unterkünften der Aufseher an der linken Seite des Herrenhauses. Ein Weißer in roter Unterwäsche und dicken grauen Wollsocken als einziger Fußbekleidung trat heraus, gähnte laut und streckte seine müden Glieder. In der linken Hand hielt er eine Maiskolbenpfeife, wie sie von den schwarzen Sklaven gefertigt wurde, in der rechten eines der neumodischen Zündhölzer.
Byron Cordwainer kannte den Mann vom Sehen. Er hieß Jenkins und arbeitete schon seit vielen Jahren als Sklavenaufseher auf Starcrest.
Vielleicht litt Jenkins an Schlaflosigkeit, dass er schon so früh auf den Beinen war. Vielleicht gehörte es zu seinem Morgenritual, sich vor dem Frühstück ganz in Ruhe eine Pfeife zu gönnen. Jedenfalls riss er das Zündholz an einem Türpfosten an, starrte kurz auf die auflodernde Flamme, führte den kleinen, brennenden Stab zur Pfeife, die er zwischen seine Lippen gesteckt hatte – und verharrte mitten in seiner Bewegung.
Das war in dem Moment, als er die Reiter erblickte, die Starcrest umzingelt hatten. Ungläubig riss er die Augen auf und schien sich zu fragen, ob er Bilder seiner nächtlichen Träume vor sich sah. Als er begriff, dass die Reiter Wirklichkeit waren, ließ er das Zündholz fallen, drehte sich schnell um und wollte zurück ins Haus laufen.
Cordwainer hatte den schweren Army Colt schon aus dem Holster gezogen, ließ sich aber Zeit mit dem Zielen. Der Schuss würde jegliche weitere Überrumpelung der Leute von Starcrest verhindern. Da sollte er wenigstens treffen. Jenkins war schon fast in der Dunkelheit des Gebäudeeingangs verschwunden, als der uniformierte Anführer der Reiter den Finger um den Abzug krümmte. Die Kugel traf Jenkins mitten ins Kreuz und löschte sein Leben aus, noch ehe er längs auf den Holzboden schlug und den Pfeifenstil unter sich zerbrach.
Cordwainer drehte sich zu seinen Männern um und schrie, den Revolver noch in der Hand: »Vorwärts, Leute! Zeigt es den verdammten Sklavenschindern! Gebt kein Pardon!«
Und über Starcrest brach die Hölle herein.
Ein weiterer Aufseher taumelte verschlafen, die Situation nicht erfassend, aus dem Haus und stolperte über Jenkins’ Leiche. Er starrte noch seinen toten Kollegen an, als ihm eine von Cordwainer abgefeuerte Kugel den halben Kopf wegriss.
Weitere Aufseher erschienen an den Fenstern, deren Scheiben unter dem Bleihagel der Angreifer zersplitterten. Ein paar der Verteidiger wurden niedergestreckt, ehe sie noch ihre Waffen in Anschlag bringen konnten. Einigen wenigen gelang es, das Feuer zu erwidern.
Dicht neben Cordwainer schrie ein Mann auf und krümmte sich auf seinem Pferd zusammen. Es war der junge Eiiah McPherson, der Sohn des Büchsenmachers von Blue Springs.
Er war ganz wild darauf gewesen, mitzureiten und sich als Mann zu beweisen. Eliahs Vater hatte seinem Sohn verboten, an der Strafexpedition, wie Cordwainer den Raid genannt hatte, teilzunehmen. Aber Eiiah schlich sich in der Dunkelheit aus dem Haus, sattelte den Braunen seines Vaters und war unglaublich stolz auf sich, als er mit dem bewaffneten Trupp ostwärts durch die Nacht ritt, der großen Plantage von Starcrest entgegen.
Jetzt waren jeglicher Stolz und jede Manneswürde von Eiiah McPherson gewichen. Der Jüngling war nur noch ein blutendes, vor Schmerzen schreiendes Etwas. Die feindliche Kugel hatte einen Teil seines vorher so hübschen Gesichts weggerissen. Es war ein Wunder, dass er noch bei Bewusstsein war.
Eine zweite Kugel fuhr in seine Brust und stieß ihn aus dem Sattel. Er fiel unter die Hufe seines Braunen.
Mehr sah Byron Cordwainer nicht von ihm, weil es ihn nicht interessierte. Der Mann in der Offiziersuniform trieb seinen Falben auf das prächtige Herrenhaus zu. Dort lebten die einzigen Menschen auf Starcrest, an denen ihm wirklich gelegen war. Denen sein ganzer Hass galt.
Cordwainer beeilte sich noch mehr, als er sah, wie seine Leute die ersten der mitgebrachten Fackeln und Brandsätze auf die Gebäude schleuderten. Viel zu früh. Ihr Anführer hatte ihnen eingeschärft, seinen Befehl abzuwarten, wollte er doch zuvor Virginia aus dem Haus holen. Aber die Erregung und die Hitze des Gefechts hatten seine Männer übermannt.
Und die Mordlust. Wann immer sich einer der Bewohner von Starcrest zeigte, brach er wenige Sekunden später unter einem Kugelregen zusammen.
Das Herrenhaus brannte bereits an mehreren Stellen, als Cordwainer es erreichte. Er zügelte grob sein Pferd, stieg aus dem Sattel und warf die Zügel einem seiner Männer zu. Dann winkte er einer Handvoll Leute, ihm zu folgen, und stürmte die breite Treppe zum Haupteingang hinauf.
Die Doppelflügeltür aus massivem Eichenholz war verschlossen, aber Brock Haley öffnete sie mit ein paar Schüssen aus nächster Nähe, die er aus seinem 44er Kerr-Revolver abgab. Der bullige Hufschmied trat die Tür auf, und die Männer liefen ins Haus.
Schon in der Eingangshalle schlugen ihnen Flammen entgegen, und Rauch biss in ihre Augen. Durch die Fenster geschleuderte Brandsätze hatten das Feuer im Haus entzündet. In dem prunkvoll eingerichteten Gebäude fanden die hungrigen Flammen genügend Nahrung, leckten an wertvollen Möbeln und fraßen sich an seidenen Vorhängen hinauf.
Hustend lief Byron Cordwainer an der Spitze seiner Männer die geschwungene Treppe nach oben und rief dabei laut nach Virginia. Fast hatte er den oberen Absatz erreicht, als eine Tür geöffnet wurde.
Es war nicht Virginia, sondern ein Mann, ein Weißer.
Haley reagierte schnell und gab zwei Schüsse auf den Mann im Türrahmen ab. Sie trafen ihn mitten in die Brust. Mit einem lauten Röcheln ging der andere zu Boden und ließ den Karabiner los, den er in den Händen gehalten hatte.
Cordwainer erkannte den alten Robert Hunter und wollte ihn nach Virginia fragen. Aber das Röcheln des alten Mannes war schon erstorben, und die Augen in seinem faltigen Gesicht blickten starr ins Leere.
»Ein Sklavenschinder weniger«, sagte Haley verächtlich und spuckte vor der Leiche aus.
Ein Blick in das Zimmer, aus dem der Herr von Starcrest gekommen war, zeigte Cordwainer, dass sich niemand sonst dort aufhielt. Es war ein Arbeitszimmer mit hohen Bücherschränken und einem großen Schreibtisch vor dem Fenster. Die Fensterscheibe war eingeschlagen. Der alte Hunter hatte sich hier verschanzt und versucht, seine Plantage gegen die Jayhawkers zu verteidigen.
Cordwainer lief den Gang entlang und seine Männer folgten ihm. Ein paar Türen weiter hörten sie laute Schussgeräusche. Der Mann in der Majorsuniform gab Haley ein Zeichen, und der Schmied trat auch diese Tür auf, während alle anderen mit schussbereiten Waffen warteten.
Es war ein großes Schlafzimmer, rosafarben und reich verziert, mit einem großen Himmelbett. Das Schlafzimmer einer Frau. Ein blonder Mann im Unterhemd hockte neben dem zersplitterten Fenster auf dem Boden und gab Schuss um Schuss aus seinem Revolver auf die Jayhawkers draußen ab. Neben ihm kniete eine junge Frau mit langen, rotblonden Haaren, die in weichen Wellen weit in ihren Rücken fielen, und lud fieberhaft seine Waffen nach. Sie trug nur ein reich besticktes Nachthemd.
»Virginia!«
Cordwainer hatte diesen Ruf beim Anblick der Frau unwillkürlich ausgestoßen.
Sie und der Mann, Custis Hunter, fuhren herum und blickten die Eindringlinge überrascht an. Dann reagierte der Sohn des toten Plantagenbesitzers und richtete seinen Revolver auf die Jayhawkers in der Tür. Aber diese waren schneller und setzten Custis Hunter mit einer Serie von Schüssen außer Gefecht.
Cordwainer beteiligte sich ganz bewusst nicht daran. Er wollte sich von Virginia nicht vorwerfen lassen, Custis getötet zu haben.
Als der junge Hunter blutüberströmt zusammensackte, stieß Virginia einen Entsetzensschrei aus und warf sich über ihren Geliebten, barg seinen von mehreren Kugeln getroffenen Oberkörper in ihren Armen.
»Custis!«, schrie sie in panischer Angst. »O Gott! Custis, sag doch etwas!«
Der junge Mann antwortete nicht. Seine Augen waren geschlossen und sein Körper reglos.
»Ich schätze, er ist tot«, sagte teilnahmslos Cordwainer, der vor die beiden getreten war.
Virginia hob den Kopf und starrte den Mann in der blauen Uniform an. In die Todesangst um ihren Geliebten, die aus ihren großen grünen Augen sprach, mischten sich Verachtung und Hass.
»Du hast ihn ermordet, Byron«, sagte die junge Frau fast tonlos.
Cordwainer schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht einen Schuss auf ihn abgegeben, Virginia.«
»Aber du hast es befohlen! Es waren deine Männer, und es war dein Mord. Dafür sollst du bezahlen!«
Sie hatte den Revolver ihres Geliebten aufgehoben und wollte die schwere Waffe mit beiden Händen auf Cordwainer richten. Der trat sie ihr mit solcher Kraft aus den Händen, dass die Waffe durchs halbe Zimmer flog.
Tränen traten in die Augen der Frau. Sie begann zu schreien und trommelte mit den Fäusten auf den großen Mann in der Offiziersuniform ein.
Cordwainer stand vor ihr, blickte auf sie nieder und sah sich das ein paar Sekunden an. Dann setzte er sie mit einem Fausthieb unters Kinn außer Gefecht.
Er sah Haley an. »Nimm Virginia mit. Wir rücken ab.«
»Ja, Major«, sagte der bullige Hufschmied und lud sich die Frau mit solcher Leichtigkeit über die Schulter, als wäre sie nur ein mit Federn gefülltes Kissen.
Als die Jayhawkers die Treppe hinabliefen, war es höchste Zeit. Die Flammen leckten bereits an dem alten Holz der Treppe, und das Erdgeschoss war die Hölle auf Erden. Ganze Wände schienen nur noch aus Feuer zu bestehen. Der dichte, beißende Rauch ließ die Männer kaum atmen.
Im Freien holten sie endlich tief Luft und stiegen auf ihre Pferde. Sämtlicher Widerstand auf der Plantage schien gebrochen. Byron Cordwainer hörte keine Schüsse mehr.
Sein zehn Jahre jüngerer Bruder Ellery trieb seinen Apfelschimmel heran und meldete, dass die Plantage in der Hand der Jayhawkers war.
»Setzt alles in Brand!«, befahl Byron Cordwainer. »Auch die Stallungen und die Sklavenunterkünfte. Ich will, dass nichts übrig bleibt von diesem verfluchten Starcrest!«
Ellery grinste verstehend und ritt davon, um den Befehl seines älteren Bruders in die Tat umzusetzen.
Byron lenkte sein Pferd von der Plantage weg. Neben ihm ritt Haley, der die noch immer bewusstlose Virginia wie einen Proviantsack quer vor sich über den Sattel geworfen hatte.
»Wollen wir uns das hübsche Feuerchen bis zum Ende ansehen, Major?«, fragte der Schmied hoffnungsvoll.
»Nein«, entschied Byron Cordwainer nach einem kurzen Blick auf Virginia. »Wenn sie aufwacht, sollten wir möglichst weit von Starcrest weg sein.«
Während ihre Gefährten mit brennenden Fackeln um die Stallungen und Sklavenunterkünfte jagten, ritten die meisten Jayhawkers hinter ihrem Anführer her und verließen die Plantage.
In ihrem Rücken schob sich die Sonnenscheibe in den tiefblauen Himmel. Aber an diesem Morgen bedurfte es ihres Lichtes nicht, um Starcrest in hellen Glanz zu tauchen.
Das tödliche Feuer, das die stolze Plantage verschlang, strahlte heller und heißer als die Sonne.
*
Als Custis Hunter die Augen aufschlug, stellte er fest, dass er tot war. Es musste so sein. Rings um ihn loderten wild die Flammen des Fegefeuers und fraßen sich mit ungeheurer Gier auf ihn zu. Wie würde es sein, die ewige Verdammnis am eigenen Leib zu spüren?
Er lag auf dem Boden, und sein Körper schmerzte, als hätte er schon die schlimmsten Martern hinter sich. Aber Custis konnte sich nicht daran erinnern. Nur daran, dass da irgendetwas Schreckliches gewesen war. So schrecklich, dass er sich über den Verlust der Erinnerung fast freute.
Es musste die Hölle sein. Plötzlich sah er einen Teufel, riesengroß und rabenschwarz, der durch die Flammen auf ihn zugeflogen kam. Um ihm die Eingeweide bei lebendigem Leib herauszureißen?
Doch statt dessen hob der Teufel ihn hoch und nahm Custis wie ein Kind auf die Arme. Ganz nah sah er das schwarze Gesicht der Kreatur vor sich. Er kannte dieses Gesicht. Schmorte er schon so lange in der Hölle?
Der Teufel stürzte Custis in das Flammenmeer. Nein, er trug ihn hindurch. So schnell, dass die Flammen ihn fast unbehelligt ließen. Nur die ungeheure Hitze und der dichte Rauch raubten ihm beinahe den Atem und das Bewusstsein.
Trotzdem sah Custis unterwegs etwas, das die Erinnerung zurückbrachte. Noch ein bekanntes Gesicht. Es gehörte einem Mann, der reglos am Boden lag und von der Feuersbrunst geröstet wurde.
Kein Opfer der Hölle, sondern sein Vater, Robert Hunter.
Die Hitze wurde so stark, so unerträglich, dass sie die Erinnerung an seinen Vater aus Custis’ Gedächtnis brannte. Seine Gedanken drehten sich nur noch um eins: Atmen.
Plötzlich war Luft zum Atmen da. Frische Luft, so viel er wollte. Und er sog sie so heftig in seine Lungen, dass sie zu schmerzen begannen. Er fühlte sich wie ein Verdurstender, der ein Wasserloch gefunden hatte und jetzt mit dem Trinken nicht mehr aufhören konnte.
Der schwarze Teufel legte ihn vorsichtig auf den Boden, und wieder spürte er den starken Schmerz, der von seiner Brust aus auf den ganzen Körper ausstrahlte.
Allmählich wurde ihm bewusst, dass der Schwarze kein Teufel war. Ein Name drängte sich in Custis’ Bewusstsein.
»Melvin?«
»Ja, Master Custis. Wie fühlen Sie sich?«
»Was ist geschehen, Melvin?«, fragte Custis langsam und röchelnd. Bei jeder Silbe spürte er Schmerzen.
»Die Jayhawkers waren da«, sagte Melvin seltsam unbeteiligt, als ginge ihn das alles nichts an. »Sie haben alle getötet und alles niedergebrannt.«
Custis saß am Waldrand auf dem Boden und lehnte mit dem Rücken gegen den mächtigen Stamm einer Buche. Jetzt erst realisierte er, dass das grelle Licht, das ihn blendete, nicht von der allmählich höher kletternden Sonne stammte, sondern von dem Flammenmeer, das einmal das Herz von Starcrest gewesen war. Das Ergebnis der vielen Jahre, die sein Vater zum Aufbau der Plantage gebraucht hatte, wurde in wenigen Minuten ausradiert.
Sein Vater!
Das Bild aus dem Fegefeuer tauchte wieder in Custis’ Bewusstsein auf. Das Bild seines Vaters, der wie tot am Boden lag und auf die nimmersatten Flammen wartete.
»Vater«, keuchte Custis und versuchte aufzustehen, aber sofort drückte ihn eine Schmerzwelle auf den Boden zurück.
»Sie können nicht aufstehen, Master Custis«, belehrte ihn der schwarze Hüne. »Sie sind viel zu schwach. Eine ganze Handvoll Kugeln hat Sie in der Brust erwischt.«
»Aber ich muss Vater helfen!«
»Das können Sie nicht, Master Custis. Ihr Vater ist tot, ermordet von den Jayhawkers.« Melvins Stimme wurde leise, und sein Blick senkte sich zu Boden. »So wie meine Lisa.«
Lisa war Melvins Frau. Sie hatten erst vor wenigen Monaten geheiratet. Es war eine der prächtigsten Hochzeiten gewesen, die jemals unter Sklaven stattgefunden hatten. Custis hatte es sich nicht nehmen lassen, die Feier fast so aufwendig zu gestalten wie die Hochzeit weißer Plantagenbesitzer. Schließlich war Melvin für ihn fast so etwas wie ein Freund.
Vor vielen Jahren, als beide Männer noch klein gewesen waren, hatte Custis, das einzige Kind seiner Eltern, den farbigen Jungen sogar für seinen Bruder gehalten. Unzertrennlich waren sie gewesen. Bis Robert Hunter seinem Sohn erklärt hatte, dass Weiße und Schwarze keine Freunde und schon gar keine Brüder sein konnten. Trotzdem hatte Custis und Melvin stets ein starkes Band verbunden.
»Was ist mit Lisa?«, fragte Custis, der nicht richtig begriff.
»Die Jayhawkers haben sie getötet«, antwortete der Schwarze düster.
»Die Jayhawkers?«
Für Custis ergab das keinen Sinn.
Jayhawkers, oder auch Freistaatler, nannte man jene Freischärler, die auf der Seite der Nordstaaten für die Sklavenbefreiung kämpften. Byron Cordwainer, der sich in den Indianerkriegen den Rang eines Majors der US-Armee erworben hatte, hatte seine Uniform wieder angezogen und eine irreguläre Jayhawker-Kompanie aufgestellt.
Aber weshalb sollten sie Schwarze töten, für deren Rechte sie eintraten? Zumindest gaben sie das vor. Oft genug war es nur die Legitimation für Raubzüge oder für eine persönliche Rache, wie wohl auch an diesem Morgen.
»Als die Jayhawkers in die Sklavensiedlung ritten und unsere Hütten in Brand steckten, lief Lisa ihnen entgegen und schrie, sie sollten aufhören. Die Jayhawkers haben sie einfach über den Haufen geritten. Sie ist tot. Sie und …«
Melvin brach mitten im Satz ab. Aus seinen Augen flössen keine Tränen, aber sein Schweigen bedeutete dasselbe.
Er musste nicht weitersprechen. Custis wusste auch so, was er hatte sagen wollen. Lisa war schwanger gewesen. Mit seiner Frau hatte Melvin auch sein Kind verloren.
Custis dachte an Virginia und fragte Melvin nach seiner Geliebten. »Die Jayhawkers haben sie mitgenommen.«
»Hat sie sich gewehrt?«
»Es sah aus, als sei sie bewusstlos.«
Angst stieg in Custis auf.
»War sie etwa verletzt?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete der schwarze Hüne.
Allmählich brannten die Feuer nieder. Die Nahrung ging ihnen aus. Starcrest, die stolze Plantage am Missouri, war nicht mehr.
»Wenn die Flammen verloschen sind, können wir sehen, was noch übrig ist«, sagte Melvin mit einem plötzlichen Anflug von Optimismus. Custis sah ihn fragend an. »Wozu?«
»Um Starcrest wieder aufzubauen.«
Der Weiße schüttelte den Kopf und murmelte: »Starcrest wird nie wieder erstehen. Vielleicht war es ein Zeichen.«
»Ein Zeichen?«
»Auch wenn die Jayhawkers gemeine Mörder sind, sie streiten doch für die gerechte Sache.«
»Das müsste ich wohl eher sagen, Master Custis.«
Melvin hatte recht. In einer anderen Situation hätte Custis jetzt laut gelacht.
Aber es war auch eine seltsame Situation, in der sich die Vereinigten Staaten zurzeit befanden. Obwohl der Staat Missouri zur Union gehörte, war hier die Sklavenhaltung weiterhin erlaubt. Präsident Lincoln hatte die Sklaverei nur in den Südstaaten für abgeschafft erklärt, um die Sklavenstaaten der Union nicht zu verprellen. Jetzt, im Krieg, konnte er sich das nicht leisten.
Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die Sklaverei überall in den Vereinigten Staaten verboten sein würde. Das wurde Custis auf einmal klar, als er die Plantage in Flammen aufgehen sah. Wozu etwas wieder aufbauen, was sich selbst überlebt hatte?
»Starcrest ist nicht mehr«, sagte der Weiße bitter. »Mit dem heutigen Tag sind alle Schwarzen, die meinem Vater gehörten, freie Menschen.« Er sah Melvin an. »Das gilt auch für dich.«
»Dann möchte ich bei Ihnen bleiben, Master Custis.«
»Warum?«
»Um Jagd zu machen auf Byron Cordwainer und seine Jayhawkers.«
»Liest du etwa meine Gedanken?«
»In unserer Lage kann es keinen anderen Gedanken geben.«
Custis wollte Melvin sagen, dass er recht hatte. Aber die Schmerzen in seiner Brust wurden unerträglich und rissen ihn in ein finsteres Loch, das nur ein Gutes an sich hatte: Es brachte Vergessen mit sich.
Quelle:
- J. Kastner: Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt. Band 7. Bastei Verlag. Köln. 18.09.2018