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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Skalpjäger – Adele

Thomas Mayne Reid
Die Skalpjäger

Dritter Teil
Achtes Kapitel

Adele

Wir gingen auf das große Gebäude zu, umringten es und machten halt. Die Greise waren immer noch auf dem Dach, wo sie sich an die Brustwehr hielten. Sie waren erschrocken und zitterten wie Kinder.

»Fürchtet uns nicht – wir sind Freunde!«. rief Seguin in einer mir fremdartigen Sprache, indem er ihnen Zeichen machte.

Seine Stimme wurde von dem noch immer andauernden Kreischen und Geschrei übertäubt.

Er wiederholte die Worte und gab das Zeichen auf nachdruckvolle Weise. Die alten Männer drängten sich an den Rand des Daches. Unter ihnen befand sich einer, der sich von ihnen unterschied. Sein schneeweißes Haar reichte bis unter den Gürtel, glänzende Zierraten hingen über seine Ohren und seine Brust herab. Er war in weiße Gewänder gekleidet. Er schien ein Häuptling zu sein, denn die Übrigen gehorchten ihm. Er gab ein Signal mit seinen Händen, und das Geschrei legte sich. Er trat an die Brüstung vor, als ob er uns anreden wollte.

»Amigos, Amigos!«, rief er in spanischer Sprache.

»Ja, ja, wir sind Freunde!«, erwiderte Seguin in derselben Sprache. »Fürchtet uns nicht. Wir kommen nicht, um euch zu beschädigen.«

»Warum solltet ihr uns beschädigen? Wir sind in Frieden mit den weißen Pueblos im Osten. Wir sind die Kinder Moctezumas, wir sind Navajo. Was wollt ihr von uns?«

»Wir kommen, um unsere Verwandten, eure weißen Gefangenen zu holen. Sie sind unsere Weiber und Töchter.«

»Weiße Gefangene? Ihr irrt euch in uns. Wir haben keine Gefangenen. Die, welche ihr sucht, sind unter den Nationen der Apachen im fernen Süden.«

»Nein, sie sind bei euch!«, antwortete Seguin, »ich habe sichere Nachricht, dass sie hier sind. Haltet uns daher nicht auf. Wir haben eine weite Reise gemacht, um sie zu holen und werden ohne sie nicht wieder gehen.«

Der alte Mann wendete sich zu seinen Gefährten. Sie sprachen mit leiser Stimme zusammen und wechselten Zeichen. Er wendete sich abermals zu Seguin um.

»Glaubt mir, Señor Häuptling«, sagte er nachdrücklich, »Ihr seid falsch berichtet worden. Wir haben keine weißen Gefangenen.«

»Pah, du verdammter alter Gauner!«, schrie Rube, indem er sich aus der Menge hervordrängte und seine Katzenfellmütze erhoh. »Kennst du dieses Kind?«

Sein hautloser Kopf wurde den Indianern sichtbar. Sie ließen ein Besorgnis verkündendes Murmeln vernehmen. Der weißhaarige Häuptling schien außer Fassung zu sein. Er kannte die Geschichte jenes Skalps.

Auch durch die Reihe der Jäger lief ein Murmeln. Die Lüge erbitterte sie und von allen Seiten hörte man das Unheil verkündende Knacken der Büchsenhähne.

»Du hast gelogen, alter Mann«, rief Seguin, »wir wissen, dass ihr weiße Gefangene habt. Bringt sie zum Vorschein, wenn euch euer Leben lieb ist!«

»Schnell, zum Teufel!«, schrie Garey, indem er seine Büchse drohend erhob,»schnell oder ich färbe den Flachs auf deinem alten Schädel.«

»Geduld, Amigo! Ihr sollt unsere weißen Leute sehen – aber sie sind keine Gefangenen, sie sind die unseren – sie sind die Kinder Moctezumas.«

Der Indianer stieg in das dritte Stockwerk des Tempels hinab. Er trat in eine Tür und kehrte kurz danach mit fünf in das Navajokostüm gekleidete Frauenzimmer zurück. Sie waren Frauen und Mädchen, und wie man auf den ersten Blick erkannte, von der spanisch-mexikanischen Rasse.

Es gab aber Personen, die sie noch besser kannten. Drei von ihnen wurden von ebenso viel Jägern erkannt und erinnerten sich ihrerseits an dieselben. Die Mädchen stürzten bis an die Brüstung hervor, streckten ihre Arme aus und ließen Freudenrufe erschallen. Die Jäger riefen sie an.

»Pepe! – Rafaela – Jesusito!«

Und sie verbanden mit ihren Namen Ausdrücke der Liebkosung. Sie riefen ihnen zu, herabzukommen und deuteten auf die Leitern.

»Bajan niñas! Bajan aprisa! Bajan! (Kommt herab, liebe Mädchen, schnell! Schnell!)«

Die Leitern standen auf den oberen Terrassen. Die Mädchen konnten sie nicht bewegen. Ihre bisherigen Herren standen mit gerunzelter Stirn und schweigend neben ihnen.

»Legt Hand an!«, rief Garey, abermals mit seiner Büchse drohend, »legt Hand an, zum Teufel! Helft den Mädchen herab oder ich werfe ein Paar von euch herunter.«

»Legt Hand an! Legt Hand an!«, schrien andere zu gleicher Zeit.

Die Indianer legten die Leitern an, die Mädchen stiegen herab und sprangen im nächsten Augenblick in die Arme ihrer Freunde.

Zwei von ihnen waren oben geblieben – nur drei waren herabgekommen. Seguin war abgestiegen und überflog die oberen mit einem Blick. Keine von ihnen war der Gegenstand seiner Wünsche.

Er eilte, von mehreren seiner Leute gefolgt, die Leiter hinauf und sprang von einer Terrasse zur anderen, bis zur dritten. Er drängte sich nach der Stelle, wo sich die beiden Mädchen befanden. Seine Mienen waren verstört, und sein Benehmen glich dem eines Rasenden. Sie schreckten bei seiner Annäherung zurück, denn sie verkannten seine Absicht – sie kreischten entsetzt.

Er durchbohrte sie mit seinem Blick. Die Instinkte des Vaters sind geschäftig, sie waren getäuscht worden – das eine von den Weibern war alt – zu alt – das andere sah sklavenähnlich und roh aus.

»Mein Gott, es ist unmöglich! Aber nein – nein – es ist unmöglich.«

Er beugte sich vor und ergriff das Mädchen, obwohl nicht unfreundlich, am Handgelenk. Ihr Ärmel wurde aufgerissen, und der Arm bis an die Schultern entblößt.

»Nein, nein!«, rief er von Neuem, »es ist nicht da – sie ist es nicht.«

Er wendete sich von ihnen ab und stürzte auf den alten Indianer zu, der, von dem Blitzen seines feurigen Auges erschreckt, zurückwich.

»Dies sind nicht alle«, rief er mit Donnerstimme, »es sind noch andere da! Bringe sie herbei, alter Mann, oder ich schleudere dich zu Boden!«

»Es sind außer diesen keine weißen Squaws da«, erwiderte der Indianer mit mürrischer und entschlossener Miene.

»Eine Lüge! – Lüge! Dein Leben bürgt dafür! Rube, tritt ihm entgegen.«

»Du verdammtes altes Stinktier! Dein weißes Haar wird nicht viel länger bleiben, wo es ist, wenn du sie nicht herausgibst. Wo ist sie, die junge Königin?«

»Al Sur!« Der Indianer deutete nach Süden.

»O,  mon dieu!«, rief Seguin in seiner Muttersprache und mit einem Ton, welcher seinen tiefen Kummer ausdrückte.

»Glaubt ihm nicht, Cap’tain! Ich habe in meiner Zeit eine Menge von Indianern gesehen, aber ein lügenhafteres altes Ungeziefer wie dieses ist mir nie vor Augen gekommen. Ihr habt gehört, was er soeben über die anderen Mädchen gesagt hat.«

»Ja, es ist wahr … er log … aber sie … sie könnte fort sein.«

»Gott bewahre! Die Lüge ist sein Handwerk! Er ist die große Medizin der Indianer und führt sie alle hinters Licht. Das Mädchen ist die Mysterienkönigin, wie sie es nennen. Sie weiß viel und hilft dem alten Weißling hier bei seinen Streichen und Opfern. Er möchte sie nicht verlieren. Ich bürge dafür, dass sie hier in der Nähe ist; aber er hat sie versteckt, das ist gewiss.«

»Leute!«, rief Seguin, der an die Brüstung stürzte, »nehmt Leitern! Durchsucht alle Häuser! Bringt Alt und Jung herbei und führt sie auf die Ebene. Lasst keinen Winkel undurchsucht. Bringt mir mein Kind!«

Die Jäger stürzten zu den Leitern, sie bemächtigten sich derjenigen, welche im großen Gebäude standen, und hatten bald von anderen Besitz ergriffen. Sie liefen von einem zum anderen und zogen die jammernden Bewohner heraus.

In einigen von den Häusern waren indianische Männer – zurückgebliebene Krieger, Knaben und Stutzer.

Einige von ihnen leisteten Widerstand, sie wurden getötet, skalpiert und über die Brüstung geworfen.

Eine Menge von Mädchen und Weibern jedes Alters wurden unter Bewachung vor den Tempel geführt.

Seguins Auge war geschäftig; sein Herz voller Sehnsucht. Sobald eine neue Gruppe erschien, durchforschte er die Gesichter – vergebens. Viele von ihnen waren jung und hübsch, aber braun, wie das abgefallene Blatt – sie war noch nicht herbeigebracht worden.

Ich sah die drei gefangenen Mexikanerinnen bei ihren Freunden stehen; sie müssten wissen, wo das Mädchen zu finden sein würde.

»Fragen Sie jene«, flüsterte ich dem Kapitän zu.

»Ha, Sie haben recht; daran hatte ich nicht gedacht! Kommen Sie mit mir, kommen Sie!«

Wir stiegen zusammen die Leiter hinab und näherten uns den befreiten Gefangenen. Seguin beschrieb hastig den Gegenstand seiner Nachforschungen.

»Es muss die Mysterienkönigin sein!«, sagte die eine.

»Ja!«, rief Seguin in bebender Angst, »sie ist es! Sie ist es: die Mysterienkönigin!«

»Dann ist sie hier!,« fügte eine andere hinzu.

»Wo? Wo?«, fragte der halb rasende Vater.

»Wo? Wo?«, wiederholten die Mädchen fragend gegeneinander.

»Ich habe sie heute früh – vor ganz kurzer Zeit gesehen – kurz, ehe Sie hereinkamen.«

»Ich habe gesehen, wie er sie weg zog«, fiel eine Zweite ein, nach dem alten Indianer deutend. »Er hat sie sicher versteckt.«

»Caval!«, rief eine andere, »vielleicht in der Estufa.«

»In der Estufa! Was ist das?«

»Wo das heilige Feuer brennt, wo der Alte seine Medizin macht.«

»Wo ist es? Führt mich hin.«

»Ay de mi! Wir wissen den Weg nicht, es ist ein geheimer Ort, wo Menschen verbrannt werden, ay de mi!«

»Und Señor, es ist in diesem Tempel irgendwo unter der Erde. Er weiß es. Außer ihm darf niemand herein! Carrai! Die Estufa ist ein furchtbarer Ort, wie die Leute sagen.«

Seguins Geist wurde von einer unbestimmten Idee, dass seine Tochter in Gefahr sein könne, durchzuckt.

Vielleicht wart sie bereits tot oder auf irgendeine entsetzliche Weise dem Tod nahe. Er bemerkte gleich uns den Ausdruck mürrischer Bosheit, welcher sich auf dem Gesicht des Medizinhäuptlings zeigte. Es war ein ganz indianischer Ausdruck – der der hartnäckigen Entschlossenheit, lieber zu sterben, als das aufzugeben, was zu behalten er sich vorgenommen hatte. Es war eine Miene dämonischer List – sie charakterisierte die Männer seines Berufes unter den Stämmen.

Von diesen Gedanken erfüllt, lief Seguin zu der Leiter und sprang, abermals von mehreren Mitgliedern der Schar gefolgt, zu dem Dach hinauf. Er eilte auf den lügnerischen Priester zu und erfasste ihn an seinem langen Haar.

»Führe mich zu ihr!«, rief er mit Donnerstimme, »führe mich zu der Königin! Zu der Mysterienkönigin! Sie ist meine Tochter!«

»Eure Tochter, die Mysterienkönigin?«, erwiderte der Indianer in zitternder Furcht für sein Leben, aber doch noch entschlossen, der Aufforderung zu widerstehen. »Nein weißer Mann, sie ist es nicht. Die Königin gehört uns an – sie ist die Tochter der Sonne, sie ist das Kind eines Navajohäuptlings.«

»Versuche mich nicht weiter, alter Schurke! Nicht weiter, sage ich! Sieh, wenn ein Haar auf ihrem Haupt gekrümmt worden ist, so sollen alle diese leiden. Ich werde kein lebendes Wesen in deiner Stadt zurücklassen. Geh voraus – bringe mich in die Estufa.«

»In die Estufa! In die Estufa!«, riefen mehrere Stimmen.

Starke Hände erfassten die Gewänder des Indianers und schlangen sich in sein wallendes Haar. Bereits rote und blutdampfende Messer wurden vor seinen Augen geschwungen. Er wurde vom Dach und die Leiter hinabgeschleppt.

Er hörte auf, Widerstand zu leisten, denn er sah, dass Widerstand tödlich war, und er geleitete, halb geschleppt und halb führend, die Jäger zum Erdgeschoss des Gebäudes.

Er trat in einen mit zottigen Büffelhäuten bedeckten Gang. Seguin folgte, ohne den Blick oder die Hand von ihm abzuwenden. Wir drängten uns beiden nach.

Wir stiegen durch finstere Gänge, durch ein verwickeltes Labyrinth hinab. Wir gelangten in ein großes trübe erleuchtetes Zimmer. Vor uns und um uns waren grausige Bilder – die mystischen Symbole einer schaurigen Religion.

Die Wände waren mit hässlichen Gestalten und Häuten von wilden Tieren behängt. Wir konnten das drohende Gesicht des grauen Bären, des weißen Büffels, des Vielfraßes, des Panthers und des gefräßigen Wolfes erkennen. Wir erblickten die Geweihe des Elen, die Hörner des wilden Schafes und des Bisons. Hier und da waren Götzenbilder von grotesken, monströsen Formen, die aus Holz und dem roten Tonstein der Wüste geschnitzt waren.

Eine Lampe flackerte mit schwachem Schein und auf einem Brasero. In der Mitte des Zimmers brannte eine kleine blaue Flamme. Es war das heilige Feuer – das Feuer, welches seit Jahrhunderten zu Ehren Gott Quetzalcoatls gebrannt hatte.

Wir hielten uns nicht bei der Betrachtung dieser Gegenstände auf. Die Kohlendämpfe erstickten uns beinahe. Wir liefen nach allen Seiten, indem wir die Götzenbilder umwarfen und die geheiligten Häute in den Staub zogen.

Ungeheure Schlangen glitten über den Boden dahin und zischten um unsere Füße. Sie waren von dem ungewohnten Lärm gestört und erschreckt worden. Auch wir waren erschrocken – denn wir hörten das gefürchtete Rasseln der Vivora!

Die Leute sprangen in die Höhe und schlugen mit ihren Büchsenkolben nach ihnen. Sie zertraten viele davon auf dem Steinpflaster.

Alles war Geschrei und Verwirrung. Wir wurden von den Kohlendämpfen beinahe erstickt.

Wo war Seguin! – Wohin war er gegangen?

Horcht! Man hörte ein Geschrei! Es war eine weibliche Stimme. Auch Männerstimmen waren es.

Wir stürmten auf den Ort zu, von welchem sie kamen. Wir schleuderten die Wände von herabhängenden Häuten hinweg; wir sahen den Anführer. Er hatte in seinen Armen ein weibliches Wesen – ein Mädchen! – ein schönes Mädchen – mit Gold und bunten Federn geschmückt.

Sie ließ bei unserm Eintritt ein lautes Geschrei vernehmen und rang mit ihm, um ihm zu entfliehen. Er hielt sie fest und hatte den hirschledernen Ärmel ihrer Tunika aufgerissen. Er blickte auf ihren bis an die Schultern entblößten, linken Arm.

»Sie ist es! Sie ist es!«, rief er mit vor Bewegung bebender Stimme. »O Gott, sie ist es – Adele! Adele! Kennst du mich nicht – mich, deinen Vater?«

Ihr Geschrei dauerte fort. Sie stieß ihn zurück, streckte ihren Arm gegen den Indianer aus und verlangte, dass er sie beschützen sollte.

Der Vater richtete rührende Flehensworte an sie. Sie achtete nicht auf ihn – sie kehrte ihr Gesicht von ihm ab und warf sich vor dem Priester nieder, dessen Knie sie umschlang.

»Sie kennt mich nicht! O Gott, mein Kind! Mein Kind!«

Seguin redete von Neuem in der indianischen Sprache, seine Töne waren bittend.

»Adele! Adele! – Ich bin dein Vater!«

»Du! – Wer seid Ihr, die weißen Männer sind unsere Feinde! Rührt mich nicht an! Hinweg, weiße Männer, hinweg!«

»Teure – teuerste Adele! – Stoße mich nicht zurück! – Mich, Deinen Vater – du erinnerst dich …«

»Mein Vater! – Mein Vater war ein großer Häuptling, er ist tot! – Dies ist jetzt mein Vater – die Sonne ist mein Vater, ich bin eine Tochter Moctezumas. Ich bin die Königin der Navajo.«

Beim Ausstoßen dieser Worte schien eine Veränderung über ihren Geist zu kommen. Sie lag nicht mehr am Boden. Sie erhob sich, ihr Geschrei hatte aufgehört und sie stand stolz und entschlossen da.

»O Adele!«, fuhr Seguin noch eindringlicher fort, »sieh an! Schaue her! Erinnerst du dich meiner nicht? Blicke in mein Gesicht – o Himmel! Hier sieh! Hier ist deine Mutter, Adele! Sieh, dies ist das Bild deiner Engelsmutter! Blicke es an, o Adele!«

Seguin zog bei diesen Worten ein Miniaturbild aus seiner Brusttasche und hielt es dem Mädchen vor die Augen. Es fesselte ihre Aufmerksamkeit. Sie blickte darauf, ohne aber ein Zeichen des Erkennens zu geben. Für sie war es nur ein merkwürdiger Gegenstand.

Sein leidenschaftliches und flehendes Wesen schien ihr aufzufallen. Sie schien ihn mit Verwunderung zu betrachten, dennoch aber stieß sie ihn zurück. Offenbar kannte sie ihn nicht. Sie hatte jede Erinnerung an ihn und die ihren verloren. Sie hatte die Sprache ihrer Kindheit vergessen – sie hatte ihre Eltern, sie hatte alles vergessen.

 

*

 

Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten, als ich in das Gesicht meines Freundes – denn als solchen hatte ich ihn betrachten gelernt, – blickte. Er stand wie ein Mann, der eine tödliche Wunde erhalten hat, aber noch lebt, stumm und innerlich zerschmettert, in der Mitte der Gruppe. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, seine Wange bleich und blutlos. Sein Auge schweifte mit einem Ausdruck des Blödsinns, welcher peinliche Gefühle in uns erregt, umher. Ich konnte mir den furchtbaren Kampf vorstellen, welcher in seinem Inneren wütete.

Er machte keinen weiteren Versuch, sich dem Mädchen zu nähern. Er stand einige Augenblicke in der gleichen Haltung da, ohne ein Wort zu sprechen.

»Bringt sie hinaus!«, murmelte er endlich mit dumpfer Stimme, »bringt sie hinaus, vielleicht ist Gott so barmherzig, ihr die Erinnerung wiederzugeben.«