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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang 5

Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang
Ein Märchen von Gotthold Kurz
Nürnberg, bei Gottlieb Bäumler 1837

Fünftes Kapitel

Wie Jacob nächtlicher Weile von einem Raubtier überfallen wird.

Eben läutete es Mittag, als sie zum Frauentor hineinfuhren. Wie staunte und freute sich Jacob über die große vielfach herrliche Stadt! Sie fuhren die ganze Länge durch bis zu dem Lauferplatz und hielten dort am Münzhöflein an, wo Vetter Haselmaier wohnte. Die ganze Nachbarschaft fuhr dort an die Fenster, als sie, was selten geschah, in ihrem Gässlein eine Kutsche fahren hörten. Der wackere Vetter aber trat aus dem Haus heraus, um sie zu empfangen. Dieser Vetter Haselmaier war ein pensionierter Wachtmeister des löblichen Kreiskontingents, ein Mann, dem trotz seines Alters Kopf und Herz noch immer am rechten Fleck saßen. Er hatte vormals in manchen Feldzügen wacker gefochten, jetzt füllte er seine Zeit mit Verfertigung von allerlei artigem Schnitzwerk und Spielzeug für Kinder aus. Daneben war er ein eifriger Politikus und trug sorgfältig in seiner Chronik die Tagesbegebenheiten der Stadt zusammen, mit deren Örtlichkeiten er aufs Vollkommenste vertraut war. Die Nachbarn hielten viel auf ihn und holten sich Rat bei ihm in all ihren Angelegenheiten ein.

Der muntere alte Mann gewann gar bald den kleinen Fingerlang besonders lieb und hatte seine Freude an ihm. Er schleppte erst, was er an Spielzeug im Hause hatte, zusammen, um ihn zu belustigen.

Schäfereien, Tanzfiguren, Reiter und Pferde. Aber Jacob hatte den kindischen Trödel bald satt, der ohnedies bei Weitem zu massiv und zu groß für ihn war, und hielt sich nur an eine Schachtel mit Bleisoldaten, diesen Trefflichsten aller Kriegsleute, die nie ans Davonlaufen noch an Exzessen denken, keine Rationen bedürfen und an Subordination unerreichbar sind. Er ließ sie die glänzendsten Stellungen und Evolutionen mithilfe des Wachtmeisters ausführen, der ihm dann bei dieser Gelegenheit viel Anziehendes und Merkwürdiges von seinen eigenen Kriegsfahrten und Abenteuern erzählte. Von solchen Unterhaltungen war das Herz des Jünglings dann wunderbar angeregt. Er seufzte im Stillen vor Verlangen, auch einen Gaul tummeln, ein Schwert führen zu können, und vergaß im überströmenden Gefühl innerer Tatkraft seine körperliche Kleinheit und Ohnmacht. Am liebsten hörte er dem wackeren Vetter zu, wenn er ihm von großen Männern und Begebenheiten der Vorzeit aus alten Historienbüchern vorlas, und machte sich selbst bald an alles, was dieser Art im Haus oder in der Nachbarschaft aufzutreiben war.

Denn auch bei anderen Leuten empfahl sich Jacob durch seine Munterkeit und Offenheit. So verehrte ihm einst der gegenüber wohnende Lebküchner Schroll einen schmackhaften Lebkuchen aus seiner Bäckerei, der aber so groß war, dass der arme kleine Mann gar nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Endlich kam er auf den lustigen Gedanken, verschiedenes Gerät für seinen Bedarf nach den Mustern seines Vetters und Gönners daraus zu zimmern. Der Kuchen lieferte ein weicheres und geschmeidigeres Material, das von ihm bei Weitem besser zu bearbeiten war als Holz. Die Zimmerspäne aber, die bei der Arbeit abfielen, ließ er sich als vorläufigen Lohn für seine Mühe wohl schmecken. So kam bald dies, bald jenes zustande, was gar niedlich anzusehen war, und seinem Verfertiger Ehre und Freude machte. Nun beschloss er, den Rest auf eine Bettstelle zu verwenden, in welcher er künftighin zu schlafen gedachte. Bald stand sie fertig vor ihm, und er freute sich wie ein Kind, als sie mit schönen neuen Bettchen angefüllt, süß duftend ihn das erste Mal zur Ruhe einlud. Flugs zog er sich aus, setzte seine Nachtmütze auf, die ihm die Muhme einst mit mehreren anderen aus den Fingerkuppen eines abgelegten Kommunionhandschuhs gemacht hatte, und legte sich wohlgemut nieder. Aber kaum war es in der Stube still und finster geworden und der erste Schlaf über ihn gekommen, so erweckte ihn ein ungewöhnliches Geräusch sowie ein Rütteln und Schütteln an seinem Bett, als ob ein Erdbeben im Anzug wäre. Er rieb sich die Augen, setzte sich aufrecht, schaute um sich und konnte lange die Ursache der seltsamen Erschütterung nicht entdecken. Endlich, o Schrecken, gewahrte er beim Schein des eben aufgehenden Mondes ein gewaltiges Tier, fast größer als er selbst, von dunklem, rauem Fell, rollenden Augen, scharfen Zähnen und überaus langem Schwanz. Dieses hatte sich an seinen Bettpfosten gemacht und raspelte und nagte so gewaltig daran, dass das ganze Bett zitterte und schwankte und jeden Augenblick umzustürzen drohte. Eilig sprang er heraus und flüchtete in die Tasche von des Vetters Haselmaier Sonntagsweste, die glücklicherweise ganz nahe an der Fensterbank aufgehangen war. Von diesem sicheren Asyl herab sah er nun jammernd der Verwüstung seines Meisterwerkes zu. Endlich ergriff er voll Ingrimm einen Feuerstahl, der neben ihm in derselben Tasche logiert war, und schlenderte ihn mit so gutem Erfolg nach dem Ungetüm, dass es plötzlich abließ und Hals über Kopf davonrannte. Er selbst wagte es aber dennoch nicht, wieder zurückzukehren, sondern schlief die Nacht über in seinem wunderlichen Kapitol, so gut es gehen wollte.

Am anderen Morgen erzählte er dem Vetter mit großer Aufregung die furchtbare Begebenheit, die er erlebt hatte. Dieser aber, als er den Schaden besehen und die zurückgelassene Losung des Raubtieres bemerkt hatte, brach in volles Lachen aus, bis er vor Husten nicht mehr konnte.

»Dein Ungeheuer, du tapferer Held«, rief er ihm zu, »ist nichts Besseres und nichts Schlechteres als eine Maus, die sich hierher verirrt hat. Den Werwolf, denke ich, wollen wir bald lebendigen Leibes fangen.«

Er ging nun hinweg, suchte unter seinem alten Hausrat eine Mausefalle hervor und stellte sie, mit duftendem Speck versehen, an derselben Stelle auf, wo der Angriff stattgefunden hatte. Und richtig! Die Nacht kam herbei, am anderen Morgen war die Falle zu, und innerhalb des Drahtgitters fuhr der Malefikant ergrimmt und angstvoll hin und her. Da ward nun nach kurzem Standrecht die schleunige Hinrichtung beschlossen. Jacob aber, von Mitleid mit dem geängstigten Tier ergriffen, legte eine Fürbitte ein und bat, es ihm zu schenken.

»Wer weiß«, setzte er hinzu, »ob es mir den angerichteten Schaden nicht wiedergutmachen kann? Das wäre gerade ein Leidpferd für mich.«

Er ließ nun das Mäuschen im Käfig ohne Essen und Trinken, bis es vor Hunger ganz matt und zahm geworden war und ihm die vorgehaltenen Fleischkrümelchen aus der Hand fraß. Dann fuhr er fort, es an sich zu gewöhnen, dass es endlich seine Schüchternheit ganz ablegte, mit ihm spielte und sich alles von ihm gefallen ließ.

Nun schritt er ans Werk und verfertigte nach Anweisung des alten Gönners Zaum und Sattel. Der hässliche Schwanz wurde abgehauen, und er bestieg das Tier, das seiner Leitung willig gehorchte. Auf dem großen Arbeitstisch, unter der Anleitung des Wachtmeisters, machte er täglich die Schule mit ihm und brachte es in allen Reiterkünsten gar bald so weit, dass er sich vor jedem Mann vom Fach sehen lassen konnte. Nun war aber auch mit einem Mal die Lust zu allen ritterlichen Übungen in ihm erwacht! Der Vetter musste ihm ein Schwert von einem geschickten Messerschmied besorgen, blank poliert und fein geschlissen, mit dem er alle Touren des vorhandenen Fechtbuches durchmachte, und in vollem Galopp den Türkenkopf eines Karussells vom Stumpf hieb. Auch Bogen und Pfeile wurden angeschafft, um nach dem Ziel zu schießen. Manche beschwerliche Hummel, die sich ins Zimmer verirrt hatte, traf er mitten im summenden Flug. Dabei suchte er sich auch fortwährend durch fleißiges Lesen zu unterrichten, wo er nur konnte. Freilich war es seltsam, den kleinen Mann vor einem aufgeschlagenen Buch stehen oder gar zwischen den Zeilenreihen eines Folianten hin- und herspazieren zu sehen, diese vom Boden ablesend, wie man etwa Inschriften auf liegenden Grabsteinen abliest. Aber er trieb solche Leserei nicht ohne Nutzen und schrieb sich vieles in eigene Hefte nieder, die freilich klein genug geschrieben und ohne Brille nicht zu lesen waren.