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Deutsche Märchen und Sagen 10

Johann Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

10. Von Piet Jan Clas, der den Tod suchte

Es war einmal ein Mann, der hieß Piet Jan Clas, der war so neugierig, oh, so neugierig, dass es nicht zu sagen ist. Eines Tages nun hörte er zufällig vom Tod sprechen. Die Leute sagten, das wäre zwar ein gar hässlicher und grimmiger Kerl, aber gerecht dabei wie kein anderer.

Als Piet Jan Clas das hörte, da dachte er bei sich: »Ach, den Tod möchte ich doch gern einmal sehen, das muss ein kurioser Kauz sein.« Damit ging er nach Hause, nahm seinen Stock, setzte seinen dreikantigen Hut auf und machte sich auf den Weg. Als er nun schon weit gegangen war, da kam er in eine Stadt und sah da einen Schuhladen voll Schuhe. Der Schuster saß an der Tür und machte immer noch neue Schuhe.

»Guten Morgen, Meister«, sprach er.

Der Schuster dankte, ohne jedoch von seiner Arbeit aufzusehen.

»Was macht Ihr da Gutes?«, fragte Clas.

»Wie Ihr seht, Schuhe und immer Schuhe«, antwortete der Meister, stach mit dem Pfriem ein Loch und zog Krrrr den Pechfaden durch.

»Aber Ihr habt ja schon so viel fertig da stehen«, sprach Clas hinwieder. »Warum macht Ihr denn noch immer neue?«

»Ah, um sie zu verschleißen, zu verkaufen und meine Frau und Kinder mit dem Geld zu ernähren, Krrrr!«

»Und wenn Ihr das denn nun getan habt, was dann?«, fragte Clas weiter.

Der Schuster entgegnete: »Ei, dann lege ich mich aufs Ohr, dann kommt der Tod und holt mich ab, Krrrr

»Der Tod?«, schrie Clas verwundert. »Ach, lieber Meister, tut mir doch um Gottes willen den Gefallen und sagt mir, wo ich den finde. Habt Ihr ihn nie gesehen?«

»Nein, nein«, antwortete der Meister und lachte. »Dafür danke ich unseren lieben Herrgott, bin auch nicht gar neugierig darum.«

»Wo könnte ich ihn denn finden?«, fragte Clas.

Der Schuster sprach schmunzelnd: »Geht nur gerad aus und immer weiter Eurer Nase nach, da findet Ihr ihn vielleicht.« Clas bedankte sich für den guten Bescheid und ging fröhlich weiter den ganzen Tag, die ganze Nacht und den folgenden Tag bis Mittag. Da begegnete er in einem Wald einem Bauer, der hatte schon einen ganzen Wagen voll Holz gehauen und hieb noch immer mehr.

»Aber sag mir doch, Bruderherz«, sprach Clas, nachdem er den Bauer gegrüßt und der ihn wieder gegrüßt hatte, »was willst du denn eigentlich mit all dem Holz anfangen?«

»Ei«, sprach der Bauer, »ich binde Bündel daraus, die ich im Winter verbrenne. Was ich für mich nicht nötig habe, das verkaufe ich, hole mir Brot und Fleisch vom Geld. So bringe ich mein Leben hin bis zu meinem seligen Tod.«

»Apropos«, fiel Clas ein, »mit dem Tod. Wisst Ihr nicht, wo der sich wohl aufhält und herumtreibt. Ich möchte ihn so gern sehen, dass mir der Bauch wehtut.«

»Da kann ich Euch nicht dienen, Freund«, sprach der Bauer. »Aber geht einmal ganz gerade aus. Es ist möglich, dass Ihr ihn antrefft.«

Clas dankte fein höflich für den Bescheid, ging weiter und weiter, immer geradeaus, bis er abermals in eine Stadt kam. Da saß ein Schneider in einem schönen Haus auf dem Tisch und nähte. Um ihn herum war alles voll Kleider, sodass kein Fleckchen Wand blieb, wohin auch nur eine Fliege sich hätte setzen können.

»Was tut Ihr doch mit all den Kleidern«, fragte Clas, nachdem er eine Zeit lang das Haus angestaunt hatte.

»Die verkaufe ich«, antwortete der Schneider, »die wollenen im Winter, die linnenen im Sommer und die baumwollenen im Frühling und Herbst.«

»Und wenn ihr die denn verkauft habt?«, fragte Clas.

»Nun, dann nähe ich wieder neue«, brummte der Schneider verdrießlich, »und die verkaufe ich wieder, nähe noch einmal neue und verkaufe sie abermals, bis der Tod kommt.«

»Dann könnt Ihr mir gewiss auch sagen, wo ich den Tod finden kann, nicht wahr, Meister?«, fuhr Clas neugierig fort.

Aber der Schneider sprach, er solle sich nur geschwind aus der Tür machen, denn die Schneidermeister wären nicht gar gut Freund mit dem Tod, der hole ihnen zu viel Kunden weg. Das ist ein grober Kerl, dachte Piet Jan Clas und ging seiner Nase nach weiter. Als er wieder lange gegangen war, da kam er in einen Wald, der so groß war, dass man kein Ende davon sah. Er schritt aber mutig hinein und fand daselbst einen Einsiedler mit langem, greisem Bart, kahlem Kopf, einer dicken groben Kutte und einem Rosenkranz in der Hand.

Ach, dachte Clas, wenn das nicht der Tod ist, dann weiß er mir doch sicherlich Bescheid davon zu geben. Er ging auf den Einsiedler zu grüßte ihn, und der Einsiedler grüßte Clas zurück.

Clas fragte: »Was tut Ihr denn hier allein in der Einsamkeit. Da wüsste ich nichts Angenehmes daran zu finden, so allein zu sein.«

»Ach«, sprach der Einsiedler, »ich habe mich von den Menschen abgesondert, um Gott besser dienen zu können und wohl vorbereitet zu sein, wenn der Tod kommt, um mich …« »Ja, wegen dem Tod wollte ich Euch just fragen«, fiel ihm Clas ins Wort, »den möchte ich für mein Leben gern einmal sehen. Könnt Ihr mir vielleicht dazu verhelfen?«

»Den Tod kann man nur einmal sehen«, antwortete der Einsiedler, »aber wollt Ihr ihn sehen, nun so geht weiter. Jeden Abend seid Ihr ihm einen Tag näher.«

Das gefiel Clas. Er dankte dem Einsiedler aus vollem Herzen und sprach, als er die Klause eben aus den Augen verloren hatte, zu sich selbst: »Das nenne ich mir doch einmal einen vernünftigen Bescheid, nur wird es mir jeden Tag zu lang werden, ehe es Abend ist. Aber ich habe es dem Alten gleich angesehen, dass er es wusste.« So schritt er munter fort über Berg und Tal, durch Wald und Wiese, bis er eines Abends in der Ferne ein großes Schloss sah. Da ging er darauf zu. Als er an das Tor gekommen war, stand da ein steinaltes Mütterchen, die war so mager, dass man jedes Knöchelchen an ihrem Leib zählen konnte. Dabei hatte sie feuerrote Augen, ganz eingefallene hohle Wangen und eine dicke Hängelippe. Auf ihrem Rücken saß ein dicker Buckel. Darauf stand ein Korb voll Fläschchen und Salbentöpfchen. Außerdem hatte sie ein großes Messer an ihrer Seite hängen.

Das könnte leicht der Tod sein, dachte Clas, trat zu ihr, zog sein Dreispitz und sprach: »Gott grüß Euch, Mütterchen.«

»Schönen Dank, mein Söhnchen«, sprach die Alte.

»Ach, liebes Mütterchen, seid ihr nicht der Tod?«, fragte Clas alsdann.

»Nein, im Gegenteil«, antwortete sie, »ich bin das Leben und heile mit meinen Salben und Medizinen alle Schäden, Wunden und Krankheiten.«

»Das ist doch schade«, sprach da Clas, »ich hatte schon so große Freude, indem ich dachte, ihr wärt der Tod. Ich reise nun schon so lange über Berg und Tal, durch Wald und Wiese, um ihn zu suchen, und ich finde ihn nirgends. Könntet Ihr mir ihn nicht zeigen?«

»Doch, das kann ich wohl«, sprach die Alte.

»Ach, lieb, lieb Mütterchen, dann tut das doch!«, rief Clas entzückt aus. »Ich bitte Euch um alles in der Welt, Ihr könntet mir keinen größeren Gefallen erweisen.«

»Ja, das will ich gern«, sprach das Mütterchen, »zieh dich nur vorerst ganz splitternackt aus.«

Da warf Clas voller Freude Hut, Stock und Kittel hin und zog sich alsdann auch die übrigen Kleider vom Leib.

Als das geschehen war, da sprach das Mütterchen: »Nun knie dich nieder und leg deinen Kopf in meinen Schoß.«

Als er das auch getan hatte, da nahm sie ihr scharfes Messer und schnitt ihm den Kopf ritsch ratsch ab, drehte ihn ganz geschwind herum und setzte ihn wieder so auf, dass das Gesicht zum Rücken gekehrt war.

Im selben Augenblicke sprang Clas auf und schrie ganz jämmerlich: »Oje, oje, oje! O weh! Hilfe, Hilfe! O rettet mich! Helft mir aus der grausamen Not! O, was sehe ich für gräuliche Sachen!«

Das alte Mütterchen hörte aber nicht darauf und ließ ihn zwei Stunden lang mit dem Gesicht auf dem Rücken.

»Du wolltest ja den Tod sehen, nun siehst du ihn«, sprach sie.

Clas ermattete aber dermaßen von all dem Schrecken, den er ausstand, dass er ohnmächtig zusammenfiel und kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Als die Alte das sah, schnitt sie ihm den Kopf wieder ab und setzte ihn wieder zurecht, strich ein bisschen Salbe aus einem ihrer Töpfchen auf die Wunde und in zwei Minuten war sie heil und Piet Jan Clas wieder so gesund wie vorher.

»Hast du nun den Tod gesehen?«, fragte das Mütterchen.

»Ja, das sei Gott geklagt«, sprach Clas, »das ist nicht zum Spaßen.« Er zog sich so schnell, wie er konnte, an und lief, was er konnte, nach Haus zurück.