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Die Gespenster – Zweiter Teil – Neunzehnte Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Zweiter Teil

Neunzehnte Erzählung

Das Zetergeschrei über Berlin im Jahre 1766

Als Herr Doktor Meier, Stadt- und Kreisphysikus zu Rathenow, im Sommer 1766 zu Berlin studierte, fand er eines Tages in der Mittagsstunde eine große Anzahl Neugieriger in der Burgstraße versammelt. Aller Blicke waren starr und unbeweglich auf die dahin gelegene Schlossseite geheftet. Auch verhielt sich die wider die sonstige Regel, ganz stille Volksmasse nicht anders, als wolle sie sich die Worte des Lebens aus dem Mund eines leise Redenden einhören.

Es konnte nicht fehlen, erzählte mir Herr Dr. Meier, diese sonderbare Volksversammlung zog die Aufmerksamkeit eines jeden Vorübergehenden, und, da ich einer derselben war, auch die meine auf sich. Man zeigte mir mit einer gewissen Ängstlichkeit einen weissagenden Kobold, der oben an einem Fenster des königlichen Schlosses stand und dessen Schädel eine rote, ja ich wiederhole es, eine rote Mütze decken sollte. Wirklich erblickte auch ich daselbst etwas, welches dem mir Bezeichneten vollkommen entsprach. Allein warum diese Erscheinung, die einem Menschen nicht völlig glich, ein Kobold, und gerade ein weissagender Kobold sein sollte, war mir noch ebenso dunkel und unbegreiflich, wie der Umstand, dass man damals die sogenannte Jakobinermütze auf dem leeren Schädel des Gespenstes so besonders merkwürdig fand. Aber Geduld!

Man gebot Stille, und alle horchten. Ich horchte mit, und man denke, auch ich hörte jetzt, wie vom Himmel herab die dumpfe Stimme eines spukenden Wesens über Berlin ein Zetergeschrei erheben. Mit Grausen und Entsetzen vernahm die ganze Volksmasse deutlich die Worte: »Wehe, wehe über Berlin!«

Man kam und ging, alle hörten diese bis zum Ekel wiederholte Worte, ohne genau zu wissen, woher sie kämen. Nur so viel schien gewiss zu sein, dass sie aus der Gegend des Schlosses her ertönten.

Das Gehörte beschäftigte das Nachdenken vieler ungleich mehr als das Gesehene; jedoch in ganz verschiedenen Rücksichten. Einige wünschten nur zu wissen, durch wen und wie das spukhafte Wesen im Luftkreis des Schlosses hervorgebracht werden möchte. Andere hingegen kümmerten sich darum zwar nicht, aber sie falteten nachdenkend die Hände und schienen sich jener spukhaften Erscheinung zu erinnern, welche einst durch ihr Wehe über Jerusalem! den Untergang dieser Hauptstadt unwiderruflich vorhergesagt haben soll. Nach Verlauf einer Viertelstunde hörte das Weherufen über Berlin auf, aber es begann abends um sechs Uhr von Neuem. So hörte man drei Tage hintereinander, mittags und abends um die namhaft gemachten Stunden etwa fünf Minuten lang das bedeutungsreiche Wehe.

Man kann leicht denken, dass eine so rührende Begebenheit die Klasse der kopflosen Berliner außerordentlich beschäftigte, und den Schwätzern in dieser Residenz nicht weniger Stoff zu vielen Worten ohne Gehalt gab, als selbst das große Ereignis unserer Tage zu Tegel!

Als indessen das unbegreifliche Wundergeschrei endlich bis zu den Ohren des achtungswürdigen Berliner Publikums drang, nahm man den Kobold ernstlich aufs Korn. Der Schlosswache hatte es bisher mit dem freiwillig übernommenen Aufsuchen desselben nicht gelingen wollen. Öfter als einmal hatte sie, währenddessen über Berlin das Wehe erscholl, die Gemächer der Schlossseite, von welcher die Schreckensstimme herkam, in der Hoffnung, irgendwo den Rufenden zu finden, vergebens durchsucht. Endlich aber kam ein Offizier auf den glücklichen Einfall, sich des Abends, bevor das Rufen seinen Anfang zu nehmen pflegte, unbemerkt auf die Attike, den Altan des Schlossdaches, zu schleichen, um zu sehen, ob der Prophet vielleicht da oben hause.

Wirklich fand der Offizier das Gespenst daselbst lang hingestreckt. Es lag auf dem Bauch, hatte den Kopf in eine der weiten Röhren gesteckt, in welcher das oben sich sammelnde Regenwasser innerhalb der Mauer unbemerkt abgeleitet wird, und fing eben an, das Wehe über Berlin in diese Röhre hinein zu schreien. Die Wasserröhre, deren Mündung unten zur Burgstraße hin wieder zum Vorschein kam, wirkte wie ein Sprachrohr und pflanzte die hohl klingenden Töne zum Schrecken derer, welche in jener Straße vorübergingen, verstärkt fort.

Der Offizier schlich sich unbemerkt an das Gespenst heran und gab ihm, um die Natur desselben zu prüfen, mit seinem Spanischen Rohr einen derben Schmiss auf dem prallen H… Nie hörte das Berliner Publikum des Kobolds Weheruf vernehmlicher, als in diesem Augenblick des schrecklichen Schmerzes.

Ein Lehrjunge von den Handwerkern, welche damals seit vierzehn Tagen auf der Attike etwas Schadhaftes ausbesserten, war der Kobold, der für sein Spuken unter den prallen ledernen Beinkleidern einen dick aufgelaufenen Streifen davontrug. Obendrein empfing er noch eine gesetzlich verordnete derbe Züchtigung für sein Possenspiel. Er hatte anfangs aus Neugierde in jene Röhre gesehen, ein paar Worte hineingerufen und bemerkt, dass die Leute in der Burgstraße dann stehen blieben, gafften und horchten. Dies brachte ihn auf die richtige Vermutung, dass man dort sein Rufen gehört haben müsse, ohne begreifen zu können, wo und wer der Rufende eigentlich sei. Natürlich schmeichelte es seinem Lehrjungenstolz, dass er unentdeckt erwachsene Leute täuschen könne. Er fuhr daher fort, alle Mittage und Abende, sobald der Meister mit den Gesellen nach vollendeter Arbeit die Attike verlassen hatten, sich mittels des zufälligen Sprachrohrs ein herrliches Vergnügen zu machen, bis ihm endlich das Spanische Rohr recht fühlbar den Erfahrungssatz einschärfte, dass in dieser unbeständigen Welt auf zweideutige lebhafte Freuden gewöhnlich Leiden zu folgen pflegen.

Übrigens war das Jakobinergesicht hinter dem Fenster des einen Schlosszimmers nichts anderes als ein optisches Blendwerk in der Glasscheibe und stand mit dem rufenden Kobold nur in einem eingebildeten Zusammenhang. Es verschwand samt der roten Mütze, sobald man die rote Fenstergardine zurückschlug.