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Detektiv Schaper – Das graue Gespenst – 3. Kapitel

Detektiv-SchaperM. v. Neuhof
Detektiv Schaper
Zweiter Teil
Das graue Gespenst
3. Kapitel
Die gescheiterte Brigg

Auf die drei furchtbaren Sturmtage mit ihren anhaltenden Regengüssen war endlich wieder ein sonnenklarer Tag gefolgt. Noch grollte die See, warf noch immer den weißen Gischt ihrer sich überstürzenden Wogen bis zu dem hölzernen Bootssteg hinauf, der bei jedem Anprall der Wasserberge zitterte, stöhnte und ächzte wie ein gepeinigtes, gereiztes Tier.

Mit dem Nachlassen des Orkans und unter den scheinbar die Natur zum Frieden mahnenden, besänftigenden Strahlen des vom wolkenlosen Augusthimmel herableuchtenden Tagesgestirns beruhigten sich die aufgepeitschten Wogen zusehends, wurden kleiner, zahmer, sodass bereits mehrere Boote des holsteinischen Fischerdorfes es gewagt hatten, zu der großen Brigg hinauszurudern, die dort draußen, den Bug hoch aufgerichtet und ihrer gesamten Takelage beraubt, auf der etwa fünfhundert Meter vom Strand entfernten Sandbank inmitten der schäumenden Brandung lag, nun ein hilfloses Wrack und vor drei Tagen noch ein schmucker Segler, den erst der verhängnisvolle Sturm in regenfinsterer Nacht aus seinem Kurs gegen die gefährliche Westküste von Holstein getrieben hatte.

Doktor Heinz Gerster, der neben Frau Käti Deprouval auf der Spitze des Bootssteges stand, ließ soeben das Glas sinken, mit der er bisher nach dem gestrandeten Fahrzeug hinübergeschaut hatte.

»Ein Boot kommt bereits zurück. Da werden wir bald Näheres über das Schiff erfahren, gnädige Frau«, sagte er interessiert.

»Ob denn wirklich die ganze Besatzung den Tod in den Wellen gefunden haben mag?«, meinte die schlanke, blasse Dame mit ihrer müden, aber selten wohlklingenden Stimme.

»Leider besteht sehr wenig Hoffnung, dass sich auch nur ein einziger von der Besatzung gerettet hat«, erwiderte Doktor Gerster.

Frau Deprouval schauderte wie fröstelnd zusammen.

»Die armen, armen Leute«, sagte sie leise.

Wieder führte Doktor Gerster sein Glas an die Augen.

»Keine dreihundert Meter sind sie noch entfernt«, erklärte er ganz aufgeregt.

Und nach einer Weile: »Wirklich, ich täusche mich nicht. Sie haben einen sechsten Mann im Boot. Das ist kein Fischer. Vielleicht, nein, was rede ich – bestimmt ist es einer der Besatzung.«

Immer mehr näherte sich das auf den Wogen auf und ab tanzende kleine Fahrzeug dem Steg. Jetzt konnte man schon mit bloßen Augen die Gesichter erkennen.

Da – was bedeutete das? – Wahrhaftig, das Boot wendete plötzlich und kehrte mit schnellen Ruderschlägen zu dem Wrack zurück.

»Begreifen Sie diese hastige Umkehr?«, meinte Heinz Gerster, das Fernglas absetzend.

Keine Antwort. Unwillkürlich blickte er auf seine Nachbarin. Weshalb schwieg sie so hartnäckig?

Doktor Gerster fuhr erschreckt zusammen. Ein Blick in Frau Kätis Gesicht klärte ihn auf – denn leichenblass, die Augen halb geschlossen, lehnte sie schwer, wie mit einer Ohnmacht kämpfend, am Geländer des Steges.

»Käti – Käti, was haben Sie, was fehlt Ihnen?«

Ängstliche Sorge lag im Ton seiner Stimme. Und ganz unbewusst hatte er die vertraute Anrede gebraucht, zu der nichts, nichts ihn berechtigte, die im Gegenteil dieser Frau gegenüber nichts als eine Verletzung der schuldigen Achtung war.

Mit aller Kraft raffte sie sich auf. Und es gelang ihr wirklich, etwas wie ein Lächeln mühsam hervorzuquälen.

»Eine momentane Schwächeanwandlung – nichts weiter«, sagte sie mit leisem Seufzer.

Er hatte vorhin, um sie zu stützen, die Hand um ihre Taille gelegt. So lehnten sie nun dicht aneinander, ganz dicht. Keines regte sich, keines sprach ein weiteres Wort. Und doch fühlten sie nur zu deutlich, wie ein Strom unaussprechlicher Seligkeit von Herz zu Herzen floss, wie ihre Pulse schneller und schneller jagten.

Der Augenblick, den sie beide nach diesen vier Wochen, die sie, nur auf sich angewiesen, in dem kleinen Fischerdorf verlebt hatten, so sehr fürchteten, war da.

Endlich erwachte sie wie aus einem wunderbaren Traum. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, zaghaft machte sie sich von ihm los und sagte mit ihrer weichen, süßen Stimme.

»Seien wir verständig, mein Freund. Wir wissen, dass wir einander nie angehören können, nie! Und – ich danke Ihnen, Heinz, danke Ihnen aus vollem Herzen dafür, dass Sie diese Minute stillen Selbstvergessen nicht ausgenutzt haben -nicht das taten, was ein wenig ehrenhafter Charakter vielleicht gewagt hätte. Unsere Lippen sind rein geblieben, damit auch unsere Freundschaft. Und die wollen wir uns erhalten – bitte -bitte.«

Mit festem Druck fügten sich ihre Hände ineinander .

Heinz Gersters Kehle war wie zugeschnürt, jeder Nerv bebte an ihm. Alles in ihm bäumte sich auf gegen das Schicksal, das sie trennte, das ihre Wege nie zusammenführen würde, nie.

Da sprach sie schon weiter, gab seinen Gedanken eine andere Richtung.

»Lieber Freund, Sie haben mich schon so oft gebeten, Ihnen meine Lebensgeschichte zu erzählen. Vielleicht tue ich es heute. Kommen Sie nachmittags zu mir in das kleine Gärtchen unter die breitästige Linde. Sie sollen sehen, dass ich Vertrauen zu Ihnen habe. Das soll mein Dank sein. Und noch etwas anderes. Bleiben Sie jetzt bitte hier und geben Sie acht, ob wirklich einer der Schiffbrüchigen gerettet ist. Nachher erzählen Sie mir alles, nachher. Auf Wiedersehen.«

Leicht, federnden Schrittes ging sie über die Planken der Bootsbrücke hin. Versonnen schaute Doktor Gerster ihr nach.

Ein tiefer, qualvoller Seufzer entrang sich seiner Brust.

Warum kann es nicht sein, warum?, dachte er, mit dem Geschick hadernd, das ihn gerade hier in dem kleinen Fischerdorf zufällig die Frau kennenlernen ließ, die er niemals, niemals vergessen würde.

Frau Käti war inzwischen in die Dünen eingebogen, wo im Schatten eines größeren, zur Reparatur an Land geschleppten Kutters neben einem jungen, weißgekleideten Mädchen ein etwa sechs Jahre alter Knabe im Sand spielte. Der Kleine, eine wahre Ausgeburt von Hässlichkeit, mit einem übergroßen Kopf und krampfhaft verzerrten Zügen, streckte beim Anblick der Mutter die dünnen Ärmchen aus und rief mit seiner schrillen, quäkenden Stimme: »Ricki, Kuchen … Kuchen … Kuchen …«

Unaufhörlich wiederholte er das letzte Wort und zeigte dabei mit einem freudigen Lächeln, das sein missgestaltetes Antlitz noch mehr verzerrte, auf verschiedene Sandtürmchen, die er mithilfe von Holzformen hergestellt hatte.

Bei dieser Begrüßung, die der bedauernswerten Frau so recht wieder die ganze Größe ihres Unglückes vor Augen führte, vermochte Käti Deprouval die heißen Tränen gerade in ihrer jetzigen Stimmung nicht mehr zurückzuhalten.

Wildes Schluchzen ließ ihren zarten Körper wie im Krampf erbeben. Achtlos setzte sie sich nieder, vergrub das tränenfeuchte Gesicht in beide Hände und gab sich ihrem Schmerz zügellos hin.

Das junge Mädchen, die Erzieherin des kleinen Richard, redete ihr tröstend zu. Alles vergeblich. Schließlich nahm sie mit sanfter Gewalt die Fassungslose in ihre Arme und streichelte ihr beruhigend über das blonde, nur von einem dünnen Schleier verdeckte Haar. Das half. Langsam versiegten die Tränen, die Hände gaben das feine Gesichtchen frei.

»Aber liebe, liebe Frau Deprouval, woher nur wieder dieser Anfall wilder Verzweiflung?«, sagte Rita Meinas leise und nahm Kätis Hände tröstend in die ihren.

Frau Käti nickte traurig vor sich hin.

»Wenn Sie wüssten«, sagte sie leise und presste die Finger des jungen Mädchens mit fast schmerzhaftem Druck. »Oh dieses Entsetzen, wenn so plötzlich die Vergangenheit vor einem wieder auftaucht, wenn Erinnerungen wach werden, die mich mit Abscheu und Grauen erfüllen …«

Und plötzlich, ganz unvermittelt, sprang sie dann auf und sagte hastig:

»Kommen Sie, Rita, wir wollen gehen. Es ist zu heiß hier am Strand.«

In demselben Augenblick näherte sich wieder eines der Fischerboote, die zu der Brigg hinausgefahren waren, dem Steg. Fluchtartig eilte Frau Käti davon, indem sie ihr unglückliches, schwachsinniges Kind mit sich zog.

 

Heinz Gerster hatte den alten Fischer Iversen beiseite genommen und suchte von ihm zu erfahren, weswegen sie so plötzlich wieder umgekehrt und zu dem gestrandeten Fahrzeug zurückgerudert waren.

»Ja, sehen Sie, Herr Doktor«, sagte der Alte, »das war nu ‘ne dolle Sach. Also wir fanden da drüben an Bord einen einzigen Herrn, einen Passagier der Karola. So heißt nämlich die Brigg. Die anderen, ja, die hat all die See verschlungen – alle. Die Leichen werden wohl bald an den Strand getrieben werden. Aber ob grad’ hier bei uns, ist fraglich. Der Herr von der Karola packte denn nu seinen Koffer in unser Boot, und wir stießen ab. Mit ‘en Mal, dicht an ‘en Bootssteg, bückt er sich und sagt so recht barsch: ›Augenblicklich umkehren. Ich hab’ was vergessen. Zehn Mark gibt’s, wenn ihr euch beeilt.‹ Na, zehn Mark! Wir taten’s. Dann kletterte er wieder allein auf die »Karola« zurück. Wir warten und warten. Er kommt nicht wieder. Und dann steckt er plötzlich den Kopf über die Reling und ruft: ›Achtung!‹ Und damit ist er auch schon unten im Boot. Was, denken Sie, hat er geholt? Eines der Schiffsfernrohre, Herr Doktor! Ne komische Sach’, nicht wahr?! Und, während wir an Land paddeln, lässt er das Glas nicht von den Augen, sucht damit immer den Strand ab.

›Einsame Küste hier‹, meint er zu mir.

›Freilich, Herr. Auf zehn Meilen ist unser Dorf das einzige‹, sag ich.

›Habt ihr auch Badegäste?‹, fragt er nach ‘ner Weile.

›Waren gegen hundert hier, sind aber schon wieder weg‹, sag ich zu ihm. ›Nur vier haben bis jetzt ausgehalten«, setzte ich hinzu.

›So. Wohl Herren alles?‹, fragt er wieder.

›Nee – das gerade nich. Eine Münchener Dame mit ihrem Kind und eine Erzieherin und der Doktor Gerster‹, geb ich zur Antwort.

Da wurde er ganz still. Und mit einem Mal verlangt er, wir sollen ihn nicht am Bootssteg, sondern weiter unten am Strand absetzen.

Nu, wir taten ihm den Gefallen. Und dann musste ihm Johann Petersen gleich einen Wagen bestellen. Er wollte sofort nach Schülp zum Herrn Landrat fahren, dem er Wichtiges mitzuteilen habe. Nachher würd’ er denn zurückkommen und dem Gemeindevorsteher seine Aussage zu Protokoll geben, nämlich über die Strandung. Das muss so sein, Herr Doktor. Seinen Koffer ließ er hier. Und dann fuhr er mit des Kreuzwirts Wagen davon. Abends sei er wieder zurück, sagt er noch.«

Heinz Gerster schlenderte darauf sehr nachdenklich seiner Sommerwohnung zu, die er bei dem Pfarrer des Dorfes gemietet hatte.

Nach dem Mittagessen legte er sich in dem schattigen Garten in seine Hängematte und versuchte die Zeit bis zum Kaffee zu verschlafen.

Endlich konnte er sich auf den Weg zu der Frau Käti Deprouval machen.

Er fand das Nest leer.

»Plötzlich abgereist«, sagte ihr Wirt achselzuckend. »Hier – diesen Brief soll ich Ihnen abgeben, Herr Doktor.«

Heinz Gerster Riss den Umschlag auf und las … las …

Lieber Freund!

In unser beider Interesse halte ich es für das Beste, ohne langen Abschied von Ihnen zu gehen. Suchen Sie mich zu vergessen! Muss sein. Und – nochmals danke ich Ihnen für alles das, was Sie mir gegeben haben durch Ihre zarte, vornehme Aufmerksamkeit, Ihre sorgende Freundschaft.

Leben Sie wohl! Auf ewig! K.D.

Heinz Gerster atmete schwer. Ihn fröstelte plötzlich. Und dann eilte er seinem Heim zu. Ohne rechts und links zu blicken, schritt er hastig dahin. Käti hatte recht. Er musste vergessen! Sie war ja nicht frei, hatte einen Gatten, ein Kind! Und dies Vergessen sollte ihm seine Arbeit bringen. Schon so oft war diese seine beste Trösterin gewesen.