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Aëlita – Teil 32

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Die Gegenattacke

In dem Augenblick, als die zweite Detonation ertönte, traten Losj und Gor gerade auf die Außentreppe unter die Kolonnaden hinaus. Gleich einem blau schillernden Fächer schoss eine Flamme auf der nördlichen Seite der Stadt in die Höhe. Deutlich waren die aufsteigenden Wolken von Rauch und Asche zu sehen. Dem donnernden Getöse folgte sogleich ein Wirbelwind. Blutroter Feuerschein verbreitete sich langsam über den halben Himmel.

Jetzt ertönte kein einziger Schrei mehr auf dem sternförmigen, mit Truppen angefüllten Platz. Die Marsianer starrten schweigend auf den Feuerschein. Da gingen ihre Wohnstätten, ihre Familien in Asche auf. Mit den schwarzen Rauchwolken flogen alle ihre Hoffnungen davon.

Nach einer kurzen Beratung mit Losj und Gor gab Gussew den Befehl, die Luftflotte zum Kampf fertigzumachen. Sämtliche Luftschiffe befanden sich im Arsenal. Nur fünf dieser riesigen Libellen lagen auf dem Platz. Gussew schickte sie auf Erkundung aus. Die Flugzeuge schwangen sich in die Höhe, ihre Flügel blitzten im Feuerschein.

Aus dem Arsenal kam die Antwort, dass der Befehl erhalten sei und die Verladung der Truppen auf die Luftschiffe begonnen habe. Es verging eine unbestimmt lange Zeit. Der rauchige Feuerschein breitete sich immer weiter aus. Eine Unheil verkündende Stille lag über der Stadt. Gussew schickte alle Augenblicke einen der Marsianer zum Spiegeltelefon, um die Truppenverladung zu beschleunigen. Er selbst rannte wie ein riesiger Schatten auf dem Platz hin und her, schrie mit heiserer Stimme und stellte die unordentlichen Haufen seines Heeres in geschlossenen Kolonnen auf. Wenn er an die Treppe kam, fletschte er die Zähne, und sein Schnurrbart sträubte sich.

»Sagen Sie doch denen im Arsenal« (es folgte ein Gor unverständlicher Ausdruck) »… fixer, fixer …«
Gor ging zum Telefon. Endlich traf ein Telephonogramm mit der Nachricht ein, dass die Verladung beendet sei und die Luftschiffe aufstiegen. Tatsächlich, in geringer Höhe über der Stadt, im dunstigen Feuerschein erschienen die schwebenden Libellen. Gussew stand breitbeinig auf dem Platz, den Kopf im Nacken, und blickte mit Vergnügen hinauf auf diese einem Kranichflug gleichenden Linien. In diesem Augenblick ertönte eine dritte, die stärkste Detonation.
Bläuliche Flammenschwerter begannen den Weg der Luftschiffe zu durchbohren. Jetzt flogen sie hoch, drehten sich im Kreis und verschwanden. Wo sie vorher zu sehen gewesen waren, schlugen Trümmergarben und Rauchwolken in die Höhe.
Zwischen den Säulen der Kolonnaden erschien Gor. Sein Kopf saß ganz tief zwischen den Schultern. Sein Gesicht bebte, sein Mund hatte sich in die Breite gezogen. Als das Getöse der Explosion verstummt war, sagte Gor: »Das Arsenal ist in die Luft gesprengt. Die Flotte ist zerstört.«
Gussew stieß nur ein heiseres Ächzen aus und begann an seinem Schnurrbart zu kauen. Losj stand da, mit dem Hinterkopf an eine Säule gelehnt, und blickte in den Feuerschein. Gor hob sich auf den Zehenspitzen bis zu Losjs gläsern gewordenen Augen.

»Denen, die heute am Leben bleiben, wird es schlecht ergehen.«
Losj antwortete nicht. Gussew schüttelte eigensinnig den Kopf und ging hinunter auf den Platz. Seine Kommandoworte erschollen. Und da marschierten die Marsianer in die Straßen hinein, eine Kolonne nach der anderen, auf die Barrikaden.
Der geflügelte Schatten Gussews flog im Sattel über dem Platz und schrie von oben herunter. »Fixer, fixer, dreht euch, ihr Krepierlinge!«
Der Platz leerte sich. Der riesige Sektor der Brandstätte beleuchtete jetzt die sich von der entgegengesetzten Seite nähernden Linien der Libellen: Welle auf Welle stiegen sie hinter dem Horizont auf und schwebten über der Stadt. Das war Tuskubs Luftgeschwader.
Gor sagte: »Fliehen Sie, Sohn des Himmels, Sie können sich noch retten.«
Losj zuckte nur mit der Schulter. Die Flugzeuge kamen immer näher, jetzt begannen sie niederzugehen. Ihnen entgegen, aus dem Dunkel der Straßen, stieg eine feurige Kugel hoch, dann eine zweite, eine dritte. Das waren die Aufständischen, die aus ihren Maschinen runde Blitze schossen. Die Reihen der geflügelten Galeeren beschrieben einen Kreis über dem Platz, teilten sich und schwebten jetzt über den Straßen und über den Dächern. Das unaufhörliche Aufblitzen der Schüsse beleuchtete ihre Bordwände. Eine Galeere überschlug sich und blieb im Fallen mit den gebrochenen Flügeln zwischen den Dächern hängen. Andere landeten an den Ecken des Platzes und setzten Soldaten in silbergrauen Uniformjacken ab. Die Soldaten liefen in die Straßen. Jetzt begann eine Schießerei aus den Fenstern, hinter den Ecken hervor. Steine flogen. Immer mehr Flugzeuge kamen angeflogen, unaufhörlich glitten glutrote Schatten über den Platz.
Jetzt erblickte Losj – nicht weit entfernt, auf der gestuften Terrasse eines Hauses – die aufragende, breitschultrige Gestalt Gussews. Fünf, sechs Flugzeuge nahmen sofort Kurs in seiner Richtung. Gussew hob einen riesigen Stein über den Kopf und schleuderte ihn auf die Nächste der Galeeren. Sogleich wurde er von allen Seiten von den funkelnden Flügeln zugedeckt.
Da rannte Losj über den Platz hinweg dorthin – er flog fast, wie im Traum. Über ihm knatterten und heulten zornig die Luftschrauben der kreisenden, von dem Aufblitzen der Schüsse beleuchteten Flugzeuge. Er presste die Zähne aufeinander, die Augen achteten sorgsam auf jede Kleinigkeit.
Mit wenigen Sprüngen hatte Losj den Platz überquert, und nun erblickte er Gussew aufs Neue. Er stand auf der Terrasse eines Eckhauses und war umringt von Marsianern, die von allen Seiten auf ihn eindrangen. Er drehte und wendete sich wie ein Bär in diesem lebendigen Haufen, trommelte mit den Fäusten auf ihn ein und schleuderte die Einzelnen von sich weg. Jetzt riss er sich einen von der Kehle, warf ihn hoch in die Luft und ging dann, die anderen mit sich schleifend, über die Terrasse. Und fiel zu Boden.

Losj schrie laut auf. An den Vorsprüngen des Hauses sich festhaltend, erklomm er die Terrasse. Und wieder tauchte aus einem Haufen kreischender Körper der Kopf Gussews auf, mit weit vorgewölbten Augen, mit zerschlagenen Lippen. Einige Soldaten stürzten auf Losj zu und krallten sich an ihm fest. Voll Abscheu riss er sie von sich und stieß sie weg, er warf sich mitten in das Gewühl der Kämpfenden und begann die Soldaten auseinanderzuschleudern. Sie flogen wie Späne über die Balustrade. Die Terrasse wurde leer. Gussew versuchte sich zu erheben, sein Kopf hing kraftlos herab. Losj nahm ihn auf die Arme, sprang durch eine geöffnete Tür und legte Gussew in einem niedrigen Zimmer, das von dem Feuerschein erleuchtet war, auf den Teppich.

Gussew röchelte. Losj kehrte zur Tür zurück. An der Terrasse vorbei schwebten Flugzeuge, schwebten aufmerksam herschauende spitznasige Gesichter. Man musste sich auf einen Überfall gefasst machen.

»Mstislaw Sergejewitsch«, rief Gussew. Er saß jetzt, tastete seinen Kopf ab und spuckte Blut. »Die Unseren sind alle geschlagen worden … Mstislaw Sergejewitsch, wie geht denn das zu? Wie sie angeflogen kamen, in hellen Scharen, und anfingen zu mähen … Die einen sind getötet, die anderen haben sich versteckt … Allein ich bin übrig geblieben … Ach, ist das ein Jammer!« Er erhob sich, taumelte, als suche er etwas, durch das Zimmer, blieb vor einer Statue aus Bronze stehen, die wahrscheinlich irgendeinen berühmten Marsianer darstellte.

»Na, wartet!« Er griff die Statue und stürzte zur Tür.

»Alexej Iwanowitsch, was wollen Sie tun?«
»Ich kann nicht. Lass mich raus.«
Er erschien auf der Terrasse. Hinter den Flügeln eines vorbeifliegenden Luftschiffes blitzten Schüsse. Danach ertönten ein Aufschlag und ein Krachen.

»Aha!«, schrie Gussew.
Losj zog ihn in das Zimmer und schlug die Tür zu. »Alexej Iwanowitsch, begreifen Sie doch. Wir sind geschlagen, alles ist zu Ende … Wir müssen Aëlita retten.«

»Was wollen Sie von mir, lassen Sie mich mit Ihrem Weibsbild in Ruhe …« Er ging hastig etwas in die Knie, packte mit den Händen sein Gesicht, schnaufte, stampfte mit dem Fuß auf und – als würde ein Brett in seinem Inneren auseinandergerissen, so sprudelte es aus ihm heraus. »Nun ja, meinetwegen soll man mir das Fell abziehen. Alles ist verkehrt auf der Welt. Dieser ganze Planet ist verkehrt, verflucht soll er sein! ›Rette, rette uns‹, sagen sie … Klammern sich an einen … ›Wir wollen, egal wie, noch ein bisschen leben …‹, sagen sie. Noch ein bisschen leben! … Was kann ich denn? … Da, mein Blut hab ich vergossen. Getreten haben sie mich. Mstislaw Sergejewitsch, nun, ich war ja der Sohn einer Hündin … ich kann das nicht mit ansehen … Mit den Zähnen zerreiß ich die Peiniger …« Er schnaufte wieder und ging zur Tür.

Losj nahm ihn an den Schultern, schüttelte ihn und blickte ihm fest in die Augen. »Das, was geschehen ist, ist ein Albdruck, ein Fieberwahn. Gehen wir. Vielleicht schlagen wir uns durch. Nach Hause, auf die Erde.«

Gussew strich sich über das Gesicht, Blut und Schmutz darüber verschmierend. »Gehen wir.«
Sie verließen das Zimmer und kamen auf eine ringförmige Plattform, die über einem breiten Schacht hing. Eine Wendeltreppe führte an seiner Innenwand in einer Spirale hinab. Durch ein Glasdach drang das trübe Licht des Feuerscheins bis in die schwindelerregende Tiefe hinunter.
Losj und Gussew begannen auf der schmalen Treppe abwärtszusteigen – dort unten war alles still. Oben aber wurde das Knattern der Schüsse immer stärker, und die Böden der Luftschiffe knirschten, wenn sie im Flug über das Dach strichen. Offenbar hatte die Attacke auf die letzte Zuflucht der Söhne des Himmels begonnen.
Losj und Gussew rannten auf der endlosen Spirale abwärts. Das Licht wurde schwächer. Und da konnten sie unten eine kleine Gestalt erkennen. Sie war kaum imstande, ihnen entgegenzukommen. Jetzt blieb sie stehen und rief ihnen mit schwacher Stimme zu: »Sie werden gleich hier eindringen. Eilen Sie. Unten ist der Eingang in das Labyrinth.«
Es war Gor, der am Kopf verwundet war. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte: »Gehen Sie nur durch die breiten Tunnel. Achten Sie auf die Zeichen an den Wänden. Lebt wohl. Wenn ihr auf die Erde zurückkommt, erzählt dort von uns. Vielleicht werdet ihr glücklicher sein auf der Erde. Uns bleiben nur die eisigen Wüsten, der Tod, die Sehnsucht … Ach, wir haben die Stunde versäumt … Wir hätten das Leben ingrimmig und mit aller Macht, gebieterisch lieben müssen …«
Von oben her erscholl Lärm. Gussew rannte hinunter. Losj wollte Gor mit sich ziehen, aber der Marsianer presste die Zähne zusammen und klammerte sich an das Geländer.
»Gehen Sie. Ich will sterben.«
Losj holte Gussew ein. Sie ließen die letzte ringförmige Plattform hinter sich. Von ihr führte die schmale Treppe steil abwärts auf den Boden des Schachtes. Hier erblickten sie eine große Steinplatte mit einem darin eingelassenen Ring.
Mit Mühe konnten sie diese hochheben. Aus der dunklen Öffnung wehte ein trockener Wind.
Gussew ließ sich als Erster hindurchgleiten. Als Losj die Platte hinter sich fallen ließ, sah er auf der oberen Plattform zwei im roten Dämmerschein kaum erkennbare Soldaten auftauchen.
Sie liefen über die Wendeltreppe abwärts. Gor streckte ihnen die Hände entgegen und fiel unter ihren Schlägen.