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Der Welt-Detektiv Band 6

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Atlantis Teil 4

Bern hatte einen großen Tag. Außer den Mitgliedern des europäischen Parlaments und einer Unzahl von Journalisten waren zahlreiche Deputationen aus den nordischen Ländern Europas eingetroffen und überfüllten die Stadt.

Seit elf Uhr vormittags drängte sich eine immer noch wachsende Menge um den Parlamentspalast. Seit gestern Nachmittag war das amerikanische Botschaftsgebäude von einem starken Polizeikordon umgeben. Der große Sitzungssaal war vollzählig besetzt, die Tribünen überfüllt. Unter allgemeiner Unaufmerksamkeit der Deputierten und wachsender Ungeduld der Tribünen waren die reichlich gleichgültigen ersten drei Punkte der Tagesordnung erledigt worden.

Die Pause war vorüber, und die Deputierten strömten wieder in den Saal.

Unter lautloser Stille und gewaltiger Spannung aller Besucher verkündete der Präsident des Parlaments die Beratung des vierten Punktes der Tagesordnung. Der Sprecher des Parlaments erhielt danach das Wort.

»Meine Herren! Es liegt folgender Antrag der skandinavischen Staaten und der großbritannischen Inseln vor. Der Antrag wird von allen europäischen Staaten unterstützt.

Die unterzeichneten Staaten erheben einmütigen Protest gegen die Art und Weise, in der die New Canal Cy. die Landenge von Panama zu sprengen beabsichtigt. Die Unterzeichneten verlangen, dass die europäische Zentralregierung bei der Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika unter Hinweis auf die durch eine gleichzeitige Sprengung aller Minen drohenden Gefahren energisch vorstellig werde. Die europäische Zentralregierung möge dafür Sorge tragen, dass die Sprengung etappenweise erfolgt, wobei die Länge einer Etappe sieben Kilometer nicht überschreiten darf.«

Minutenlang musste der Sprecher warten, bis der lärmende Beifall abgeebbt war. Dann sprach der Parlamentspräsident.

»Meine Herren, ich erteile dem großbritannischen Deputierten Mr. Bertie das Wort zur Begründung des Antrags.«

Mr. Bertie, ein Schotte aus der Gegend des Clyde, schon ergraut in Haar und Bart, bestieg die Rednertribüne.

»Meine Herren, ich bin genötigt, Ihnen eine kurze Vorgeschichte der Ereignisse zu geben, die zu der heutigen Sitzung geführt haben. Der Panamakanal in seiner jetzigen Form als Schleusenkanal wurde im Jahre 1910 vollendet. Schon während des Baus verriet sich die unruhige Natur des Bodens durch zahlreiche Bergrutsche. In manchen Abschnitten – ich denke besonders an den Culebra-Abschnitt – zwangen immer wiederkehrende Felsstürze von wahrhaft gigantischen Ausmaßen zu immer größeren Arbeiten. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wurden die Verhältnisse schlimmer, und in letzter Zeit musste der Kanal monatelang außer Betrieb gesetzt werden. Die Gründe für diese unerfreulichen Zustände suchte man zunächst in der vulkanischen Beschaffenheit des ganzen Isthmus.

Heute wissen wir, dass diese Gründe viel ernsterer Natur sind. Der lange, dünne Streifen des Isthmus, der die beiden mächtigen, auf einer zähen Unterlage schwimmenden Kontinentalschollen von Nord- und Südamerika verbindet, gleicht einem schwachen Stab, an dessen beiden Enden zwei schwere Lasten wirken. Von einer Isostasie, das heißt von einem Ausgleich der Massen in senkrechter Richtung, kann auf dem Isthmus überhaupt nicht mehr die Rede sein. Dazu kommen die über alle Vorstellungen gewaltigen waagrechten Kräfte, mit denen die beiden Hälften Amerikas und die tägliche Flutwelle am Isthmus zerren. Die heutige Gestalt der Landenge gibt Ihnen eine schwache Vorstellung dieser enormen Beanspruchung.

Ich möchte bildhaft sagen: Der Isthmus gleicht heute schon einem bis zum Springen gebogenen Stab. Schneidet man einen solchen Stab an, dann zerspringt er.

Die Amerikaner glauben aller Belästigung ledig zu werden, wenn sie mit modernsten Sprengmitteln eine drei Kilometer breite und wenigstens fünfhundert Meter tiefe Rinne durch den Isthmus sprengen.

Meine Herren, das scheint zunächst nicht mehr als eins der beliebten hemdsärmeligen Radikalmittel zu sein. Aber es ist viel mehr! Es ist der Schnitt, der den Stab zum Springen bringt … bringen muss, wenn die Sprengung über die ganze Isthmusbreite auf einmal erfolgt.

Die meisten von Ihnen, meine Herren, kennen wohl die Einzelheiten des amerikanischen Projekts. Die New Canal Cy. hat die Mittellinie der neuen Kanalroute mit Schächten von eineinhalb Kilometer Tiefe gespickt. Am unteren Ende eines jeden Schachtes befindet sich eine Sprengkammer, die mit atomarem Sprengstoff geladen ist. Hundertfünfzig solcher Minen sind niedergebracht. Neben jeder dieser Hauptminen befinden sich tausend Meter höher zwei Nebenminen, die die Aufgabe haben, die aus der Tiefe emporgeschleuderten Felsmassen im Moment des Aufstiegs seitwärts zu zerstreuen.

Eine gleichzeitige Explosion dieser vierhundertfünfzig Minen, das gleichzeitige Detonieren muss nach der Meinung aller ernsthaften Fachleute den Isthmus in seinen Grundfesten erschüttern. Der Stab wird zerreißen, zersplittern, seine Enden werden auseinanderschnellen – weiter – weiter, werden klaffen, immer weiter klaffen, bis Atlantik und Pazifik sich verschmelzen und der Golfstrom unbehindert seinen Gang nach Westen nimmt.

Tritt das ein – und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dann stirbt Nordeuropa!«

Der Redner machte eine Pause. Totenstille herrschte im Saale.

Der schottische Deputierte fuhr fort: »Ich will Ihnen nicht die Schreckensbilder an die Wand malen, die Sie alle aus den Tageszeitungen kennen. Ich will nur sagen, die Nullisotherme, die Linie der mittleren Jahrestemperatur von null Grad, wird danach durch London und Berlin gehen. Das heißt, diese Orte würden in Zukunft das Klima haben, das jetzt in Nordisland und Archangelsk herrscht. Alles Land nördlich von London und Berlin würde unrettbar der Vereisung anheimfallen. Die wirtschaftlichen Folgen für Europa würden katastrophal sein.

Das alles lässt sich vermeiden, wenn die Amerikaner etappenweise sprengen, wie es in der verlesenen Resolution verlangt wird.

Die etappenweise Sprengung bedeutet zwar einmalige erhöhte Kosten für die New Canal Cy., das heißt für die amerikanische Wirtschaft. Aber sie verringert die Gefahr für Europa auf ein Minimum. Bei dieser Sachlage müssen wir, das heißt Europa, auf der Forderung etappenweiser Sprengung mit allem Nachdruck bestehen.«

Unter brausendem Beifall des Hauses verließ Mr. Bertie die Tribüne.

Der Parlamentspräsident sprach.

»Auf der Rednerliste folgt Herr Olaf Larsen, Deputierter für Norwegen.«

Als die lange, hagere Gestalt des Norwegers sich auf die Rednertribüne schob, ging Bewegung durch das Haus. Man kannte seine impulsive Art. Er pflegte kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

»Meine Herren, ich kann mich durchaus nicht darauf beschränken, mich den Worten des verehrten Herrn Vorredners voll und ganz anzuschließen. Reden solcher Art sind in diesem Saal schon öfter gehört worden. Ich will Ihnen die ungeschminkte Wahrheit sagen.

Es ist nichts weiter als Spiegelfechterei, wenn sich die New Canal Cy. hinter ein paar wenige von der allgemeinen Meinung abweichende Gutachten verschanzt. Gutachten zugestutzter Art, bei denen der Dollar wahrscheinlich Pate gestanden hat.

Die kapitalistischen Mächte, die hinter der New Canal Cy. stehen, wissen – ich scheue mich nicht, das offen auszusprechen –, wissen sehr genau, was sie wollen. Und sie wollen«, seine Faust krachte auf das Rednerpult nieder, »sie wollen und wünschen nichts sehnlicher, als dass das eintritt, was – wie der Vorredner ausführte – zu befürchten steht: die Vereisung und die Verelendung großer Teile Europas. Gibt es doch keinen besseren Weg, die europäischen Konkurrenten auf dem Weltmarkt endgültig zu vernichten.

Mit anderen Worten gesagt: dort die kapitalistischen Interessen einiger amerikanischer Großmilliardäre, hier Leben und Sterben von Millionen von Europäern.

Gewiss mag eine etappenweise Sprengung des neuen Kanals der Company die Baukosten um ein paar Prozent steigern. Aber was hat das zu bedeuten gegenüber dem Untergang ganzer europäischer Nationen!

Ich appelliere nicht an das sogenannte Weltgewissen.« Er machte eine wegwerfende Bewegung. »Dieses Requisit, das stets versagte, wenn es galt, besonders große Gemeinheiten zu verhindern. Ich appelliere an den Menschlichkeitssinn und das Freiheitsbewusstsein des amerikanischen Volkes, das sich nicht von einer verbrecherischen Clique machtgieriger Kapitalisten terrorisieren lassen wird.

In zehn Tagen tritt das amerikanische Parlament zusammen. Wie es sich entscheiden wird, das weiß ich nicht. Versagt aber bei ihm unser Appell, dann appelliere ich jetzt schon an den bewaffneten Arm Europas. Können wir das Unheil nicht verhindern, so wollen wir es rächen, solange uns der Atem bleibt. Können wir es nicht verhindern, so sollen sie dessen gedenken. Das ist meine Meinung. Ein Hundsfott, wer anders denkt!«

Ohne der Beifallsstürme zu achten, die ihm von allen Seiten entgegen klangen, ging er auf seinen Platz zurück.

Der Präsident sprach. »Meine Herren! Der Sprecher des Hauses hat das Wort.«

Der Sprecher nahm das Wort.

»Meine Herren, weitere Anträge sind nicht gestellt, weitere Redner stehen nicht mehr auf der Liste. Ich habe die Ehre, Ihnen, bevor zur Abstimmung über die Resolutionen geschritten wird, ein kurzes Resümee über die wissenschaftlichen Gutachten in der Frage zu geben.

Vor ungefähr fünf Jahren, sobald der genaue Arbeitsplan der New Canal Cy. bekannt wurde, lief bei dem europäischen Parlament ein Schriftstück ein, das in ausführlicher wissenschaftlicher Weise die Pläne der Company und ihre möglichen Folgen begutachtete. Diese Arbeit stützt sich in der Hauptsache auf die Theorie der Kontinentalverschiebungen.

Sie wissen aus den Tageszeitungen, dass diese Theorie, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts von dem deutschen Gelehrten Wegener aufgestellt wurde, im Laufe der Jahrzehnte durch immer neue Beobachtungen gestützt wurde und heute die Grundlage der Geologie bildet.

Mit mathematischen Deduktionen von zwingender Kraft und genialer Auswertung aller geologischen Erkenntnis wurde in diesem Gutachten der Beweis erbracht, dass die Pläne der Canal Company zur Katastrophe führen müssten. Leider wurde jenem Schriftstück nicht sofort die ihm gebührende Bedeutung beigelegt. Das wird von der Regierung offen zugegeben.

Jedoch möchte ich zur Entschuldigung sagen, dass das Schriftstück anonym – nur mit J. H. unterzeichnet – bei uns einlief. Ich möchte hinzufügen, dass der Autor dieser Arbeit auch heute noch völlig unbekannt geblieben ist.

Wir waren darauf angewiesen, die Arbeit durch unsere besten Autoritäten auf diesem Gebiet nachprüfen zu lassen. Begreiflicherweise nahm das geraume Zeit in Anspruch. Das Ergebnis bestand darin, dass die Richtigkeit jener anonymen Arbeit einmütig bestätigt worden ist.

Der Dank, der von europäischer Seite, von Seiten der Menschheit dem unbekannten Autor J. H. gebührt, den können wir ihm nicht von Angesicht zu Angesicht abtragen. Doch sei er an dieser Stelle, aus dem Herzen von Millionen, von Europäern kommend, ausgesprochen. Das Geheimnis, mit dem er sich umgeben zu müssen glaubt, wird von uns in vollem Maße geachtet.

Die Schlusssätze seiner Arbeit sind von der überwiegenden Zahl aller Geologen anerkannt worden.

Sie lauten wie folgt:

  1. Bei einer gleichzeitigen Explosion der benötigten Riesenmenge atomaren Sprengstoffs auf der engsten Stelle des Panama-Isthmus wird der Explosionsdruck zusammen mit dem bereits vorhandenen natürlichen Zerreißungsdruck die Festigkeit der Landenge um 50 Prozent überschreiten. Der Isthmus wird auseinanderreißen, und der Golfstrom wird nach Westen gehen.
  2. Bei etappenweiser Sprengung von weniger als fünfzehn Minen gleichzeitig wird der Landstreifen nicht über die Bruchgrenze beansprucht. Eine Zerreißung ist nicht mehr wahrscheinlich.

Meine Herren, Sie sehen aus diesen Schlussfolgerungen, dass jede Sprengung ein gewisses Risiko für Europa bedeutet. Unsere heutige Resolution fordert nur das Minimum dessen, was wir zu unserer Sicherheit unbedingt benötigen. Ich möchte dem Hohen Haus noch sagen, dass die Volksstimmung in den Vereinigten Staaten durchaus für uns ist. Ich glaube und hoffe, dass die uns seit Langem so befreundete amerikanische Regierung dem Rechnung tragen wird, unbeirrt durch dunkle Einflüsse irgendwelcher Art.«

Eine Stunde später konnte der Sprecher verkünden: »Der Antrag Skandinavien-England ist einstimmig angenommen worden. Unsere Botschaft wird die Entschließungen unserer Regierung morgen früh in Washington überreichen.«