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Oberhessisches Sagenbuch Teil 1

Oberhessisches Sagenbuch
Aus dem Volksmund gesammelt von Theodor Bindewald
Verlag von Heyder und Zimmer, Frankfurt a. M., 1873

Um alles, menschlichen Sinnen Ungewöhnliche, was die Natur eines Landdtrichs besitzt, oder wessen ihn die Geschichte gemahnt, sammelt sich ein Dunst von Sage und Lied, wie sich die Ferne des Himmels blau anlässt und zarter, feiner Staub um Obst und Blumen setzt.

Gebrüder Grimm: Vorrede zu den deutschen Sagen, Seite VIII

Vorwort

Indem das oberhessische Sagenbuch in dieser sehr vermehrten Einzelausgabe einem weiteren Leserkreis zugänglich gemacht wird, scheint es dem Verfasser desselben wohlgetan, seinem Werkchen einige Worte als Geleit mit auf den Weg zu geben.

Die vorliegende Sammlung, das glaubt er zuerst hervorheben zu dürfen, ist eine durchaus selbstständige.

Zwar kann sich Hessen im Vergleich mit anderen deutschen Landstrichen seit Jahrhunderten einer ganz besonders liebevollen Erforschung und Pflege seiner Geschichte und seines Volkstums rühmen, denn ein darauf bezüglicher Stoff von bedeutendem Umfang hat sich in einer Menge wertvoller Schriften angehäuft. Obendrein aber hat namentlich das Gebiet der hessischen Sagen und Märchen durch die mannigfachen Beweisstellen, welche die Gebrüder Grimm, diese ehrwürdigen Altmeister der germanistischen Studien, für die deutsche Mythologie daraus entnahmen, wahrhaft klassischen Ruf erlangt. Auf dem von ihnen gelegten Grund haben berufene Hände rüstig weiter gebaut. Es stellten J. W. Wolf (Hessische Sagen, Göttingen 1853) und Karl Lynker (Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen, Kassel 1860) sowie Philipp Hoffmeister (Hessische Volksdichtung in Sagen und Märchen, Schwänken und Schnurren etc. Marburg 1869) sehr verdienstliche Fortsetzungen und Bearbeitungen auf. Ohne diese jedoch irgendwie in seinen Bereich zu ziehen, unternahm der Verfasser die gegenwärtige Sammlung, welche darum also nichts enthält, was in dieser Weise von anderen schon gefunden oder zum Druck gekommen wäre.

Allerdings sind von den 220 Sagen dieses Buches im 12. Band des Archivs für die Hessische Geschichte und Altertumskunde (Darmstadt 1869) durch den Verfasser bereits unter dem Titel Neue Sammlung von Volkssagen aus dem Vogelsberg und seiner nächsten Umgebung veröffentlicht worden. Er musste die bedauerliche Bemerkung machen, dass dieselben in den Schriften des Historischen Vereins für das Großherzogtum Hessen, die nur dessen Mitgliedern zuteil werden, gleich manch anderem »schätzbaren Material« fast wie vergraben waren, und auf dem größeren Büchermarkt und selbst für die Leser seiner engeren Heimat unbekannt blieben.

Diese von ihm weder geahnte, noch gewollte Tatsache sowie das Zureden kompetenter Freunde bewogen ihn darum diese neue Ausgabe zu gestalten , zu der er sich um so bereitwilliger verstand, als er nicht bloß im Einzelnen manches erweitern und verbessern, sondern auch nicht weniger als 48 von ihm neu aufgezeichnete Volkssagen hinzufügen konnte, wodurch inhaltlich die Abrundung der Sammlung um ein Bedeutendes gewonnen hat. Damit soll freilich nicht gesagt sein, dass nunmehr der Born der uralt volkstümlichen Überlieferung in Oberhessen völlig ausgeschöpft sei. Im Gegenteil, der Verfasser hat oftmals die erfreuliche Wahrnehmung machen dürfen, wie sehr Goethe recht hat, wenn er sagt: »So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig; man muss sie für fertig erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das Mögliche getan hat.«

Letzteres glaubt der Verfasser wenigstens für sich in Anspruch nehmen zu dürfen, möge man sonst über seine Gabe urteilen, wie man will. Es ist verhältnismäßig noch nicht lange her, seit ihm Auge und Verständnis für den in seiner Umgebung noch in voller Naivität lebendig vorhandenen, aber, wie die Dinge heutzutage liegen, auch in immer schnellerem Schwinden begriffenen Sagenreichtum seiner Heimat geöffnet wurde. Man vergesse darum ja nicht, dass alle diese Erzählungen einem absterbenden Volksleben angehören und durch sie alle die schmerzliche Klage hindurchgeht: »Wer fragt jetzt noch viel nach den alten Geschichten?«

Trotzdem, wenn der Leser sich die geringe Mühe nehmen und eine Spezialkarte der Großherzoglichen Provinz Oberhessen und insbesondere des Vogelsbergs aufschlagen und die im Buch erwähnten Örtlichkeiten mit Rotstift unterstreichen wollte, er würde gewiss sehr erstaunen, wie äußerst fruchtbar der in Untersuchung genommene Boden ist, dem all diese wilden Sagenblumen entstammen. Und dabei lebt der Verfasser noch der wohlbegründeten Überzeugung gar vieles übersehen zu haben, was hier und dort oder vielleicht vor seinen Füßen verborgen blüht, zumal er nur gelegentlich, ja so zu sagen mehr vom Zufall und günstigen Geschick als von bestimmter Absicht geleitet und von der Beihilfe verständnisvoller Freunde wenig oder fast gar nicht unterstützt, der ihm so werten Sagenforschung liebend nachgehen könnte.

Der Verfasser darf nach dem Gesagten seine Sammlung wohl ohne Überheblichkeit als eine selbstständige und für die ihr gestellten Grenzen gewiss auch reichhaltige bezeichnen.

Er möchte aber noch auf ein Drittes hindeuten, nämlich, dass er sich überall bemüht hat, der Sage ihre ursprüngliche Färbung und das ihr eigentümliche Gepräge des Volksmundes zu belassen, aus welchem er sie fast wörtlich und selbst dialektisch genau wiederzugeben unternahm. Denn die Sage ist einem Fossil oder einer alten Münze gleich, die man in der Erde findet. Man hat nicht bloß ihren Fundort zu untersuchen und ihren edlen Rost zu respektieren, man darf sie auch nicht scheuern oder vergolden wollen. Kein einsichtiger Leser wird sich darum von dem »etwas erdigen Beigeschmack«, wie es Justus Möser nennt, fremd angemutet fühlen, der nun einmal naturgemäß dem Werk anhaftet und in mancherlei altem Wort oder nach jetziger Anschauung ungewöhnlicher und derber Redewendung sich sich kundgibt. Dafür ist der Inhalt ein Stück alter, längst vergangener Zeit, die aus solch einem historisch treuen Spiegelbild in unsere veränderten Tage noch hereinschaut, und auf diese Weise zugleich einen wissenschaftlichen Beitrag zur Charakteristik des deutschen Volksaberglaubens und der Religions- und Kulturgeschichte der germanischen Stämme überhaupt und des Chattischen insbesondere zu bieten vermag.

In einem Brief vom 25. Januar 1844 an den verehrten Mann, dem dieses Büchlein gewidmet ist, schrieb einst Jakob Grimm: »In Zeit von 10 – 20 Jahren wird die deutsche Mythologie eine ganz andere Gestalt gewonnen haben, wenn man fortfährt, wie man endlich beginnt, die Volkssagen, worin Unglaubliches steckt, treu und ausführlich zu sammeln. Treiben Sie doch zu Vogelsberger Sammlungen. Wer zu suchen weiß, ist des Findens sicher an Orten, wo andere leer ausgingen.«

Es freut den Verfasser ungemein, diesen Wunsch des großen Toten, der sein hessisches Stammland bis in das höchste Greisenalter hinein mit der unverrosteten Liebe der Jugend umfangen hat, noch jetzt, bevor es zu spät ist, erfüllen zu können und an seinem Teil die deutsche Sagenforschung vervollständigen zu helfen, die nach den verschiedensten Seiten hin ein noch gar lange nicht abgeerntetes Feld ist und Fragen von unabsehbarer Tragweite ihrer Lösung entgegenführt. Nach dem Vorgang der Gebrüder Grimm hat ja das Sammeln der Sagen und Märchen des deutschen Volkes niemals still gestanden. Karl Müllenhoff sammelte 1845 die Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg; Adalbert Kuhn 1843 die Märkischen Sagen und Märchen und 1859 die Westfälischen Sagen, Gebräuche und Märchen; Kuhn und W. Schwartz 1848 die Norddeutschen Sagen, Märchen und Gebräuche; J. W. Wolf 1843 die Niederländischen Sagen; Bernhard Baader die Badischen; F. Panzer die Bayrischen; K. von Leoprechting die des Lechrains; F. Schönwerth die der Oberyfalz; W. Börner die des Orlagaus; Reusch des Preußischen Samlands; Wöste der Grafschaft Mark; Hermann Harrys die Niedersachsens; I. F. Vonbun des Vorarlbergs; Emil Sommer und Ludwig Bechstein die Thüringens, Frankens und Österreichs; Adalbert von Herrlein die des Spessart; Ignaz Zingerle und I. N. von Alpenburg die Tirols; Th. Bernaleken die der Alpen und Österreichs; E. L. Rochholz die der Schweiz; L. Curtze die Waldecks; I. H. Schmitz die der Eifel: Joseph Haltrich und F. Müller die Siebenbürgens; E. Meier und Anton Bierlinger die Schwabens; H. Pröhle die des Harzes; E. Deeke die Lübechs; A. Stöber die des Elsass; I. V. Grohmann die Böhmens; K. Haupt die der Lausitz … Der vielnamigen Schar all dieser Männer reiht sich mit der gegenwärtigen Sammlung auch der Verfasser in der bescheidenen Hoffnung ein, für Oberhessen und insbesondere den Vogelsherg das ihm Erreichbare getan zu haben.

Und so folge denn nun der Leser getrosten Mutes dem Erzähler zu den aufragenden Bergen und Felsen seiner Heimat, in deren Schoß die alten Heidengötter verwunschen noch hausen, zu den heiligen Brunnen, aus deren Tiefe Frau Holle und manche schneeschloßenweiße Jungfrau geheimnisvoll aufsteigt, zu den vergessenen Malstätten, über welche der wilde Jäger mit seinem tollen Heer dahinsaust, zu den verrufenen Kreuzwegen, wo der Teufel, der Werwolf oder ein Kobold den Wanderer schreckst; zu den einsamen Trümmern ehemals stolzer Schlösser und zerfallener Kirchen und Kapellen, in denen ruhelos die Geister umgehen und zu den Schäfern und Sonntagskindern, die auf der grünen Hutweide im Waldesschatten oder über untergegangenen Dörfern die Wunderblumen erblicken, die Geldfeuerchen leuchten sehen und unverhofftes Glück finden durch der überirdisehen Gunst.

Vielleicht, dass der schlichte Strauß dieser sonst unausbleiblicher Vergessenheit anheimfallenden Volksmären manchen der Leser erfreut oder dass mancher sie nutzt in seiner Weise. Wenn nur der Verfasser das eine damit erreicht, was ihn zum Suchen veranlasst und nunmehr zur Veröffentlichung getrieben hat, dass auch durch sein Büchlein einem Fremden die Heimat, sein teures Hessen, besser bekannt, dem Einheimischen aber um so ehrwürdiger und lieber werde!

Groß-Eichen, bei Grünberg in Oberhessen, in der heiligen Adventszeit 1872
Theodor Bindewald,
lutherischer Pfarrer

I.

Götter und heilige Berge

Drei Männer im Geiselstein

Der Geiselstein mit seinen zackigen Felsen ragt einsam auf der Heide im hohen Oberwald empor, und von ihm erzählt man allerlei Geschichten. Große Reichtümer liegen unter ihm begraben, die zeigt alle sieben Jahre ein blaues Flämmchen an. Die Wiese vor ihm heißt die Goldwiese und der Born darauf der Goldborn. Seit alten Zeiten ist es dort nicht geheuer, und der wilde Jäger lässt sich oft spüren.

Einem alten Kohlenbrenner begegnete da einmal etwas gar Merkwürdiges. Der Mann stand nämlich an seinem Meiler und hatte seine Arbeit. Es war in der Mittagszeit, und er schaute zufällig zu dem Geiselstein. Da stieg mitten aus dem Felsen ein ganz dünner feiner Rauch auf. Das nahm ihn Wunder, und er machte sich herzu, zu sehen, was es wäre. Als er vor die Felsen kam, war eine weite Höhle da, die er all sein Lebtag noch nie gesehen hatte. Darin war ein großes Feuer angemacht, um welches drei uralte Männer mit langen schneeschloßenweißen Bärten lagen und in gar seltsamer altmodischer Kleidung.

Der Kohlenbrenner dachte nichts Arges und hielt die Alten für fahrende Leute, wie sie im Vogelsberg damals gar dick (mundartlich für oft oder häufig) umzogen, und rief ihnen zu: »Nehmt Euch in Acht, dass Ihr nicht gefasst werdet, hier habt Ihr nichts zu tun!«

Aber die Alten starrten ihn ganz ungläubig an, sprachen kein Wort, schüttelten nur ihre kahlen Köpfe – und alles war in einem Nu weg, wie geblasen. Mein Mann stand vor dem Geiselstein, der sah aus, wie er immer ausgesehen, und wusste nicht, ob er gewacht oder geträumt hatte.