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Ein psychologisches Problem

Ludwig Habicht
Ein psychologisches Problem
Eine Kriminalnovelle aus dem Jahr 1864

»Ich langweile mich entsetzlich hier«, begann in einer kleinen Gesellschaft von Juristen der junge Staatsanwalt Dr. jur. Heller. »Was habe ich zu richten? Nichts als Diebstähle, Gaunereien! Nicht ein einziger bedeutender Fall, kein psychologisches Problem!«

»Sie sind köstlich, Staatsanwalt«, scherzte ein alter Rat, »sollen sich die Leute totschlagen, um Ihnen psychologische Studien zu geben? Ich danke Gott, dass in unserer Provinz die Verbrecher noch nicht so schlau und verschlagen sind wie in Euren großen Städten.«

»Und doch kann ich deinen Unwillen nicht schelten«, entgegnete sein Freund, der Assessor Berndt, sich an Heller wendend. »Es ist immer interessant, die Nachtseite des menschlichen Daseins kennenzulernen.«

»Missverstehen Sie mich nicht«, erläuterte der junge Staatsanwalt. »Nicht die Schwere eines Verbrechens zieht mich an, sondern die Entstehung des Verbrechens im Kopf des Täters, wie es Tat wurde, in welchen Schleier es sie hüllte, wie dieser endlich langsam oder plötzlich zerriss – das weckt mein Interesse.«

»Sie suchen also Verbrechen aus der besseren Gesellschaft?«, fragte der Rat ironisch. »Und dass die hier nicht vorfallen, ist natürlich«, ergänzte der Assessor, »wo jeder beobachtet und sein geheimstes Tun und Lassen von guten Nachbarn und Nachbarinnen aufgespürt wird.«

»O, wer weiß!«, bemerkte ein kleiner Referendar, im Bund der Vierte, der bisher geschwiegen und beharrlich in sein Glas Glühwein geguckt hatte.

»Ich sehe es schon, ich kehre wieder in die Residenz zurück«, bemerkte Heller und ging schweigend im Zimmer auf und ab, während die anderen lustig weiter plauderten.

»Still, was war das?«, begann er plötzlich aufhorchend und blieb stehen. Seinem feinen Ohr war der Ton einer Glocke nicht entgangen.

»Ich schlug mit dem Löffel ans Glas«, meinte der Referendar.

»Nein, das ist das Feuerglöckchen!«, rief sein Freund, und alle bis auf den Referendar stürmten hinaus, der ruhig sitzen blieb, weil er etwas schwerhörig und völlig überzeugt war, dass er nur an sein Glas angestoßen hatte.

Draußen aber rasselten die ersten Spritzen an ihnen vorbei, Leute stürzten in wilder Hast hin und her.

»Wo ist das Feuer?«, fragte der Assessor.

»Wir wissen es nicht!«, riefen die Fortstürzenden.

Die drei Freunde bogen vom Markt in eine Seitenstraße ein, um auf den glutroten Schein, der immer höher über die Häuser ragte, zuzusteuern.

Da hörten sie schon eine Stentorstimme rufen: »Die Arnold‘sche Fabrik brennt!«

»Gott sei Dank, das ist wenigstens außerhalb der Stadt«, rief der alte Rat und blieb stehen, während die beiden jüngeren Freunde weitereilten. Es war ein entsetzliches Gedränge, das große schöne Gebäude stand in roten Flammen und starrte wie ein Gedanke der Verzweiflung in die Nacht hinaus. Ein wildes chaotisches Treiben brauste umher, wie dies meist in kleinen Städten mit keinem geordneten Feuerlöschsystem zu sein pflegt. Alles tobte wirr und wild durcheinander. Jeder befahl, keiner gehorchte, und die Flammen umspannten mit ihren Riesenarmen ungehindert schon ein höheres Stockwerk.

Da brach sich plötzlich durch die Menge ein junges Mädchen mit aufgelöstem Haar, verzweifeltem Blick Bahn.

»Rettet das Kind, das arme Kind!«, rief sie und zeigte auf einen Flügel des brennenden Stockwerkes. Während jeder noch unentschlossen zögerte, stürzte sie in das brennende Gebäude. Allein die beiden Freunde hielten sie zurück, die dort am Eingang beschäftigt waren.

Der Assessor rief erschrocken: »Zurück, was wollen Sie tun, hier ist nichts mehr zu retten!«

»Doch das Kind, das Kind! Es kann, es darf nicht umkommen!« Sie wollte sich den zurückhaltenden Händen entwinden.

»Wo ist es?«, rief der junge Staatsanwalt.

»Im linken Flügel, im zweiten Stock«, jammerte das Mädchen, »um Gottes Barmherzigkeit willen, rettet es!«

Eine Leiter wurde angesetzt, und Heller stieg mit jugendlichem Eifer hinauf. Die Menge blickte staunend auf das Unternehmen des kräftigen, gewandten Mannes, der blitzschnell mit einer Axt die Sprossen hinaufgeflogen, den Fensterrahmen eingeschlagen und ebenso schnell im Zimmer verschwunden war. Die Flamme züngelte schon aus dem Fenster. Da, da ist er! Unter lautem Jubel stieg er mit dem geretteten, in Betten gehüllten Kind die schwankende Leiter hinab. Es war die höchste Zeit, einige Augenblicke später brach der ganze Flügel krachend zusammen.

Das junge Mädchen war die Erste, die den Retter des Kindes empfing. Sie sank vor ihm auf die Knie, stammelte »Dank, Dank!« und brach dann ohnmächtig zusammen.

Der junge Mann übergab das Kind einem herbeieilenden, weinenden Dienstmädchen, die freudig erschrocken ausrief »Es lebt!« und mit ihm davon stürzte.

Heller zog sich jetzt mit seinem Freund zurück, um all den Beifallsbezeigungen und Bewunderungen der Menge zu entgehen. Unter manchen Scherzen des Assessors schlugen sie den Weg zur Stadt ein. Natürlich fiel die Rede auch auf das junge Mädchen.

»Kanntest du sie?«, fragte Heller.

»Wie sollte ich nicht, ist sie doch die Perle der ganzen Stadt, das reizendste Kind der Umgegend, und ich muss mich bei der nächsten Visite sehr entschuldigen, dass ich so schonungslos zurückgerufen habe. Aber in solchen Momenten verliert auch der Besonnenste seine Glanzhandschuhe, mit denen er sonst alles zart und schonend berührt.«

»So sage mir doch lieber, wer sie ist«, fragte Heller ungeduldig.

»Die Tochter des Mannes, dem heute die Fabrik abbrannte«, war die Antwort.

»Dann ist sie die Schwester jenes Kindes das …«

»Das du vom Tode gerettet hast, sag es immerhin«, ergänzte der Assessor.

»Nein, durchaus nicht, sie hat keine Geschwister, und nur ihr gutes Herz kann sie zu dieser Handlungsweise getrieben haben. Einige halten sie dafür für eine Närrin, andere für einen Engel.«

»Sie ist das Letztere«, bemerkte Heller nachdenklich.

Zwei Tage darauf erhielt Heller eine Einladung von dem Fabrikbesitzer, und aus Interesse, die Tochter kennenzulernen, nahm er sie an. Er wurde höflich und zuvorkommend von Herrn Arnold empfangen, dessen weltmännische feine Bildung und freundliches Entgegenkommen auf den jungen Mann den günstigsten Eindruck machte. Der Fabrikbesitzer war ein großer, starker Mann, in seinem ganzen Wesen lag eine unbeugsame Ruhe ausgeprägt, die still und geräuschlos, aber mit eiserner Beharrlichkeit ihre Ziele verfolgt. Und doch lag auf diesem Gesicht, diesen vollen Zügen keine Härte, kein trockener, dürrer Geschäftseifer, eher etwas behaglich Weichliches, nur in den grauen, tief liegenden Augen würde ein schärferer Beobachter Verstocktheit, Trug und Bosheit darum gefunden haben, weil es selbst den gutmütig darüber hängenden, beinahe schläfrigen Wimpern nicht immer gelang, dieses unheimliche Feuer zu verbergen. Er war gegen alle, selbst gegen seine Untergebenen, höflich, er sagte selbst seine Befehle mit gelassener, tonloser Stimme, die mit der großen, stattlichen Persönlichkeit so wenig harmonierte, und doch vollzog man um so pünktlicher die gelispelten Anordnungen, weil man wusste, dass auf das geringste Versehen Entlassung folgte. Er führte ein großes Haus und war als gastfrei und freigebig in den ganzen Umgegend bekannt, er streute Hunderte mit vollen Händen aus und verschmähte es doch nicht, seinen Leuten den Lohn für eine selbst aus Krankheit versäumte Arbeitsstunde zu kürzen. Durch seine Freigebigkeit, seinen Aufwand war er in den Ruf eines fabelhaft reichen Mannes gekommen und tat jetzt um so mehr alles, was demselben Vorschub leisten konnte, da leise Zweifel an seinem Reichtum laut geworden waren.

Bald, nachdem der Fabrikbesitzer für die Rettung des Kindes seines Inspektors gedankt und dabei erwähnt hatte, dass Elfriede, seine Tochter, dieses Kind liebe und verzärtele, trat sie selbst ein. Das war nicht mehr das Mädchen jener Nacht mit den angstvoll verzerrten Zügen, sondern eine schöne, fesselnde Erscheinung. Eine leichte Blässe schien noch von den Eindrücken jenes schrecklichen Ereignisses über dem regelmäßigen Antlitz ausgegossen, und das Wilde, Leidenschaftliche ihres damaligen Erscheinens war einer sinnigen Ruhe gewichen. Die von breiten, schwarzen Flechten umrahmte Marmorstirn, die dunklen, von langen, seidenen Wimpern verhangenen Augen, die feine zart gebogene Nase und ihre eigentümliche und dennoch geschmackvolle Kleidung gaben ihrer ganzen Erscheinung einen südländischen Ton.

Elfriede errötete vor der straffen, kräftigen Gestalt Hellers, und die Erinnerung an sein unerschrockenes, kühnes Handeln schien sie noch ganz und mächtig zu beherrschen. Sie sagte ihm in den gewähltesten, herzgewinnendsten Worten ihren Dank und erzählte im Laufe der Unterhaltung, dass sowohl der Inspektor als auch der Vater beim Brand verreist gewesen, die Wärterin des Kindes leichtsinnig in die Stadt gegangen und das Kind allein gelassen habe. Da sei das Feuer ausgebrochen, die Wärterin mit der Nachricht zu ihr gestürzt, dass das Kind noch im Haus sei und in den Flammen umkommen müsse. »Ich weiß dann nicht, was ich getan hätte, nur das weiß ich«, fügte sie mit bedeutungsvollem Blick hinzu, »dass Sie das Kind gerettet haben.«

Heller sprach sich bewundernd über ihr tatkräftiges Mitleid, ihre Entschlossenheit aus. Wie dunkler Schatten flog es über das schöne Antlitz, und sie entgegnete erst nach einer Pause, als müsse sie nach Fassung ringen: »Es war meine Pflicht.«

Dem jungen Mann war das Benehmen Elfriedes entgangen, weil der Fabrikbesitzer seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen und ihm auf seine Äußerung entgegnet hatte, dass ihm viel mehr dieses Lob gebühre, und dass er dem Brand sein Schlimmstes genommen, den Tod eines Menschenlebens.

Heller lehnte das Lob bescheiden ab und suchte das Gespräch auf andere Gegenstände zu bringen. Der Fabrikbesitzer warf nur von Zeit zu Zeit mit seiner leisen, klanglosen Stimme einige humoristische Bemerkungen hin, die von einem viel bewegten, scharf blickenden Leben Zeugnis gaben, während die beiden jungen Herzen sich bald in eine alle Saiten des Gemüts und des Geistes berührende Unterhaltung verflochten fühlten. Als sie sich trennten, war es für sie entschieden, dass sie sich bald und öfter wiedersehen müssten.

Doch während der junge Staatsanwalt das Haus des Fabrikbesitzers immer eifriger besuchte und sich von Elfriede immer inniger angezogen fühlte, liefen wunderliche Gerüchte durch die kleine Stadt. Es hieß, dass das Feuer auf Veranlassung des Fabrikbesitzers gelegt worden war. Die anfangs nur leise, wie blind geboren, umhertastende öffentliche Meinung griff ihren Feind immer stärker an, man erwähnte seine schlechten Vermögensverhältnisse, die Eingeweihte genau kennen wollten, die hohe, sehr hohe Versicherung der Fabrik, das Vorhandensein geringer Vorräte, die Abwesenheit fast aller Leute, ja endlich wurde selbst die Verzweiflung der Tochter zur Unterstützung des Verdachtes ausgebeutet, sie müsse davon gewusst und sich entsetzt haben, dass ein Menschenleben dabei verloren gehen solle. Die Feuerversicherungsgesellschaft erhob Bedenken, und da mehrfache schriftliche Anschuldigungen bei der Staatsanwaltschaft einliefen, sah sich der junge Beamte zur Einleitung einer Voruntersuchung genötigt. Er kündigte es bedauernd dem Fabrikbesitzer an, der ruhig lächelnd entgegnete: »Sie kommen meinem Wunsch zuvor, ich wollte selbst darauf antragen, um das Gerede zum Schweigen zu bringen.«

Heller fühlte sich durch dieses Wort sichtlich erleichtert und übertrug das für ihn unmögliche Geschäft jenem Referendar, der am Abend des Brandes so bedeutungsvoll Wer weiß! gesagt und nun all seinen Scharfsinn entwickeln wollte, um sich die ersten Sporen zu verdienen.

Doch ergab die Untersuchung nicht die geringsten Anhaltspunkte zu einer Anklage. Keiner der Arbeiter wollte etwas Verdächtiges bemerkt haben, es war ein Sonntag gewesen, und darum waren nur die Wächter in der Fabrik geblieben. Der Inspektor, ein junger Witwer, war zu seiner Braut gereist, die er binnen wenigen Wochen zu heiraten gedachte, es war alles natürlich, alles erklärlich. Dazu sagten sowohl der Inspektor als auch die Wärterin aus, dass Elfriede sich immer des Kindes angenommen hatte, und fanden in ihrer Teilnahme nichts Befremdendes. Herr Arnold war bei seiner Vernehmung am ruhigsten. Freundlich und höflich gab er über alle Fragen Bescheid, legte seine Bücher vor, die von Kaufleuten geprüft wurden, und aus denen sich durchaus nicht sein Vermögensverfall herausstellte. Auch Elfriede hatte, allerdings bleich und zitternd, wie der junge Beamte bemerkt haben wollte, über die Vorgänge jener Nacht Auskunft gegeben und, als man sie gefragt, warum sie wegen des fremden Kindes so in Angst geschwebt habe, mit brennender Röte im Antlitz und bebenden Lippen zur Antwort gegeben: »Welche Frage! Ein Menschenleben!« Nur der Referendar konnte diesen Ausruf des Mitleids und der edlen Entrüstung missdeuten wollen, in Hellers und Berndts Augen wurde er zu einem neuen Glorienschein um ihr Haupt.

Elfriede ahnte wenig, in wie naher Berührung diese peinliche Angelegenheit mit dem jungen Mann stand, der auch in ihr Herz sich immer tiefer eingelebt hatte. Sie sah klopfenden Herzens seinem Besuch entgegen. Vielleicht blieb er ganz fort, wenn er erfahren würde, was man ihr und ihrem Vater angetan hatte. Ach, sie fühlte es jetzt, sie liebte ihn, sie durfte ihn nicht mehr verlieren, wollte sie nicht vollends elend sein.

Oft sagte sie tonlos für sich hin: »Jetzt, jetzt muss mir ein neuer Himmel aufgehen, wo …« Ein Tränenstrom erstickte ihr ferneres Selbstgespräch. Sie kannte das Amt des jungen Mannes nicht, auf ihre Erkundigung nach dem Retter des Kindes war er ihr als Dr. Heller bezeichnet worden, wie man ihn auch in der ganzen Stadt nannte, weil er erst seit Kurzem angekommen und sich überhaupt der Titel eines Staatsanwalts noch nicht eingebürgert hatte. Dazu hatte der Vater den jungen Mann gebeten, Elfriede seinen Beruf für die erste Zeit noch nicht bekannt zu machen, da sie geschont werden müsse, und er allein ihr diese Mitteilung auf die geeignetste Weise machen würde. Heller versprach darum, obwohl es ihm schwerfalle, Schweigen und dankte nochmals herzlich dem Vater für seine freundlichen Winke, der aber jeden Dank ablehnte und gutmütig lächelnd meinte: »Ich bin es der Ruhe meines Kindes schuldig.«

Welche Liebe für sein Kind sprach sich in dem Benehmen des Fabrikbesitzers aus, und doch war es Heller aufgefallen, dass sonst eine kalte, fast schneidend kalte Höflichkeit zwischen Tochter und Vater herrschte. Er hatte bemerkt, dass Arnold stets nur zögernd, fast furchtsam seinem Kind ein liebes Wort sagte, ihr eine Überraschung oder Freude bereitete, dass Elfriede auch gerade vor des Vaters Herzlichkeit am meisten zurückschreckte. Vielleicht fesselte ihn diese Seltsamkeit noch fester an das Haus. Ihm erschien sie auch als ein psychologisches Problem, das er lösen müsse.

Wie klopfte Elfriedes Herz, als der junge Doktor trotz ihrer Befürchtung wieder erschien, und wärmer als gewöhnlich hieß sie ihn willkommen.

Er sah ihre Erregtheit, sie wollte von jenem Vorfall sprechen, und ihre Lippen suchten vergeblich nach den rechten Worten, aber er, ihre Absicht ahnend, sagte herzlich: »Lassen Sie alles unerörtert. Zwischen uns soll sich der Staub des Alltagslebens nicht drängen!«

Wie sie auch versuchte, das Gespräch noch einmal auf diesen peinlichen Gegenstand zu lenken, er gab den Worten immer wieder eine andere Wendung. Elfriede war heute erregter als gewöhnlich. Oft blitzte ihr Auge bei den Worten des jungen Mannes im reinsten Feuer, dann erlosch es plötzlich, und ein Hauch tiefer Schwermut schien sich um ihre Seele zu breiten. Heller schob diese ihm ganz neue Erscheinung an dem Mädchen auf die unglückliche Vernehmung vor Gericht, aber diese springende Laune, diese wechselnde Stimmung, diese Schwermut blieb auch bei späteren Besuchen und wurde immer vorherrschender in Elfriedes Gemüt. Vergebens suchte er sie zu bekämpfen, da sie ihn mit Sorge für das reizende Geschöpf erfüllte, und doch sah er sie nur in ihren besseren Stunden, wo sie an seiner Seite den blassen Kopf in die weiße Hand stützte und ihre Augen wie festgebannt auf ihm ruhten. Er sah nicht ihr verzweifelndes Händeringen, ihr wildes Umherstürmen, nicht jenen Blick, der entsetzt beständig in einen Abgrund zu starren schien.

An die Stadtgerüchte, die noch immer nicht verstummen und zur Begründung ihres Verdachts sogar seinen lichten Engel beflecken wollten, indem sie ihr einsiedlerisches, zurückgezogenes Leben als ein Bewusstsein ihrer Schuld oder wenigstens Mitschuld auslegten, kehrte sich Heller wenig. Kannten diese Menschen Elfriede? Ihre Seele? Er allein stand ihr nahe, unter seiner Berührung zuckte diese zarte Sinnblume scheu in sich zusammen. Vielleicht war auch ein dunkler Punkt in dem Leben ihres Vaters, der sie beängstigte und sie vor seiner Liebe zurückscheuen ließ, aber wenn Elfriede nur rein und unschuldig, dann war alles gut!

Der junge Staatsanwalt warb, sobald er sich Elfriedes Liebe sicher wusste, bei dem Fabrikbesitzer um die Hand seiner Tochter, legte ihm dar, dass er vermögend genug sei, seiner künftigen Gattin eine behagliche, ja glänzende Existenz zu bieten und umsomehr seine Einwilligung hoffe, da er sich von Elfriede geliebt glaube.

»Sind Sie so sicher?«, fragte Herr Arnold. »Nun sprechen Sie noch mit Elfriede.« Damit reichte er dem jungen Mann die Hand. »Meine Einwilligung haben Sie.«

»Sie geben mir die Hand Ihrer Tochter!«, rief Heller freudig bewegt, der Widerstand gefürchtet hatte, »o, wüssten Sie, wie glücklich Sie mich machen!«

»Aber ich muss noch heute verreisen und kann nicht mit Elfriede sprechen«, begann der Fabrikbesitzer von Neuem, »und bitte Sie daher, bei Elfriede mit dem heutigen Gespräch zurückzuhalten, ich will sie überraschen. Nicht wahr, Sie gönnen mir diese Freude für mein einziges, geliebtes Kind?«

Was konnte Heller tun, als freudetrunken zusagen? Aber sehen musste er wenigstens den Engel, den er bald für immer sein nennen durfte, und eilte schon am anderen Tag zu Elfriede. Er fand sie in melancholischer Stimmung, Tränen standen ihr noch im Auge, und als er nach der Ursache ihres Schmerzes fragte, gestand sie ihm, dass sie um seinetwillen geweint habe.

»Und weshalb?«, fragte er freudig bewegt.

»Weil wir uns trennen müssen, Bernhard, für immer trennen!« Sie nannte ihn heute zum ersten Mal vertraulich bei seinem Taufnamen.

»Trennen? Wie ist das möglich?«, entgegnete Heller. »Uns kann und wird nichts mehr trennen!« Innig wollte er Elfriede in seine Arme schließen.

»Doch, Bernhard, meide mich, ehe es zu spät ist!«, entgegnete sie abwehrend. »Ich hätte dich nicht an mich ketten, dich von mir stoßen sollen. Ich tat es nicht, ich war zu schwach, weil mir zum ersten Mal die Liebe im Herzen auftauchte, aber jetzt muss es sein, meide mich, Bernhard, um deiner und meiner Ruhe willen.« Aus ihren Augen drang ein Blick wie der des todwunden Hirsches, der zusammenbrechen will, und ihre bleichen Lippen pressten sich wild zusammen.

»Elfriede! Was ist geschehen? Sei ruhig!«, bat jetzt Bernhard, »so, lass uns setzen und höre mich gelassen an.«

Sie folgte mechanisch, ihre Seele schien in dunkle Träumereien verloren.

»Dich hat die Anklage so tief verletzt, und ich ehre deine Zartheit, aber bist du mein Weib«, fuhr er wärmer werdend fort, »dann wagt es niemand mehr, nur mit dem leisesten Hauch dein Herz, deinen Ruf zu vergiften. Ach Elfriede, wüsstest du, wie glücklich ich bin, wie nahe wir dem Ziel sind!« Er vergaß in der Wärme seines Ergusses sein Versprechen. »Ich will dir nur vertrauen, damit du lächelst und wieder Sonnenschein über dein Herz gleitet. Bald bist du mein, ganz mein, dein Vater willigt in unsere Verbindung. So lächle doch, du schüttelst so wehmütig das Haupt. Hat meine innige Liebe das verdient? Liebst du mich nicht?«

»Mehr als mein Leben!«, rief Elfriede.

»Dann ist alles gut«, entgegnete Heller sichtlich erleichtert. »Sei heiter! Du weißt gar nicht, was du für einen Mann erhältst, einen gar wichtigen, und bist du erst meine Frau, dann ruhst du sicher wie unter des Adlers Flügeln, die Frau eines Staatsanwalts wird man nicht zum zweiten Mal anklagen wollen.«

Elfriede hatte, in ihre düsteren Träumereien verloren, anfangs auf den Zuspruch nicht geachtet. Erst bei seinen letzten Worten wurde sie aufmerksam und zuckte dann, wie vom Blitz getroffen zusammen. Die Wangen wurden noch bleicher als gewöhnlich, ihr Auge blickte starr, und ein kalter Schauer schien durch ihren Körper zu rieseln.

Plötzlich zuckte es in ihr auf, und sie rief in wilder Hast: »Die Frau eines Staatsanwalts? Was sagtest du?« Und in steigender Erregung fuhr sie fort: »O, das ist ein Wink des Himmels, dass ich endlich der Qualen ledig werden soll, der Qualen, die mich martern und zermalmen.« Ein Tränenstrom brach unaufhaltsam aus ihren dunklen Augen.

»Was ist dir?«, rief der junge Mann beängstigt. »Du sprichst ja wirr und verworren, fasse dich, ich bin ja bei dir, dein Verlobter, der dich schützt und dein gequältes Herz zur Ruhe bringen will.«

»O, das sollst du!«, rief sie verzweifelnd, »mein Herz in Ruhe wiegen, klage mich an, mich, die du liebst!«

»Mädchen, du redest irre!«, beschwichtigte Heller, »es klagt dich niemand an, ich schütze dich!«

»Du mich schützen?«, rief sie wie entsetzt, »du, der das Verbrechen aufdecken soll? Klage mich an, der Brandstiftung! Ich, ich, bin schuldig!«

»Lästere nicht, Elfriede!«

»Lästern?«, entgegnete Elfriede, ruhiger werdend, »Wahrheit ist es, bitter vernichtende Wahrheit. Weil ich das Verbrechen begangen habe, in jener schwarzen Stunde, hat es mir das Herz zerfressen, mich vernichtet, und ich fühle es, auch dich reiße ich mit in den Abgrund.«

Bernhard warf sich erschüttert auf einen Sessel und barg sein Gesicht in den Händen.

»Höre mich an, Bernhard, vielleicht hast du dann noch eine Träne des Mitleids für mich«, begann jetzt Elfriede, deren frühere Verzweiflung einer eisigen Ruhe gewichen war.

Und sie erzählte: »Meine Mutter starb früh, ich lebte mir selbst überlassen. Mein Vater gewährte jeden meiner Wünsche, er liebte mich nach seiner Weise. Nie griff er liebevoll sorgend in mein Seelenleben ein, nie wurde meine Bildung eine geregelte. Ich trieb nur das, wozu mich Neigung und Laune zogen, ich las in meinen Mußestunden Romane auf Romane, bis ich dem einen als ein fantastisches Mädchen galt, dem anderen als eine reich begabte Natur … was weiß ich! Da bekamen wir einen Hauslehrer. Er kam eben von der Universität und war noch voll jugendlicher Begeisterung für alles Große und Schöne. Er gab mir die alten Klassiker in die Hand, und mit Begierde ergriff ich diese Lektüre. Der junge Mann schwärmte mit dem Kind für die Heroen des Altertums und weckte in mir eine solche Begeisterung für diese großen Männer und großen Taten, dass ich nichts sehnlicher wünschte, als eine Römerin zu sein. Diese Eindrücke, die ich durch spätere Lektüre sorgfältig pflegte, wurzelten so tief in meiner Seele, dass sie mir bis heute geblieben sind.

Mein Vater kannte diese Begeisterung für das Altertum, und mich schauert, er hat sie schrecklich auszubeuten gewusst. Er klagte in neuester Zeit fortwährend über Verluste, dass er zugrunde gehen und mit mir auf seine alten Tage ins Elend wandern müsse. ›Nur eins‹, fuhr er dann fort, ›könnte mich retten: das Abbrennen der Fabrik. Ich darf es nicht tun, aber wenn ich einen Freund hätte, der mir diesen Dienst erwiese, auf den Knien würde ich ihm danken. Aber siehst du, solche Männer gibt es heute nicht mehr, nur in deinem klassischen Altertum opferten sich Freunde für Freunde, Eltern für Kinder, Kinder für Eltern, damit ist es vorbei, und dein Vater muss ins Elend wandern.‹

Dämonisch erfasste es mich, ich rief aus: ›Vorbei, Vater? Gewiss nicht, ich fühle die Kraft in mir, für dich das größte Opfer zu bringen, aber was du forderst, ist ein Verbrechen.‹

›Ich fordere nichts, mein Kind«, entgegnete er sanft und ruhig. »Ein Verbrechen, meinst du? Das wüsste ich nicht, dieser Brand schadet niemand, die Feuerversicherungsgesellschaft ist keine einzelne Person, die es empfindlich trifft, was willst du? Im Gegenteil, der Neubau würde Tausenden zum Segen gereichen, die dabei Verdienst und Arbeit fänden, während sie jetzt am Hungertuch nagen. Doch, ich verlange nichts von dir, von dir nichts, deine Schultern sind dafür zu zart, du bist ein Mädchen.‹ Der abgeschossene Pfeil traf, ich Unglückselige wollte stark, ein Mann sein. Und da mein Vater mit dämonischer Geschicklichkeit mein Gewissen täglich mehr einzuschläfern verstand, vollbrachte ich jene Tat, von der sich meine Seele jetzt schaudernd wegwendet.«

Bei den letzten, krampfhaft herausgepressten Worten brach Elfriede erschüttert zusammen. Mit steigender Erregung und klopfender Brust hatte Heller ihrer Erzählung zugehört. So war es doch Wahrheit, eine grausige Wahrheit, wie der Medusenkopf, die plötzlich all seine Blütenträume erstarren ließ und den schönen Glauben an Elfriede schonungslos zerschlug. Schaudernd wandte er sich von ihr, der Unseligen, die einem düsteren Geschick verfallen war. Keines Wortes mächtig, wollte er ihr zum Abschied die Hand reichen. Sie schrak bei seiner Annäherung auf, gerade sein Blick des innigsten Mitleids traf sie wie ein Dolchstoß, und in wilder Verzweiflung ihn mit den Händen abwehrend stürzte sie in ein anderes Zimmer.

Am folgenden Tag klagte sich Elfriede selbst des Verbrechens der Brandstiftung an und wurde mit ihrem eben von der Reise zurückgekehrten Vater verhaftet.

Das war ein Triumphgesang in der kleinen Stadt, das Volk war stolz, dass seine Stimme wieder einmal Gottes Stimme gewesen war.

Heller legte, zu tief erschüttert von dem düsteren Ereignis, sofort sein Amt nieder und kehrte in die Residenz zurück, um dort in wissenschaftlichen Studien Vergessenheit zu finden, und errang sich endlich eine Anstellung bei der Universität. Sein Freund, Assessor Berndt, der vor Kurzem die Stelle eines Rechtsanwalts erhalten hatte, versprach, Elfriedes Verteidigung zu übernehmen und alle seine Beredsamkeit aufzubieten, ihr Los zu mildern. Elfriede dagegen wusste mit Aufopferung und seltener Besonnenheit von ihrem Vater jeden Verdacht der Teilnahme abzuwälzen, dass er freigesprochen, sie selbst aber zu fünfjähriger Arbeitsstrafe verurteilt wurde. Sie trat sie nicht an, da sie Gift nahm, das ihr der Vater selbst verschafft haben sollte.

Heller hatte sein psychologisches Problem. Es war mit seinem ganzen Leben erkauft.