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Der Detektiv – Zwei Taschentücher – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 7
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zwei Taschentücher

1. Kapitel
Zerstörtes Glück

Assessor Harst beendete seinen Vortrag, den er seinem Vorgesetzten soeben über die Mordsache Luckner-Birt gehalten hatte, mit den Worten: »Ich glaube, dieses Beweismaterial genügt zur Erhebung der Anklage gegen diesen ebenso raffinierten wie verstockten Menschen, Herr Geheimrat.«

Der Erste Staatsanwalt streckte ihm die Hand hin und sagte herzlich: »Lieber Harst, es genügt vollauf! Und – es ist wieder einmal Ihr alleiniges Werk, all diese feinen Fäden zu einem Netz vereinigt zu haben, aus dem es für den Täter kein Entrinnen mehr gibt. Ich danke Ihnen. Nur selten findet man unter uns Juristen einen so scharfsinnigen Kopf wie Sie. Ich habe den Herrn Minister bereits auf Sie aufmerksam gemacht. Ihre Ernennung zum Staatsanwalt dürfte noch vor Ihrer Hochzeit erfolgen, verehrter Kollege. Diese ist doch für nächsten Mittwoch festgesetzt, wenn ich mich recht erinnere. Auf Wiedersehen! Und – machen Sie für heute Schluss mit der Arbeit! Dieses prachtvolle Maiwetter lädt geradezu ein zu einem Spaziergang – zumal, wenn man verlobt ist!«

Noch ein Händedruck, und Harald Harst kehrte in sein Dienstzimmer zurück, wo er das Aktenstück Luckner-Birt wegschloss und sich dann zum Ausgehen fertig machte. Er tat dies mit der ihm eigenen Sorgfalt, die er seinem äußeren Menschen stets schenkte. Es war ihm ein Bedürfnis, sich tadellos zu kleiden und die Gewissheit zu haben, dass jede Kleinigkeit an ihm selbst vor dem kritischsten Blick bestehen konnte. Er besaß dabei einen ausgesprochen vornehmen Geschmack. Nichts an seiner Erscheinung verriet, dass er aus einer sehr einfachen, wenn auch reichen Familie stammte. Seine schlanke, mittelgroße Gestalt und das frische, magere Gesicht mit dem kurz gestutzten blonden Bärtchen ließen ihn weit jünger erscheinen, als er es in Wirklichkeit war. Sein gemessenes Wesen, die Ruhe seiner Bewegungen und seine langsame, überlegte Art zu sprechen, seine unerschütterliche Gelassenheit und der kühle, scheinbar all und jedem gegenüber gleichgültige Blick der grauen, dunkel bewimperten Augen waren das Ergebnis strengster Selbstzucht. Sein Gesicht mit den vorspringenden Backenknochen, der allzu kräftigen Kinnpartie, der hohen, eckigen Stirn und der messerscharfen Hakennase durfte auf Schönheit keinen Anspruch erheben. Aber es war eines von denen, die Eindruck machen, auffallen und dem Menschenkenner sofort überlegene Geistesgaben verraten. Das war Harald Harst, den seine Kollegen oft den großen Schweiger nannten, da er wenig mitteilsam, ja sogar eine verschlossene, in sich gekehrte Natur war.

Als er nun in den warmen Mittagssonnenschein hinaustrat, der den Platz vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit in blendende Helle tauchte, war es genau 12 Uhr mittags. Um halb eins hatte er sich mit Marga vor dem Kaufhaus des Westens verabredet. Sie wollten dort gemeinsam einige Besorgungen erledigen. Er hatte also noch genügend Zeit, ein Stück zu Fuß durch den Tiergarten zu gehen. Inmitten der frischgrünen Lenzespracht schüttelte er gewaltsam alle Gedanken an dienstliche Angelegenheiten von sich ab, zwang sich, nur mit dem geliebten Wesen sich zu beschäftigen, das nun in kurzem seine Frau werden sollte.

Marga Milden war das einzige Kind des Senatspräsidenten Robert Milden und seiner Frau, einer geborenen Gräfin Blinkfeld. Trotz ihrer erst zwanzig Jahre war sie ein völlig ausgereifter Charakter mit ernsten Lebensanschauungen. Jedenfalls hatten sich, als sie den Assessor Harst vor einem Vierteljahr kennen und sehr bald liebenlernte, nicht gerade die Gegensätze wie so oft angezogen, denn Marga und Harald waren in der Hauptsache verwandte Naturen. Als Brautpaar wussten sie in Gegenwart anderer stets zu verbergen, wie leidenschaftlich sie sich zugetan waren. Nur im trauten Alleinsein enthüllten sie ohne Scheu ihre heißen Herzen und schwärmten in schlecht verhehlter Sehnsucht von der köstlichen Zukunft, wo sie sich dann restlos angehören durften.

Auf der Tauentzienstraße vor dem riesigen Sandsteinbau des Kaufhauses des Westens wogte wie immer um die Mittagstunde ein doppelter Menschenstrom auf der Lasterseite auf und ab. Harst schlenderte vor den großen Schaufenstern hin und her und machte seine Studien an den Menschen, die gleich ihm die Auslagen bewunderten. Er verstand sich darauf, aus winzigen Kleinigkeiten treffsichere Schlüsse zu ziehen. Es war eine fast krankhafte Angewohnheit von ihm, selbst im Straßentreiben der Millionenstadt auf alles zu achten, was ihn vielleicht auf die Spur irgendeiner entweder schon vollendeten oder erst geplanten Gesetzesübertretung führen konnte. Daher wurde er auch Taschendieben besonders gefährlich. Er durfte sich rühmen, bereits mehr als ein Dutzend dieser Gauner hinter Schloss und Riegel gebracht zu haben.

Jetzt stutzte er plötzlich. War das nicht der Komiker-Maxe, Max Schraut, der doch letztens wieder wegen Handtaschen-Abkneifens ein Jahr Gefängnis bekommen hatte? Ohne Zweifel: Dieser frühere Schauspieler, der schnell zum Taschendieb auf der schiefen Bahn des Lasters herabgesunken war, musste aus der Strafanstalt entwichen sein! Er trug jetzt eine gar nicht schlechte Verkleidung, spielte den alten, ehrwürdigen Herrn. Für Harsts Augen hatte der falsche Bart aber doch eine zu stumpfe Farbe.

Harst trat hinter den Komiker-Maxe, der es auf eine junge Dame abgesehen zu haben schien, und flüsterte ihm zu: »Gehen Sie langsam voraus in die Nebenstraße, Max Schraut. Aber – keine Dummheiten!«

Der Taschendieb gehorchte. Er musste große Geistesgegenwart besitzen. Er war nicht einmal bei dem unerwarteten, verhängnisvollen Befehl zusammengezuckt.

Nun aber begann er den Assessor flehentlich zu bitten, ihn laufen zu lassen. »Ja, ich bin ausgebrochen. Nur deshalb, weil meine alleinstehende Mutter todkrank ist – nur deshalb! Jetzt ist sie gestorben – gestern Abend. Ich möchte ihr doch wenigstens das letzte Geleit geben. Dann – mein Wort darauf – stelle ich mich freiwillig.«

»Und soeben wollten Sie weder Ihren alten Trick versuchen, Schraut. Sie hatte die kleine Beißzange ja schon in der Hand.«

Der Dieb stöhnte auf. »Die … die Beerdigungskosten,« flüsterte er. Ein paar Tränen rannen ihm in den falschen Bart.

Harst schaute ihn prüfend an, gab ihm dann einen Hundertmarkschein und sagte: »Nach der Beerdigung melden Sie sich bei mir. Ich wohne in Schmargendorf, Blücherstraße 10.«

Dann schritt er davon.

 

***

 

Es wurde eins. Marga erschien nicht. Und sie war doch die Pünktlichkeit selbst. Um halb zwei läutete Harst bei Mildens in der Bismarckstraße in Charlottenburg vom nächsten Zigarrengeschäft an. Seine Schwiegermutter gab ihm Bescheid, Marga wäre bereits um zehn Uhr von zu Hause weggegangen.

Er war ein geduldiger und ebenso verliebter Bräutigam. Er hatte sich so sehr auf das Wiedersehen gefreut, zumal er Marga gestern Nachmittag daheim nicht angetroffen und abends hatte arbeiten müssen. Noch bis zwei Uhr wollte er warten. Dann musste er nach Hause. Seine Mutter hatte ihm heute eins seiner Leibgerichte gekocht.

Er schlenderte wieder vor dem Warenpalast auf und ab, ohne viel Hoffnung, dass die Ersehnte noch erscheinen würde. Sie hatte sicherlich eine ganz dringende Abhaltung. Anders ließ sich diese verpasste Verabredung nicht erklären.

Um zwei Uhr rief er dann Mildens abermals an. Marga war noch nicht zurückgekehrt. Niemand wusste, ob sie etwas Besonderes vorgehabt hätte.

Leicht beunruhigt machte Harst sich auf den Heimweg. Die Straßenbahn war ziemlich leer. Er stand bequem auf der hinteren Plattform und grübelte über die Gründe nach, die dieses Stelldichein für Marga vereitelt haben könnten. Je länger er alle Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten prüfte, desto besorgter wurde er. Seine Braut, sagte er sich nun mit Recht, hätte ihn niemals vergeblich warten lassen, wenn sie nicht durch Umstände ferngehalten worden wäre, die ihre freie Entschlussfähigkeit ausgeschaltet hätten. Nur ein Unfall konnte hier vorliegen.

Ihm wurde ganz heiß bei diesem Gedanken. Dann wieder versuchte er seine Angst zu zerstreuen, tröstete sich mit der Annahme, es läge vielleicht ein sehr harmloser Grund vor. Doch nur Minuten währte diese Selbsttäuschung. Wieder kroch ihm die ungewisse Furcht zum Herzen, in dem nur für weniges Raum war: für Marga, für seine Mutter und für seinen Beruf.

Von seiner Haltestelle der Straßenbahn hatte er noch einen kurzen Weg bis nach Hause. Frau Auguste Harst wohnte noch in demselben alten Gebäude, wo sie an der Seite des Tischlermeisters und späteren Holzhändlers Emil Harst 25 Jahre zufrieden und glücklich gelebt hatte und nun nach dessen plötzlichem Tod ganz in Liebe und Fürsorge für ihr einziges Kind aufging.

Das Haus lag weit von der Straße zurück inmitten eines Gartens mit uralten Linden, der sich nach hinten zu bis an ein Laubengelände ausdehnte. Harald Harst bewohnte im Erdgeschoss die drei Zimmer rechts von dem großen, durchgehenden Flur. Die Räume links standen leer. Er eilte die breite, gewundene Treppe empor, fand seine Mutter in der Küche am Herd, küsste sie zärtlich und nickte auch der alten Malwine, die bei Harsts nun schon einige zwanzig Jahre diente, einen freundlichen Gruß zu. Dann begann er der kleinen, rundlichen Mutter, der das schwarze Häubchen stets schief auf dem falschen Zopf thronte, sofort von dem vereitelten Stelldichein zu berichten.

Frau Auguste tätschelte ihm die Wangen. »Harald – man soll nicht gleich das Schlimmste sich ausmalen,« meinte sie. Und doch fühlte auch sie eine gelinde Angst um die Schwiegertochter, die sie aufrichtig liebte, obwohl ihr Junge seit seiner Verlobung ihr nur noch halb gehörte.

Harst lief jetzt in seine Wohnung hinab. Er, der jede hastige Bewegung vermied, war wie ausgewechselt. Seine drei Zimmer, mit erlesenem Geschmack eingerichtet, verrieten sofort, dass sein Vater ein Millionenvermögen hinterlassen hatte. Jedes Stück der Ausstattung besaß hohen Kunstwert.

Im seinem Arbeitszimmer nahm Harst den Hörer vom auf dem Schreibtisch stehenden Fernsprecher und ließ sich mit Mildens verbinden. Es war bereits halb drei. Der Senatspräsident kam selbst an den Apparat.

»Lieber Harald, wir fangen an, uns zu ängstigen«, sagte er ehrlich.

Harst erwiderte, er würde das Polizeipräsidium Berlin anrufen und bitten, bei den Unfallstationen und in den Krankenhäusern Nachfrage zu halten. Das ginge so am schnellsten. Er wäre auf dem Präsidium gut bekannt, und man täte ihm gern diesen Gefallen.

Nachdem dies erledigt war, ging er wieder zu seiner Mutter nach oben. Das Mittagessen war schon aufgetragen. Er berührte es kaum, und es herrschte ein bedrücktes Schweigen während der Mahlzeit. Frau Auguste wusste nur zu gut, dass ihr Junge sich nun nicht mehr durch Redensarten würde beruhigen lassen.

Nach Tisch wollte Harst sich zerstreuen, schritt im Gemüsegarten auf und ab und säuberte ein paar Rosenstöcke von Blattläusen. Im Gärtnerhäuschen am hinteren hohen Holzzaun wohnte seit Jahren die kränkliche Witwe eines früheren Kutschers der Firma Emil Harst mit ihrem jetzt fünfzehnjährigen Jungen. Karl Malke hatte mit Harst‘schem Geld das Gymnasium bis zur Quarta besucht. Doch er kam nicht vorwärts. Das Stillsitzen und Lernen hasste er. Jetzt pflegte er seine Mutter, besorgte allein den kleinen Haushalt und spielte bei Harsts Faktotum für alles. Der lang aufgeschossene Junge mit dem altklugen Gesicht war ausgesprochen praktisch veranlagt und ein heller, findiger Kopf. Harst verehrte er, obwohl dieser den bei aller guten Charakterveranlagung recht abenteuerlustigen und unsteten Knaben häufig streng ins Gebet nahm, weil dieser noch immer für einen bestimmten Beruf sich nicht entschieden hatte, während ihm doch dank der Freigebigkeit Frau Augustes jede Laufbahn offengestanden hätte.

Zwischen Harst und Karl Malke herrschte im Übrigen ein vertraulicher Ton. Der Junge, der soeben das Unkraut aus den Frühbeeten entfernte, hatte Harst eine Weile beobachtet und sagte nun zögernd: »Herr Assessor, Ihnen muss irgendetwas passiert sein. Sie sind so unruhig.«

Harst trat neben den Jungen und sog den süßlichen Duft der aus dem Frühbeet noch nicht versetzten Heliotroppflanzen ein. Heliotrop! Margas Lieblingsparfüm! Und schon krampfte sich sein Herz in jäher Angst zusammen.

Dann antwortete er dem Jungen, erzählte ihm von seinen plötzlichen Sorgen. Karl hatte eigentlich für Marga nicht viel übrig, da sie es gewesen war, die seiner Mutter letztens dringend geraten hatte, eine Verwandte zu sich zu nehmen, damit der Junge irgendwo in die Lehre gegeben werden könnte. Es hatte Karl viel Tränen gekostet und all seiner Überredungskünste bedurft, ehe die Mutter ihm zugesagt hatte, noch bis zum Herbst ihm diese goldene Freiheit zu belassen.

Jetzt aber fand er doch aufrichtig gemeinte Worte, die seine Teilnahme für die Besorgnis seines verehrten Gönners um die Braut verrieten.

Da ertönte eine Stimme vom Wohnhaus her, die der alten Malwine: »Herr Harald – Herr Harald!«

Harst zuckte zusammen. Ein Etwas in diesem Ruf ließ ihn Schlimmes befürchten, irgendeine Nachricht über Margas Verbleib.

Malwines bleiches, verstörtes Gesicht sagte ihm genug. Er stürmte in sein Arbeitszimmer. Dort saß die Mutter im Schreibtischsessel mit tränenumflorten Augen.

»Mein – mein armer Junge!«. brachte sie nur mühsam hervor.

In ihrem Schoß lag der Telefonhörer mit der grünen Seidenschnur. Harst nahm ihn auf, meldete sich.

Sein Studienbekannter und Klubgenosse Kriminalkommissar von Perbram meldete sich.

Harst erblasste. Ganz schonend teilte ihm Perbram das Furchtbare mit. Marga war vor einer halben Stunde in einer Laube des Laubengeländes an der Bahnstrecke Halensee – Heerstraße mit einer Stichwunde im Herzen tot, ermordet offenbar, aufgefunden worden.