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Die Geschichte vom Werwolf Teil 10

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 10
Der Werwolf

Thibaut wandte sich auf seiner Flucht instinktmäßig gegen den Wald. Seine Absicht war, im Wald Schutz zu suchen, wohin ihm zu dieser Stunde niemand folgen würde.

Überdies hatte er von Feinden und Verfolgern nicht viel zu fürchten. Er brauchte sie ja nur dem Schwein der schönen Müllerin nachzusenden, um sich ihrer zu entledigen. Aber die Erinnerung an Marcotte machte ihm doch einiges Bedenken und er dachte, es sei doch keine Kleinigkeit, einen Menschen zum Teufel zu schicken.

Während er über diese furchtbare Gewalt nachsann und sich umsah, um zu wissen, ob er nötig habe, Gebrauch davon zu machen, wurde es Nacht. Der Wind heulte und riss die vergilbten Blätter von den Bäumen. Das Heulen des Windes wurde von Zeit zu Zeit durch das Geschrei der Eulen unterbrochen. Thibaut war an solche Naturszenen gewöhnt und wurde nur wenig davon ergriffen. Überdies schnitt er sich am Saum des Waldes einen starken, vier Fuß langen Stock ab. Mit dieser Waffe würde er es mit mehreren Männern aufgenommen haben.

Er ging daher an der Stelle, welche noch jetzt die Wolfshaide heißt, unerschrocken in den Wald.

Er war einige Minuten, über die Launen der Frauen murrend, auf einem schmalen dunklen Pfade fortgegangen, als er etwa zwanzig Schritte hinter sich das trockene Laub rauschen hörte.

Er sah sich um und bemerkte in der Dunkelheit anfangs nur zwei Augen, welche wie glühende Kohlen leuchteten. Endlich erkannte er einen großen Wolf, der ihm Schritt für Schritt folgte.

Es war nicht der, den er in seiner Hütte gesehen hatte. Dieser Wolf war nicht schwarz, sondern rötlich.

Thibaut hatte keinen Grund zu glauben, dass alle Wölfe so gute Absichten mit ihm hätten wie der erste. Er fasste daher seinen Stock mit beiden Händen, um schlagfertig zu sein. Aber zu seinem großen Erstaunen trabte das Tier hinter ihm her, ohne eine feindliche Absicht zu zeigen. Es stand still, wenn Thibaut stehen blieb, und folgte ihm, wenn er weiterging, von Zeit zu Zeit heulend, als ob er seinen Kameraden rufen wollte. Dieses Geheul machte Thibaut doch etwas besorgt.

Plötzlich sah er vor sich zwei andere feurige Augen, welche von Zeit zu Zeit in der Dunkelheit leuchteten. Er hielt seinen Stock schlagfertig und ging auf die beiden unbeweglich bleibenden feurigen Punkte los. Da wäre er über einen Körper, der auf dem Weg lag, beinahe gefallen. Es war ein zweiter Wolf.

Ohne zu bedenken, dass es unbesonnen sei, diese Tiere anzugreifen, versetzte Thibaut diesem einen kräftigen Schlag auf den Kopf. Der Wolf begann kläglich zu heulen, schüttelte sich wie ein Hund, den sein Herr geschlagen hat, und ging vor ihm her.

Thibaut sah sich um. Der erste Wolf folgte ihm immer in gleicher Entfernung. Aber als Thibaut weitergehen wollte, bemerkte er auf seiner rechten Seite einen dritten Wolf. Er wandte sich unwillkürlich links, ein Vierter begleitete ihn auf dieser Seite.

Er war noch keine Viertelstunde gegangen, so hatten ein Dutzend Wölfe einen Kreis um ihn gebildet.

Die Lage war bedenklich. Thibaut versuchte zu singen, in der Erwartung die menschliche Stimme werde die Tiere verscheuchen. Doch vergebens, keiner von ihnen verließ seinen Platz in dem Kreis.

Er kam nun auf den Gedanken, einen Baum zu ersteigen, um auf einem Ast den Tag zu erwarten. Aber nach reifer Überlegung schien es ihm vernünftiger, zu seiner nicht mehr fernen Wohnung zu eilen, denn die Wölfe zeigten ungeachtet ihrer großen Anzahl ebenso wenig feindselige Absichten wie der erste. Er hatte noch immer Zeit auf einen Baum zu klettern, wenn die Wölfe Miene machten, ihn anzugreifen.

Endlich erreichte er sein Haus. Aber zu seinem größten Erstaunen traten die vorangehenden Wölfe auf die Seite, um ihn durchzulassen. Er nahm sich nicht die Zeit, ihnen für ihre Höflichkeit zu danken, sondern eilte in seine Hütte, verriegelte die Tür und schob zur größeren Sicherheit noch die Truhe vor dieselbe.

Als er sich von seiner Bestürzung etwas erholt hatte, trat er ans Fenster und schaute in den dunklen Wald hinaus. Eine Reihe feuriger Augen zeigte ihm, dass die Wölfe sich keineswegs entfernt, sondern vor seiner Wohnung aufgestellt hatten.

Thibaut zündete seine eiserne Lampe an und machte Feuer auf dem Herd, um dadurch die Wölfe zu vertreiben. Aber diese schienen mit dem Feuer vertraut zu sein, denn sie wichen nicht von dem Posten, den sie gewählt hatten.

Beim ersten Morgenstrahl konnte Thibaut, den die Unruhe wach gehalten hatte, sie noch sehen und zählen. Wie am Abend schienen sie zu warten, einige lagen und schliefen, andere gingen wie Schildwachen auf und ab.

Endlich, als der letzte Stern am Morgenhimmel verschwand, erhoben sich alle Wölfe zugleich, heulten eine kleine Weile, zerstreuten sich in verschiedenen Richtungen und verschwanden.

Thibaut konnte nun mit mehr Ruhe über sein gestriges Missgeschick nachdenken. Er konnte nicht begreifen, dass ihm die Müllerin nicht vor seinem Vetter Landry den Vorzug gegeben hatte. War er denn nicht mehr der schöne Thibaut, oder hatte er sich etwa zu seinem Nachteil verändert?

Er nahm seinen kleinen Spiegel vom Kamin und trat mit selbstgefälligem Lächeln ans Fenster.

Aber kaum erblickte er sein Gesicht im Spiegel, so schrie er teils vor Erstaunen, teils vor Schrecken laut auf.

Er war immer noch der schöne Thibaut, aber das feuerrote Haar hatte sich infolge der übereilten Wünsche, die ihm entschlüpft waren, in eine ziemlich starke Locke verwandelt, deren Schimmer mit der Glut seines Herdes wetteiferte.

Der kalte Schweiß rann ihm von der Stirn, und da er aus Erfahrung wusste, dass es vergebens war, die verwünschten brandroten Haare auszureißen oder abzuschneiden, so musste er sich in das Unabänderliche fügen, nahm sich aber vor, künftig so wenig wie möglich zu wünschen.

Thibaut versuchte nun zu arbeiten, um sich die ehrgeizigen Gedanken zu vertreiben. Aber er hatte keine Lust mehr zur Arbeit, das Werkzeug blieb stundenlang untätig in seiner Hand. Er grübelte und dachte, es sei doch sehr traurig, mit saurem Schweiß ein elendes Leben zu fristen, da er doch mit guter Benutzung seiner Wünsche so leicht das Glück erreichen könne. Die Zubereitung seines einfachen Mahles war für ihn nicht mehr wie früher eine Zerstreuung. Er aß mit Widerwillen sein Stück Schwarzbrot, und der Neid, der bisher bei ihm nur ein fast unbewusstes Streben nach Wohlstand gewesen war, nahm in seinem Herzen allmählich den Charakter des Grolles und des Menschenhasses an.

Als die Dämmerung einbrach, verließ er seinen Werktisch, setzte sich auf die hölzerne Bank vor seiner Tür und überließ sich seinen düsteren Gedanken.

Aber kaum war es völlig dunkel geworden, so kam ein Wolf aus dem Dickicht und legte sich, wie in der vorigen Nacht, unweit der Hütte nieder. Bald kam ein zweiter, dann ein dritter Wolf, und endlich das ganze Rudel, das sich wieder im Kreis aufstellte.

Thibaut flüchtete in seine Stube und verrammelte die Tür wieder so sorgfältig wie in der vorigen Nacht. Aber er war noch trauriger und niedergeschlagener. Er hatte nicht die Kraft, wach zu bleiben, er zündete sein Feuer an, legte dickes Holz nach, um es die ganze Nacht brennend zu erhalten, warf sich auf sein Bett und schlief ein.

Als er erwachte, war es heller Tag, und die Sonne stand hoch am Himmel. Er eilte ans Fenster. Die Wölfe waren verschwunden, aber man konnte auf dem betauten Gras noch die Stellen sehen, wo sie in der Nacht gelegen hatten.

Abends versammelten sich die Wölfe wieder vor Thibauts Wohnung. Er begann sich nach und nach an die Anwesenheit der unheimlichen Gäste zu gewöhnen, denn er vermutete, seine Bekanntschaft mit dem großen schwarzen Wolf habe ihm unter dem geringeren Wolfsgeschlecht einige Zuneigung erworben. Er entschloss sich ein für alle Mal zu ermitteln, was für Absichten sie hatten.

Er steckte also ein frisch geschliffenes Messer in den Gürtel, nahm einen tüchtigen Knüttel in die Hand, öffnete die Tür und ging entschlossen auf die Wölfe zu. Aber zu seinem großen Erstaunen begannen die Wölfe mit dem Schweif zu wedeln, wie Hunde, die ihren Herrn kommen sehen. Ihre Freundlichkeit war so ausdrucksvoll, dass Thibaut kein Bedenken trug, einem von ihnen den Rücken zu streicheln. Der Wolf ließ es nicht nur geschehen, sondern gab auch seine Freude über die Liebkosung sehr deutlich zu erkennen.

»Ei, da besitze ich ja eine Meute, wie der Junker Jean noch nie gehabt hat«, dachte Thibaut. »Jetzt kann ich gewiss Wildbret haben, so oft ich Appetit dazu bekomme.«

Thibaut hatte diese halblauten Worte kaum beendet, so sprangen vier der stärksten und flinkesten Wölfe auf und liefen in den Wald. Gleich darauf hörte man lautes Geheul, und nach einer halben Stunde erschien einer der Wölfe mit einem noch blutenden Reh.

Das Reh wurde zu den Füßen Thibauts niedergelegt, welcher voll Freude über die Erfüllung seiner Wünsche das Tier sogleich zerlegte und jedem Wolf ein Stück zuwarf. Für sich behielt er nur den Rücken und die Schlegel. Dann entließ er seine Leibwache mit einer vornehmen Gebärde, welche bewies, dass er sich mit seiner Rolle schon vertraut gemacht hatte.

Er begab sich vor Tagesanbruch nach Villers-Cotterets, wo er die beiden Rehschlegel für zwei blanke Taler verkaufte.

Am anderen Morgen brachte er demselben Wirt ein halbes Wildschwein, und so wurde er einer der besten Lieferanten desselben.

Thibaut fand Geschmack an diesem Handel und jede Arbeit ekelte ihn an. Er pflegte den ganzen Tag in der Stadt zu sein und die Wirtshäuser zu besuchen.

Einige Bekannte neckten ihn wohl über die roten Haare, die er schon nicht mehr unter seinen schwarzen Locken zu verbergen vermochte. Aber Thibaut erklärte geradezu, dass er über dieses seltsame Naturspiel keinen Scherz verstehe. Da er den kecksten Spöttern sogar die Kraft seiner Faust zeigte, so ließ man ihn in Ruhe. Zum Unglück wohnte der Herzog von Orleans mit Madame de Montesson einige Tage im Schloss zu Villers-Cotterets. Es war in der Tat ein Unglück für Thibaut, dessen törichter Ehrgeiz neue Anregung erhielt. Alle schönen Damen und jungen Kavaliere der Nachbarschaft eilten im schönsten Putz nach Villers-Cotterets. Das Jagdhorn des Junkers Jean ertönte lauter als je in den Wäldern. Man sah wie reizende Traumbilder die schlanken Amazonen und gewandten Reiter auf herrlichen englischen Pferden vorüberjagen.

Abends war Ball und Schmaus im Schloss, wo sich die ganze aristokratische Gesellschaft nach beendeter Jagd zusammenfand. Nach der Tafel und vor dem Beginn des Balles wurden in schönen vergoldeten Kutschen Spazierfahrten gemacht, und Thibaut war in erster Reihe unter den Neugierigen, welche die Pracht der Gewänder und Spitzen bestaunten. Er dachte, warum er nicht einer jener jungen Kavaliere, in gesticktem Staatskleid sei, und warum er keine der schönen geputzten Damen zur Geliebten habe.

Agnelette schien ihm nur, was sie wirklich war, eine kleine Bäuerin, und die schöne Witwe Polet war doch im Grunde nichts als eine gemeine Müllerin. Wenn er in der Nacht, von seiner Meute begleitet, durch den Wald nach Hause ging, so überließ er sich den unseligsten Gedanken. Von solchen Lockungen umgeben, war es unmöglich, dass Thibaut auf dem einmal betretenen Irrwege stehen blieb, und nicht immer weiter von dem Pfad der Ehrlichkeit abwich. Was waren die wenigen Taler, die ihm der Gastwirt in der Stadt für das von den Wölfen erlegte Wildbret gab? Selbst nach Jahren wären diese Summen, hätte er sie aufgespart, nicht genügend gewesen, den geringsten seiner Wünsche zu befriedigen. Thibaut, der anfangs nur einen Wildbraten, dann das Herz Agnelettes, die Mühle der Witwe Polet gewünscht hatte, würde sich jetzt wohl kaum mit dem Schloss Ogny oder Longpond begnügt haben, so sehr hatten ihn die zarten Füßchen der Damen und die aus ihren seidenen Gewändern sich verbreitenden Düfte den Kopf verrückt und seine Begierden entflammt. Er meinte, er würde sehr töricht sein, immer arm zu bleiben, da ihm eine so gewaltige Macht zu Gebote stehe.

Er beschloss nun, diese Macht durch die abenteuerlichsten Wünsche geltend zu machen, wenn auch sein Haar einst einer feurigen Krone gleichen sollte.