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Der Detektiv – Das Geheimnis des Czentowo-Sees – 4. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 7
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Geheimnis des Czentowo-Sees

4. Kapitel
Die falsche Theorie

Es war Vollmond und klarer Himmel. Schraut hatte sehr bald den bewaldeten Teil des Seeufers erreicht und fühlte sich nun hier im Schatten der Baumkronen weit sicherer. Der See hatte einen Durchmesser von vielleicht zweihundertfünfzig Meter. Stellenweise hatten Erdrutsche am Ufer stattgefunden, sodass eine Menge Kiefern, Eichen und Buchen halb im Wasser standen. Dies sah recht eigenartig aus. Als Schraut dann das Schloss Szentowo, einen schlichten Bau mit einem einzigen, massigen Turm, sich gerade gegenüber hatte, setzte er sich auf die steile Uferböschung und freute sich des poetischen Bildes, das der stille Waldsee und drüben das Schloss im Mondschein darboten. Vielleicht bekam er auch den Grafen und die Gräfin im Boot zu sehen, dachte er. Oder gar das Seeleuchten. Doch nein – das zeigte sich ja nur in dunklen Nächten – genau so wie das gräfliche Paar als Bootsfahrer. Dann wieder fiel ihm sein Kollege, der Leierkastenmann ein. Er war neugierig, wann Harst sich wohl wieder hier einfinden und was überhaupt bei dieser ganzen Detektivarbeit herauskommen würde. Vermutlich eine Niederlage. Dann war die Wette verloren und Harst seine Million los.

Schraut unterbrach hier seine Gedankenreihe und sog prüfend die Luft ein. Er roch etwas – etwas, das er erst kürzlich kennengelernt, den Rauch einer ganz bestimmten Zigarettensorte. Dieser süßliche Geruch war unverkennbar. Nur Harsts Mirakulum duftete so. Und Harst führte im Futter seines Filzhutes sechs Päckchen Mirakulum mit sich.

Der Wind kam von Westen. Man sah es am Kräuseln des Wassers. Schraut drehte also den Kopf nach links und erstarrte zur sitzenden Bildsäule, denn links, keine vier Schritt von ihm entfernt, lag der Drehorgelspieler-Kollege lang auf dem Bauch, hatte die Arme aufgestützt auf den weichen Moosboden und nickte ihm nun gemütlich zu. »Kommen Sie etwas näher herangerutscht, Schüler«, meinte Harst und blies dabei den Zigarettenrauch von sich. »Es ist nicht nötig, dass wir hier zu laut uns unterhalten. So, guten Abend also. Wie geht’s? Sie wundern sich, dass ich hier bin? Ich habe obrigkeitliche Erlaubnis dazu. Der Amtsrichter Mörner in Malchin und der Gefängnisaufseher, sein Untergebener, machen sich eine Ehre daraus, mich zu unterstützen. Ich habe mich Mörner zu erkennen gegeben, und zwar, nachdem der Graf heute Vormittag bei ihm gewesen und ihn gebeten hatte, mich wegen Landstreichens und Bettelns zur Abschreckung mindestens vierzehn Tage dazubehalten. Der Graf vermutet nämlich in mir jenen Harald Harst, der – und so weiter. Da er mir auf diese Weise vierzehn Tage Loch verschaffen wollte, natürlich um mich als Detektiv hier kaltzustellen, kann man annehmen, dass er, was das Seeleuchten angeht, Entdeckungen fürchtet, die ihn vielleicht ins Loch bringen können. Übrigens habe ich das gräfliche Paar vorhin im Schlosspark bemerkt. Eine etwas späte Stunde selbst für eine Mondscheinpromenade. Doch hierüber ein andermal. Waren Sie bereits bei Schimmeck, Kollege? So, dann erzählen Sie mal, was Sie da erfahren haben. Aha – der Graf war also während des Telefongesprächs dabei. Habe ich mir gedacht. Die Ehegeschichte – zweite Heirat – kenne ich haarklein vom Amtsrichter. Auch den Diebstahl. Das können Sie sich schenken. Wie?! Tatsächlich – Schimmeck hat den Grafen und die Gräfin nachts im Boot auf dem See gesehen – und wiederholt? Ah – das ist etwas ganz Neues! Davon weiß Mörner nichts, dem gegenüber Lippstedt ebenfalls immer den Gleichgültigen gespielt hat. Das wirft meine Theorie über den Haufen – schade! Sie war so schön – alles passte so gut ineinander, sogar der romanmäßige Schatz hatte sich dabei verwenden lassen. Und ich war sehr stolz auf diese Theorie, die mir geradezu zugeflogen kam, als Mörner den Diebstahl erwähnte und die Gerüchte, Blenkner wäre derjenige, welcher … Blenkner ist ein Mann in sehr bescheidenen Verhältnissen. Und der Schmuck gehörte seiner Tante, der Gräfin Hildegard, der ersten Frau, und war gräflich Hersfeldsches Familieneigentum, das er dann in einer schwachen Stunde, um es der neuen Gräfin zu entziehen, die ihn doch mit ihrem Gatten zu entzweien verstanden hat, geraubt und in den See geworfen haben konnte. Nachher, so hatte ich weiter gefolgert, tat ihm dieses übereilte Versenken der Juwelen leid, und er suchte sie mithilfe Bollschwings wieder im Taucheranzug und mit einer elektrischen Laterne bewaffnet herauszufischen.«

»Ah – Taucheranzug!«, entfuhr es Schraut. »Sehr richtig. Das erklärt dann auch das Leuchten auf dem Seegrund.«

»Sie sind ja so überrascht, Kollege! War Ihnen denn nach meinen naturwissenschaftlichen Bemerkungen auf der Chaussee über leuchtendes Holz, Leuchtkäfer und so weiter nicht sofort klar geworden, dass hier nur ein Mann im Taucheranzug mit elektrischer Lampe und ein zweiter, der die Luftpumpe bediente, in Betracht kommen konnten? Mir kam dieser Gedanke schon in Berlin, und auch Holzmüller hat an diese Erklärung gedacht, wie er mir sagte. Ich wusste nur nicht, was die Betreffenden auf dem Seeboden suchten. Erst Mörners Mitteilungen ließen die Vermutung in mir aufsteigen, Blenkner und Bollschwing hätten hier als Taucher gearbeitet, was technisch durchaus möglich ist, da der See nur acht Meter Tiefe hat, da man einen beliebig langen Luftschlauch als Verbindung zwischen der an Land befindlichen Luftpumpe und dem Taucherhelm benutzen kann. Ich sage, an Land befindlichen Luftpumpe, denn diese ließ sich hier im Wald leicht ganz versteckt aufstellen, sodass die beiden Verbündeten nicht nötig hatten, ein Boot zu benutzen. Doch zurück zu meiner leider verfehlten Theorie. Zu dieser passte ja auch tadellos das Verhalten Blenkners mir gegenüber. Er fürchtete eben, ich könnte hinter den wahren Sachverhalt kommen, und wollte, so glaubte ich, durch Bollschwing hier schnell alle Spuren beseitigen lassen, welche die beiden und ihre Tauchtätigkeit hätten verraten können. Des Grafen Lippstedt scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber die Lichterscheinungen im See hatte ich mir wieder so ausgelegt, dass er sehr wohl den ganzen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl und dem Seeleuchten ahnte, dass er aber aus alter Anhänglichkeit an Blenkner, den er geradezu geliebt haben soll, die Sache ihren Gang gehen ließ. Als er mich, den Liebhaberdetektiv, nun hier in der Maske des Leiermannes zu erkennen glaubte, hat er wohl ähnlich gedacht wie Blenkner, das heißt gefürchtet, ich könnte wirklich alles aufdecken. Deshalb wollte er mich für einige Zeit kaltstellen, bis sein Neffe eben die nötigen Vorkehrungen getroffen hätte, mir jeden Erfolg unmöglich zu machen. Sie sehen, lieber Schraut, nein, lieber Schüler, dass diese Theorie viel Bestechendes an sich hatte. Doch jetzt ist sie für mich erledigt, wenigstens in dem Hauptpunkt, dem Suchen nach dem Schmuck. Sie fragen: Weshalb erledigt? Denken Sie doch mal nach. Wenn der Graf, wie ich annahm, die Dinge laufen lassen wollte, wie sie liefen, wenn er seinen Neffen bei der Taucharbeit nicht stören wollte, dann – dann wäre er doch niemals so und so oft mit seiner Frau, die den Schriftsteller förmlich zu hassen scheint und die ihn somit sicher nicht geschont, die der Graf aber aus diesen Gründen auch nie in seine Ansicht vom Seegeheimnis eingeweiht haben würde, in dunklen Nächten gerade auf dem See umhergerudert – nein, niemals! Ich bin hier auf falscher Fährte gewesen – auf ganz falscher. Aber wo finde ich die richtige?«

Er versank in Nachdenken, rauchte schweigend eine zweite, dritte Zigarette, starrte zu der silbern glänzenden Mondscheibe empor und schien Schrauts Gegenwart völlig vergessen zu haben. Dann sprang er plötzlich auf.

»Kommen Sie, Kollege, ich muss mich mal auf Blenkners Grundstück näher umsehen«, sagte er. »Der Gastwirt besitzt ein Rad. Es steht im Flur. Holen Sie es. Ich habe mir das des Amtsrichters geborgt. Ich habe es dort an der Chaussee im Gebüsch. Ich muss Gewissheit haben, ob tatsächlich Blenkner und Bollschwing die Taucher sind. Sie dürften die Ausrüstung jetzt, wo sie doch so lange in Berlin waren, beim Schriftsteller verborgen haben. Und die alte Wirtschafterin wird verraten müssen, was sie weiß? Wie? Das wird sich finden, trotz der Warnung, die Bollschwing ihr zukommen ließ.«

 

*

 

Gegen elf Uhr vormittags machte Amtsrichter Mörner dem »Gefangenen« einen Morgenbesuch. Harst war gerade bei einem sehr reichhaltigen Frühstück, das ihm der Gefängnisaufseher besorgt hatte. Die beiden Herren schüttelten sich die Hände, und Mörner nahm dann auf dem Holzschemel Platz, während Harst sich auf den Bettrand setzte. Der Aufseher hatte hinter seinem Vorgesetzten die Zellentür wieder abgeschlossen und war davongegangen.

»Nun, haben Sie in der verflossenen Nacht etwas Besonderes erlebt?«, fragte der Amtsrichter gespannt. »Sie wissen ja, wie sehr mich dieser Fall interessiert, mehr noch Ihre Arbeitsmethode. Bisher glaubte ich stets, wirklich geistvolle Detektive wären nur in Büchern zu finden. Übrigens, auch ich bringe eine Neuigkeit. Der Graf war vor einer Stunde bei mir und fragte, ob wir beim Landstreicher – also bei Ihnen – auch eine genaue Leibesvisitation vorgenommen hätten. Dann meinte er etwas zögernd, ihm hätte es geschienen, als ob der Leierkastenmann eine fuchsige Perücke und einen falschen Bart trüge. Ohne Frage wollte er also auf den Strauch schlagen. Ich blieb ganz ruhig und erklärte, er täusche sich. Haar und Bart wären echt. Da ließ er ein sehr überraschtes Gesicht sehen. Und nach einer Weile wieder sagte er, als ob er plötzlich milder gegen die Vagabunden gesinnt wäre: ›Meinetwegen mag der Kerl auch billiger wegkommen. Drei Tage Loch tun’s schließlich auch!‹ Ich merkte auch, dass er stark beunruhigt war, weil Sie nun doch der erwartete Detektiv nicht zu sein schienen. Er sah überhaupt sehr bleich und geradezu verfallen aus. Was ist nur aus dem einst so blühenden Mann in so kurzer Zeit geworden!«

Harst füllte sich die Kaffeetasse. »Das böse Gewissen kann einem übel zusetzen, Herr Amtsrichter. Lippstedt war ein ehrlicher Mensch, bevor er die Mathilde Mulack vor zwei Jahren in Berlin kennenlernte. Jetzt … Doch davon später. Ich habe durch den Aufseher morgens eine Depesche unter Ihrem Namen nach Berlin geschickt. Die Antwort dürfte mittags eingehen. Bitte händigen Sie mir dann doch das Telegramm sofort aus.«

Er trank die Tasse leer und bot Mörner eine seiner Mirakulum an.

»Sie sind ja ganz versteinert, Herr Amtsrichter. Vielleicht deswegen, weil ich das böse Gewissen erwähnte? Oh, ich fürchte, zwei Ihrer Zellen hier werden schon morgen sehr vornehme Gäste bergen. Das Seeleuchten ist nämlich schon aufgeklärt. Sollte heute Herr von Blenkner zu Ihnen kommen, so bringen Sie ihn doch zu mir. Ich habe ihm in dieser Nacht – er ist morgens von Berlin eingetroffen – in seinem Landhaus einen Brief zurückgelassen, des Inhalts, dass es für seine Sache vorteilhaft wäre, recht bald sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen.«