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Die Geschichte vom Werwolf Teil 5

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 5
Der schwarze Wolf

Die erste Sorge Thibauts war sein Abendessen zu nehmen, denn er war sehr ermüdet und unter seinen Erlebnissen waren einige, die wohl Appetit machen konnten.

Sein Abendessen war freilich nicht so lecker, wie er gehofft hatte. Er hatte ja den Damhirsch nicht erlegt, aber er fand sein Schwarzbrot köstlich.

Er hatte dieses einfache Mahl kaum begonnen, so bemerkte er, dass seine Ziege gar jämmerlich blökte. Er glaubte, sie verlange nach Futter, und entfernte sich, um ihr einen Arm voll frisches Gras zu bringen.

Als er die Stalltür öffnete, kam die Ziege so ungestüm heraus, dass sie ihn beinahe umwarf. Dann lief sie, ohne sich um das Futter zu kümmern, ins Haus.

Thibaut lief der Ziege nach, um sie wieder in ihren Stall zu bringen. Aber es war unmöglich, er musste Gewalt brauchen, und auch der Gewalt leistete das arme Tier allen Widerstand, dessen eine Ziege fähig ist. Sie sträubte sich aus allen Kräften, während Thibaut sie bei den Hörnern zog.

Endlich brachte er sie wieder in den Stall. Aber trotz des reichlichen Futters, welches ihr Thibaut gelassen hatte, blökte sie immer fort. Der Holzschuhmacher stand verdrießlich zum zweiten Mal vom Tisch auf und öffnete die Stalltür so vorsichtig, dass die Ziege nicht entwischen konnte. Dann suchte er mit den Händen in allen Ecken, um die Ursache dieses Schreckens zu entdecken.

Plötzlich griff er den dichten warmen Balg eines fremden Tieres. Thibaut war keineswegs feige, aber er zog sich eilig zurück, ging in die Stube, nahm ein Licht und eilte wieder in den Stall.

Die Lampe fiel ihm beinahe aus der Hand, als er in dem Tier, welches seiner Ziege einen so großen Schrecken eingejagt hatte, den Damhirsch des Junkers de Vez erkannte … denselben, den er verfolgt und gefehlt hatte, denselben, der ihm eine so derbe Züchtigung bereitet hatte.

Thibaut schloss sorgfältig die Tür und trat vorsichtig näher.

Das arme Tier war so abgehetzt oder so zahm, dass es gar keinen Versuch machte, zu fliehen. Es sah auf Thibaut mit seinen großen schwarzen Augen, welche durch die Furcht noch ausdrucksvoller wurden.

»Ich habe wahrscheinlich die Tür offen gelassen«, sagte Thibaut zu sich selbst, »und der Damhirsch hat sich in seiner Angst hierher geflüchtet.«

Aber bei einigem Nachdenken erinnerte er sich sehr gut, dass der hölzerne Riegel sehr gut vorgeschoben gewesen war, als er die Stalltür vor einigen Minuten geöffnet hatte. Überdies schien der Ziege die Gesellschaft des neuen Gastes gar nicht zu behagen, und sie würde gewiss fortgelaufen sein, wenn die Tür offen gewesen wäre. Die Verwunderung Thibauts erreichte endlich den höchsten Grad, als er bemerkte, dass der Damhirsch mit einem Strick an der Krippe festgebunden war.

Er war keineswegs ein Feigling, aber der kalte Schweiß rann ihm von der Stirn und ein Schauer überlief ihn. Er verließ den Stall, verschloss die Tür und suchte seine Ziege, welche den Augenblick, wo er Licht geholt, benutzt hatte, um zu entfliehen. Sie hatte sich neben dem Herd niedergelegt und schien dieses Mal fest entschlossen, diesen Platz nicht zu verlassen.

Thibaut erinnerte sich sehr gut, dass er ruchloser Weise den Satan angerufen hatte, aber obwohl er erkannte, dass sein Wunsch wunderbarer Weise in Erfüllung gegangen war, so mochte er doch nicht an Teufelsspuk glauben. Dieser Schutz des Geistes der Finsternis machte ihm indes Angst und er versuchte zu beten. Aber als er die Hand zu feiner Stirn erhob, um ein Kreuz zu schlagen, sank sein Arm kraftlos nieder und er vermochte sich an kein Gebet zu erinnern. In seinem Kopf ging es schrecklich bunt her. Die bösen Gedanken stürmten mit solcher Gewalt auf ihn ein, dass es ihm schien, als hörte er sie rauschen und brausen wie die Wellen bei steigender Flut.

»Im Grunde«, sagte er zu sich, als er sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte, »ist dieser Damhirsch immer ein guter Fund, gleichviel wer mir ihn schickte, und ich wäre wohl ein Tor, ihn zurückzuweisen. Ich brauche ja das Tier nicht zu verzehren. Für mich wäre es zu viel und wenn ich Gäste einladen möchte, so würden sie mich anzeigen. Aber ich kann ja den Damhirsch zum Kloster Saint-Remy führen. Die Abtissin wird mir ihn teuer bezahlen, um ihren Nonnen eine Unterhaltung zu verschaffen. Die Luft eines geweihten Ortes wird den Zauber bannen, und die Hand voll Taler, die ich als Zahlung erhalten werde, kann mein Seelenheil nicht gefährden. Wie viele Tage müsste ich nicht arbeiten, um ein Viertel dieses leicht verdienten Geldes zu erwerben! Wenn mich der Satan zu weit führen will, so ist es immer noch Zeit, ihm zu entwischen. Ich bin ja kein Kind und habe meinen freien Willen.«

Der arme Verblendete hatte schon vergessen, dass er vor fünf Minuten nicht einmal seine Hand an die Stirn bringen, noch sich auf ein Gebet besinnen konnte. Aber der böse Geist ist sehr stark, wenn man ihm einmal die geringste Gewalt eingeräumt hat. Thibaut wusste sich mit so guten Scheingründen zu täuschen, dass er sich entschloss, den Damhirsch, gleichviel woher er komme, zu behalten, und der schönen Agnelette für den Verkaufspreis das Brautkleid zu kaufen.

Denn seine Gedanken wandten sich sonderbarer Weise auf Agnelette. Er sah in sie einem langen, weißen Gewand mit einem Lilienkranz und einem großen Schleier. Er meinte, der böse Geist würde nie seine Schwelle übertreten, wenn er einen so holden Schutzgeist im Haus hätte.

Nachdem sich Thibaut auf diese Weise mit seinem Gewissen abgefunden hatte, ging er ziemlich beruhigt in den Stall, warf Gras in die Krippe und bereitete dem Damhirsch eine weiche Streu.

Die Nacht verging ohne weiteren Zwischenfall und sogar ohne böse Träume.

Am anderen Morgen ritt der Junker Jean de Vez wieder auf die Jagd. Aber dieses Mal verfolgten die Hunde keinen schüchternen Damhirsch, sondern den Wolf, dessen Spur Marcotte in der Frühe gefunden hatte. Es war ein großer alter Wolf, obgleich man mit Erstaunen bemerkt hatte, dass er ganz schwarz war. Dabei war er kühn und unternehmend und schien den Jägern viele Mühe machen zu wollen. Nachdem er eine weite Runde durch die Wälder gemacht hatte, kam er wieder auf seine erste Spur zurück und führte die Jäger wieder an den Platz, wo Tags zuvor ihr Missgeschick begonnen hatte, nämlich in die Nähe von Thibauts Hütte.

Thibaut, der sich entschlossen hatte, Agnelette zu besuchen, war nicht sehr früh an die Arbeit gegangen und er hütete sich wohl den Damhirsch am hellen Tag durch den Wald zu führen, um ihn den Damen des Klosters Saint-Remy zu bringen. Der erste Waldhüter, der ihn angetroffen hätte, würde ihn festgehalten und in Strafe genommen haben. Nein, Thibaut wollte nach Anbruch der Nacht den Weg mit seinem Damhirsch machen.

Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Als Thibaut zum ersten Mal das Jagdhorn und Hundegebell hörte, häufte er vor seiner Stalltür einen großen Haufen Heidekraut auf, sodass die Tür den Blicken der Jäger entzogen wurde, falls sie etwa vor seiner Hütte anhalten würden. Dann ging er an sein Geschäft und arbeitete mit solchem Eifer, dass er gar nicht aufschaute. Plötzlich glaubte er an die Tür seiner Hütte ein Klopfen zu hören. Er wollte eben aufstehen und öffnen, als zu seinem größten Erstaunen ein gewaltiger, schwarzer Wolf auf den Hinterfüßen gehend in die Stube kam. Mitten in der Stube setzte sich der unheimliche Gast nach Art der Wölfe nieder und sah den Holzschuhmacher scharf an.

Thibaut ergriff eine Axt, die in der Nähe war, um den seltsamen Gast nach Gebühr zu empfangen, und um ihn in Schrecken zu setzen, schwenkte er die Axt.

Aber das Gesicht des Wolfes nahm einen seltsamen höhnischen Ausdruck an, und Thibaut hörte zu seinem Erstaunen ein lautes Gelächter. Er hatte wohl gehört, dass die Wölfe bellen wie Hunde, aber er hatte nie gehört, dass sie lachen wie Menschen.

Und was für ein Gelächter! Ein Mensch, der so gelacht hätte, würde Thibaut einen großen Schrecken eingejagt haben.

Er ließ den schon erhobenen Arm sinken.

»Das ist menschlicher Dank!«, sagte der Wolf mit lauter Stimme. »Diesem Burschen schicke ich auf sein Begehren den schönsten Damhirsch aus den Forsten Seiner Königlichen Hoheit, und nun will er mir zum Lohn den Kopf spalten.«

Als Thibaut eine der seinigen ähnliche Stimme hörte, begannen seine Knie zu schlottern und die Axt fiel ihm aus der Hand.

»Sei vernünftig«, fuhr der Wolf fort, »und lass uns als gute Freunde reden. Du wünschtest gestern den Damhirsch des Junkers de Vez und ich habe ihn in deinen Stall geführt und ihn an die Krippe gebunden. Mich dünkt doch, das ist mehr wert als einen Hieb mit der Axt.«

»Ich weiß ja nicht, wer du bist«, antwortete Thibaut.

»Ja so, du hattest mich nicht erkannt, das ist ein Grund.«

»Urteile selbst, konnte ich unter diesem hässlichen Pelz einen Freund vermuten?«

»Hässlich?«, sagte der Wolf, indem er seinen Pelz mit der blutroten Zunge leckte. »Du bist sehr schwer zu befriedigen. Doch es ist nicht von meinem Pelz die Rede. Bist du geneigt, den Dienst, den ich dir erwiesen habe, anzuerkennen?« ‘

»Allerdings«, erwiderte Thibaut mit einiger Verlegenheit, »aber ich muss wissen, was du verlangst. Was wünschest du?«

»Vor allem ein Glas Wasser, denn die verwünschten Hunde haben mich ganz außer Atem gehetzt.«

»Dein Wunsch soll gleich erfüllt werden.«

Thibaut eilte hinaus, um aus der nahen Quelle eine Schüssel voll frisches Wasser zu holen. Er bewies durch seine Eile, wie sehr er sich freute, so wohlfeilen Kaufes davon zu kommen.

Er stellte die Schüssel vor den Wolf hin und machte eine tiefe Verbeugung.

»Nun, ich sehe mit Vergnügen«, sagte der Wolf, »dass du zahm wirst.«

Der Wolf leckte das Wasser mit großem Behagen auf, dann legte er sich auf den Fußboden nieder.

»Das ist noch nicht alles«, setzte er hinzu.

»Noch etwas?«, fragte Thibaut schaudernd.

»Jawohl, und etwas sehr Dringendes … Hörst du das Hundegebell?«

»Ja, ich höre es, die Hunde kommen näher und werden in fünf Minuten hier sein.«

»Du musst mir die Hunde vom Halse schaffen.«

»Wie soll ich das anfangen?«, fragte Thibaut, der an die gestrige Züchtigung dachte.

»Du musst auf ein Mittel sinnen.«

»Es sind gar böse Hunde, und was du von mir verlangst, ist nicht weniger als die Rettung deines Lebens, denn wenn sie dich einholen, was sehr wahrscheinlich ist, so werden sie dich in Stücke reißen.«

»Ja, du hast recht«, erwiderte der Wolf ganz gelassen, »aber ich möchte mich nicht gern in Stücke reißen lassen.«

»Und wenn ich dir diese Fatalität erspare«, erwiderte Thibaut ziemlich dreist, »was für einen Lohn bekomme ich dann?«

»Was für einen Lohn? Du hast ja den Damhirsch.«

»Und ich habe deinen Durst gestillt. Wir haben unsere Rechnung ausgeglichen. Jetzt können wir ja ein neues Geschäft machen.«

»Gut. Was wünschest du von mir?«

»Es gibt Leute«, sagte Thibaut, »die ihre Lage und die deine missbrauchen und überschwängliche Dinge verlangen würden. Mancher würde sagen, ich will reich, mächtig, vornehm werden, und dergleichen. So werde ich es nicht machen. Gestern wünschte ich mir den Damhirsch, du hast mir ihn allerdings gebracht, aber morgen werde ich mir etwas anderes wünschen. Seit einiger Zeit kann ich nichts denken, als immer nur wünschen. Es ist eine Torheit und du wirst nicht immer Zeit haben, mich anzuhören. Du bist ja der leibhafte Gottseibeiuns, oder etwas dem Ähnliches. Lass daher alle meine Wünsche in Erfüllung gehen.«

Der Wolf schnitt ein höhnisches Gesicht. »Weiter nichts?«, sagte er. »Die Einleitung ließ einen sehr bescheidenen Wunsch erwarten.«

»O sei nur ruhig«, erwiderte Thibaut, »meine Wünsche sind bescheiden, wie es einem armen Landmann zukommt. Was kann unsereins wohl mehr wünschen, als ein Stück Land und einen kleinen Wald?«

»Ich würde deinen Wunsch gerne erfüllen«, sagte der Wolf, »aber es ist mir durchaus unmöglich.«

»Dann musst du eine Beute der Hunde werden, es bleibt dir nichts anderes übrig.«

»Das glaubst du und machst unbescheidene Forderungen, weil du wähnst, ich könne dich nicht entbehren.«

»Ich glaube es nicht, ich weiß es gewiss.«

»Nun dann sieh, betrachte den Platz, wo ich war«, sagte der Wolf.

Thibaut trat erschrocken zurück.

Der Platz, wo der Wolf gelegen hatte, war leer. Der Wolf war verschwunden und an der Stelle war keine Spur von ihm zu bemerken. An der Decke war nicht die kleinste Öffnung, im Fußboden nicht die geringste Spalte.

»Nun, glaubst du noch, dass ich mich ohne deine Hilfe nicht retten könne?«

»Aber wo bist du denn?«

»Immer an derselben Stelle.«

»Aber ich sehe dich nicht mehr.«

»Weil ich unsichtbar bin.«

»Aber die Hunde, die Jäger, der Junker Jean werden dich hier suchen.«

»Allerdings, aber sie werden mich nicht finden.«

»Wenn sie dich nicht finden, werden sie sich an mich halten.«

»Jawohl, wie es gestern geschah. Gestern wurdest du zu sechsunddreißig Hieben verurteilt, heute hingegen wird dir der Funker zweiundsiebzig zudiktieren, und Agnelette wird nicht mehr da sein, um dich durch einen Kuss zu erlösen.«

»Das fehlte noch! Was soll ich tun?«

»Lass den Damhirsch geschwind los, die Hunde werden sich in der Fährte irren und statt deiner die Hiebe bekommen.«

»Aber wie ist es möglich, dass so gute Hunde die Fährte eines Damhirsches für die eines Wolfes halten?«

»Das ist meine Sache«, antwortete die Stimme. »Nur verliere keine Zeit, sonst kommen die Hunde hierher, ehe du den Stall erreichst, und das wäre sehr fatal für dich.«

Thibaut ließ sich das nicht zweimal sagen. Er eilte in den Stall und band den Damhirsch los. Dieser lief sogleich zu der offenen Tür hinaus in den Wald.

Die Hunde waren nur noch hundert Schritte von der Hütte entfernt. Thibaut hörte dem Gebell mit großer Angst zu. Die ganze Meute stürmte auf seine Tür zu, aber plötzlich wandten sich die ersten Hunde links und die ganze Meute folgte. Die Hunde hatten die Wolfsfährte verloren und folgten der noch frischen Spur des Hirsches.

Thibaut atmete wieder frei, als die Meute sich immer weiter entfernte und der Junker sein Jagdhorn ertönen ließ. Thibaut ging wieder in seine Stube. Der Wolf lag ruhig auf derselben Stelle, und man sah nicht, wo er wieder zurückgekommen war.