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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Skalpjäger – Der Feind

Thomas Mayne Reid
Die Skalpjäger

Dritter Teil
Zwölftes Kapitel

Ich musste eine Stunde oder noch länger geschlafen haben. Wenn meine Träume Wirklichkeit gewesen wären, so müssten sie das Maß eines Jahrhunderts erfüllt haben.

Endlich durchschauerte mich die raue Morgenluft und weckte mich. Der Mond war untergegangen, denn ich entsann mich, dass er am Rand des Horizonts gewesen war, als ich ihn das letzte Mal sah.

Dennoch war es keineswegs finster, sodass ich eine ziemliche Strecke weit durch die Nachtdünste sehen konnte.

Vielleicht bricht der Tag an, dachte ich und wendete mein Gesicht nach Osten.

Es war, wie ich vermutet hatte. Der östliche Himmel war mit roten Streifen überzogen – es war Morgen.

Ich wusste, dass es Seguins Absicht war, beizeiten aufzubrechen und wollte eben den Mut sammeln, mich zu erheben, als Stimmen an mein Ohr drangen. Es waren kurze Ausrufe und Hufschläge auf dem Prärierasen.

Sie sind aufgestanden und schicken sich zur Weiterreise an, dachte ich, und mit diesem Gedanken sprang ich auf und begann dem Lager zuzueilen.

Ich hatte kaum zehn Schritte gemacht, als ich bemerkte, dass die Stimmen, welche ich hörte, hinter mir waren.

Ich blieb stehen und horchte.

Ja, es unterlag keinem Zweifel, dass ich mich von ihnen entfernte.

Ich habe mich im Weg zum Lager geirrt, dachte ich und trat an den Rand der Barranca, um mich davon zu überzeugen.

Wie groß war mein Erstaunen. Als ich fand, dass ich zur richtigen Seite gegangen war und die Töne aus der entgegengesetzten Richtung kamen.

Mein erster Gedanke war, dass der Zug an mir vorübergegangen sei und seinen Weg fortsetzte.

Aber nein … Seguin würde nicht … o, er hat eine Abteilung ausgesendet, um mich zu suchen. Sie sind es!

Ich rief: »Holla!«, um sie wissen zu lassen, wo ich war. Es erfolgte keine Antwort, und ich schrie von Neuem und lauter als vorher. Plötzlich hörten die Töne auf und ich wusste, dass die Reiter horchten und rief noch einmal, so laut ich konnte. Dann konnte ich ein Murmeln von vielen Stimmen und den Hufschlag von auf mich zu galoppierenden Pferden hören.

Ich wunderte mich, dass keiner von ihnen mein Signal beantwortet hatte, aber meine Verwunderung verwandelte sich in Bestürzung, als ich bemerkte, dass die Herannahenden auf der anderen Seite der Barranca waren!

Ehe ich mich von meiner Bestürzung erholen konnte, waren sie mir gegenüber und hielten am Rand des Lagers. Sie waren noch immer um dreihundert Schritte – die Weite der Schlucht – entfernt, aber ich konnte sie durch den dünnen Nebel deutlich sehen.

Es schienen im ganzen Hundert Reiter zu sein und ihre langen Speere, ihre befiederten Köpfe und halb nackten Körper verkündeten mir auf den ersten Blick, dass sie Indianer waren!

Ich hielt mich nicht weiter mit Fragen auf, sondern lief in größter Eile dem Lager zu. Ich konnte sehen, dass die Reiter auf der entgegengesetzten Seite in einem langsamen Galopp mit mir Schritt hielten.

Als ich die Quelle erreichte, sah ich die Jäger überrascht in ihre Sättel springen. Seguin war mit einem anderen am äußeren Rand hinausgegangen und blickte auf den Feind. Sie hatten an keinen sofortigen Rückzug gedacht, da der Feind, welcher den Vorteil des Lichts besaß, bereits unsere Stärke erkannt hatte.

Obwohl die feindlichen Scharen nur durch eine Dreihundert Schritt weite Schlucht getrennt waren, mussten doch zwanzig Meilen durchmessen werden, ehe sie einander im Kampf begegnen konnten. Aus diesem Grund fühlten sich Seguin und die Jäger jetzt sicher und es wurde schnell beschlossen, zu bleiben, wo wir waren, bis wir erkannt hatten, wer und was unsere Gegner sein mochten.

Sie hatten am gegenüberliegenden Rand der Schlucht haltgemacht und blickten in ihren Sätteln sitzend herüber.

Unsere Erscheinung schien sie in Verwirrung zu setzen. Es war noch zu dunkel, als dass sie unsere Gesichtsfarbe hätten unterscheiden können. Bald wurde es jedoch heller, unsere eigentümliche Kleidung und Ausrüstung wurde erkannt und ein wildes Geschrei – der Kriegsruf der Navajo – erschallte über den Abgrund.

»Es ist Dacomas Abteilung«, rief eine Stimme. »Sie hat die falsche Seite der Schlucht genommen.«

»Nein«, rief ein anderer, »sie sind ihrer zu wenige, als dass es Dacomas Leute sein könnten. Es sind nicht mehr als hundert.«

Vielleicht hat die Flut die Übrigen mitgenommen«, meinte derjenige, welcher zuerst gesprochen hatte.

»Pah! Wie hätten sie unsere Fährte, die so breit ist wie ein Wagengleis, verfehlen können? Sie können es nicht sein, nein!«

»Wer denn? Es sind die Navajo, ich könnte ihr Kläffen im Schlaf erkennen.«

»Die dort sind Häuptlinge«, sagte Rube, der in diesem Augenblick herbeiritt. »Schaut, dort ist das alte Stinktier selbst auf dem Schecken.«

»Meint Ihr, dass sie es sind, Rube?«, fragte Seguin.

»Sicher wie ein Schuss, Cap’tain.«

»Aber wo sind die Übrigen von der Schar? Das sind nicht alle.

»Sie können nicht weit sein. Still, ich höre sie kommen.«

»Dort ist eine Menge. Schaut, Burschen, schaut!«

Durch den sich jetzt verziehenden Nebel sah man eine dunkle Reitermasse auf der entgegengesetzten Seite herankommen. Sie näherten sich uns unter Geschrei und Ausrufungen, als ob sie Vieh trieben.

Es war so. Als sich der Nebel hob, konnten wir eine Herde von Pferden, Hornvieh und Schafen sehen, welche die Ebene weit und breit bedeckte. Hinter diesen ritten Indianer, welche hin und her galoppierten, die Pferde mit ihren Sporen stachelten und vorwärts drängten.

»Gott, welche Beute!«, rief einer von den Jägern.

»Ja das sind die Burschen, welche etwas bei ihrem Zug gewonnen haben. Wir kommen ebenso leer, wie wir ausgezogen sind zurück. Pah!«

Ich war mit dem Satteln meines Pferdes beschäftigt gewesen und kam in diesem Augenblick vorwärts.

Mein Auge ruhte weder auf den Indianern noch auf dem erbeuteten Vieh. Ein anderer Gegenstand zog meine Blicke an und ließ mir das Blut in meinem Herzen erstarren.

Fern im Hintergrund der herannahenden Herde sah ich eine kleine, von den Übrigen gesonderte Schar. Ihre hellen im Wind flatternden Kleider verkündeten mir, dass sie keine Indianer waren. Es waren Frauen! Es waren Gefangene!

Im Ganzen schienen es etwa zwanzig zu sein; aber meine Gefühle waren von der Art, dass ich ihre Zahl nicht beachtete. Ich sah, dass sie auf Pferden saßen und eine jede von ihnen durch einen neben ihr reitenden Indianer bewacht wurde. Mit klopfendem Herzen ließ ich mein Auge von einem Mitglied der Gruppe zum anderen gleiten. Die Entfernung war jedoch zu groß, um ihre Züge unterscheiden zu können.

Ich wendete mich zum Anführer. Er stand mit dem Fernglas am Auge da. Ich sah ihn erschrecken, seine Wange erbleichte plötzlich, seine Lippen erbebten krampfhaft, und das Teleskop fiel zu Boden.

Er schwankte mit verstörten Mienen zurück und rief: »O Gott! O Gott! Jetzt hast du mich geschlagen!«

Ich erhob das Fernrohr, um mich selbst zu überzeugen. Dessen bedurfte es aber nicht. Als ich es an das Auge brachte, erblickte ich ein an der entgegengesetzten Seite laufendes Tier! Ich hielt das Glas auf die Gefangenen und im nächsten Augenblick beobachtete ich durch dasselbe das Gesicht meiner Verlobten.

Sie schien so nahe zu sein, dass ich mich kaum enthalten konnte, ihr zuzurufen. Ich unterschied ihre bleichen schönen Züge, ihre Augen waren vom Weinen geschwollen, ihr reiches goldenes Haar hing aufgelöst über ihre Schultern und reichte bis an die Beine ihres Pferdes. Sie war mit einer Serape bedeckt, und ein junger Indianer ritt in der Kleidung eines mexikanischen Husaren neben ihr.

Ich sah auf keine von den Übrigen, obwohl ein Blick mir zeigte, dass ihre Mutter sich in der nachfolgenden Reihe von Gefangenen befand.

Die Herde war bald an uns vorüber und die Frauen mit ihren Wächtern kamen uns gegenüber an. Die Gefangenen wurden auf die Prärie zurückgeführt, während die Krieger vorwärts zu der Stelle ritten, wo ihre Kameraden am Rand der Barranca haltgemacht hatten.

Es war jetzt heller Tag. Der Nebel hatte sich verzogen, und die feindlichen Scharen blickten sich einander über den Abgrund hinweg an.