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Die Macht der Drei – Teil 46

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Nur dem Wunsch ihres Gatten folgend, hatte Diana Maitland Jane in ihr Haus in Maitland Castle aufgenommen. Widerstrebend zuerst hatte sie sie dann lieb gewonnen. Wenn dieses junge Mädchen eine Verwandte des Dr. Glossin war, so hatte sie jedenfalls nichts von den zweifelhaften Eigenschaften ihres Oheims geerbt.

Mochte Dr. Glossin auch tausendmal gelogen haben, dieses Mal hatte er die Wahrheit gesprochen, als er sagte, dass Jane einsam und hilfsbedürftig sei. Lady Diana erkannte es mit dem geübten Blick der gereiften und lebenserfahrenen Frau.

Sie nahm sich vor, der Verlassenen eine mütterliche Freundin zu sein. In Maitland Castle während dieser Tage politischer Hochspannung und kriegerischer Verwickelungen selbst vereinsamt, zog sie sie in ihre Gesellschaft und hatte sie den größten Teil des Tages um sich.

Dabei aber musste sie die Entdeckung machen, dass die Seele des jungen Menschenkindes Rätsel barg.

Lady Diana fand, dass in den Erinnerungen Janes Lücken klafften. Was sie erzählte, erzählte sie schlicht und einfach, ohne Widersprüche. Aber plötzlich, an bestimmten Stellen, stockte die Erzählung, brach die Erinnerung ab, und es war Diana nicht möglich, die Lücken zu überbrücken.

Dazu der häufige Wechsel der Stimmung. Eben noch heiter, fast ausgelassen. Dann wieder still, grübelnd, nachdenklich, zerstreut. Wechselnde Stimmungen, schwankende Abneigungen und Sympathien, die sich bei den gemeinschaftlichen Mahlzeiten sogar in der Wahl der Speisen äußerten.

Diana Maitland hatte sich gesprächsweise mit ihrer Beschließerin über Jane unterhalten. Die sonderbaren Andeutungen der Alten gingen ihr nicht aus dem Sinn.

Jane machte sich an einem Tischchen zu schaffen, das in einem der großen erkerartig ausgebauten Bogenfenster stand. Sie hatte den Tischkasten aufgezogen, kramte in verschiedenen Kleinigkeiten, die dort lagen, schien irgendetwas zu suchen. Diana sah, wie sie ein Garnknäuel und ein Buch herausnahm, die Gegenstände zerfahren und unsicher auf den Tisch legte und dann ein Zeitungsblatt aus dem Kasten holte. Ein altes Blatt, mehrfach gefaltet, eine Notiz darauf mit Buntstift angestrichen.

Die Sonne fiel durch das Erkerfenster und wob goldene Reflexe um die schweren blonden Flechten Janes. In dieser Beleuchtung, die ihre zarte Schönheit noch hob, wirkte sie unwahrscheinlich ätherisch, wie eine der Gestalten auf den bunten Stichen von Gainsborough. Diana Maitland betrachtete das Bild mit Wohlgefallen.

Jane saß leicht vorgebeugt an dem Tischchen. Ihre Blicke ruhten auf dem Zeitungsblatt. Der zerstreute, träumerische Zug, den Diana in den letzten Tagen so oft an ihr beobachtet hatte, lag auf ihrem Antlitz. Jetzt straffte sich ihre Miene. Ihr Auge haftete auf einem Punkt des Blattes, während sie angestrengt nachzudenken schien. Als ob sie etwas suche, eine Erinnerung, ein Wort, einen Namen, auf den sie nicht kommen könne. Es sah aus, als ob dies angestrengte Sinnen ihr körperliche Pein bereite.

Diana Maitland sah die Wandlung und sprach sie an: »Was ist mit Ihnen, Jane?«

Wie geistesabwesend ließ Jane das Zeitungsblatt sinken und fuhr sich über die Stirn.

»Linnais … Linnais …«

»Jane, was haben Sie? Was ist Ihnen Linnais?«

Als Diana das Wort Linnais aussprach, erhob sich Jane wie eine Schlafwandlerin. Suchend, stockend brachte sie einzelne Worte hervor.

»Linnais … Brand … Ruinen … alles tot …«

Sekundenlang stand Diana in starrem Staunen.

»Nein, Jane … Sie leben!«

»Leben … Linnais … leben … Hochzeit … meine Hochzeit … Kirche … Atma … Erik Truwor …«

Diana Maitland sank schwer atmend in ihren Sessel zurück. Ihre Augen hingen an den Lippen Janes, die weiter flüsterten: »… meine Hochzeit …«

»Mit Erik Truwor?«

»Nein … nein … mit …«

»Mit …«

»Mit … mit …«

Jane suchte und konnte den Namen ihres Gatten nicht finden. In ängstlichem Grübeln krauste sich ihre Stirn.

»Mit Logg Sar?«

»Silvester …!« Wie ein erlösender Aufschrei kam es von Janes Lippen. »Silvester … Silvester … wo ist er?«

Diana trat auf die Schwankende zu und geleitete sie zu einem Ruhebett. Ein tiefes Schluchzen erschütterte den zarten Körper Janes. Als sie die Augen aufschlug, war ihr Blick gewandelt. Nicht mehr unsicher und traumverloren. Klar und fest.

»Silvester! Ich habe ihn wieder!«

»Was ist Ihnen Silvester?«

»Er ist mein Mann! Mein lieber Mann!«

Die Gedanken Dianas jagten sich. Was war das? Was hatte Dr. Glossin getan? Welches Verbrechen war an dem Mädchen begangen worden? Diana Maitland fand die härtesten Ausdrücke für den Arzt. Wie konnte er die Gattin Logg Sars als seine Nichte, als junges Mädchen, in ihr Haus einführen? Wie kam die Gattin Logg Sars in die Gewalt Glossins?

Jane richtete sich auf dem Diwan empor und begann zu sprechen. Fließender, endlich ganz frei. Die hypnotische Kraft Dr. Glossins reichte an diejenige Atmas nicht heran. Ein einfaches Zeitungsblatt, jenes schwedische Blatt, welches von Glossins Hand selbst unterstrichen den Namen Linnais trug, hatte genügt, den von ihm gelegten Riegel zu brechen.

Die volle Erinnerung kam Jane wieder. Sie erzählte, wie sie in der Sorge um Silvester von Düsseldorf nach Linnais ging, Brandruinen fand, wo sie einst Hochzeit gehalten hatten. Wie Dr. Glossin, ihr selbst unerklärlich, plötzlich vor ihr stand, wie sie ihm willenlos folgen musste.

»Dein Silvester lebt, Jane! Er und seine Freunde! Wir wissen es. Lord Horace sagte es mir. Unsere Stationen müssen ihre Befehle funken.«

»Er lebt. Ich höre es. Ich glaube es gern … gern … Aber er weiß nicht, wo ich bin. Ich habe in törichter Sorge seine Weisung missachtet, bin fortgelaufen. Er sucht mich vergeblich, kann mir keine Nachricht geben.«

Lady Diana brachte bald heraus, wie diese Benachrichtigungen früher stattgefunden hatten. Aber der kleine Telefonapparat war verschwunden. Irgendwo in Linnais geblieben. Damals, als Dr. Glossin in ihm die Stimme Silvesters vernahm, die Kraft des Strahlers zu fürchten begann und den Apparat wie glühendes Eisen von sich schleuderte. Die Wellenlänge, auf die Silvester den Apparat gestimmt hatte, war damit verloren. Die Möglichkeit einer Verständigung in der früheren Art ausgeschlossen.

Es blieb nur die öffentliche Regierungsstation, die Möglichkeit, eine Depesche in der Wellenlänge dieser Station abzugeben. Zu gewöhnlichen Zeiten eine einfache Sache. Jetzt in den Tagen des Krieges und der Zensur eine schwierige, fast unlösliche Aufgabe. Diana Maitland übernahm es, sie zu lösen.

Der Luftverkehr auf den britischen Inseln war des Krieges halber verboten. In ihrem schnellen Kraftwagen fuhr sie selbst nach Cliffden in die große englische Station. Sie suchte den Stationsleiter auf und hatte eine lange Unterredung mit ihm. Sie bat, beschwor und drohte, bis der Widerstand des Beamten überwunden war. Bis er vom Buchstaben seiner Instruktion abwich und die kurze Depesche zur Absendung entgegennahm. Lady Diana blieb an seiner Seite, solange die Depesche umgeschrieben und von den Perforiermaschinen für die Sendung vorbereitet wurde. Sie stand neben ihm, als der Geberautomat den Papierstreifen zu verschlingen begann, als Hebel tanzten und Kontakte polterten, als die ersten Worte der Depesche »Jane an Silvester …« auf den Flügeln elektrischer Wellen in den Luftraum strömten. Sie blieb neben dem Stationsleiter stehen, bis der Streifen dreimal durch den Apparat gelaufen war. Dann ging sie zu ihrem Kraftwagen und kehrte nach Maitland Castle zurück.

 

***