Heftroman der Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Die Totenhand – Teil 44

Die-TotenhandDumas-Le Prince
Die Totenhand

Fortsetzung von Der Graf von Monte Christo von Alexander Dumas
Dritter Band
Kapitel 4 – Der Zigeuner

Die kleine Familie des Grafen Monte Christo war in einem der Säle des Palastes versammelt.

Eugenie Danglars und Luise d’Armilly waren zugegen.

Der Saal war sehr geräumig, geschmückt mit altertümlichen Möbeln und verziert durch einige große Gemälde, welche nach der Versicherung des Eigentümers dieses Palastes nichts Geringeres waren, als die aus dem Schiffbruch des ehemaligen künstlerischen Glanz Venedigs geretteten Trümmer, welche man dem Pinsel des Tizian, des Tintoretto und des Paolo Veronese verdankte, die aber in der Tat in den Augen eines Kenners nicht einmal einem Palma, Bellini und Montegna zugeschrieben werden konnten und nichts weiter waren als eine schwache Kopie dieser drei Schüler der venezianischen Schule, ausgeführt durch einen jener unbekannten Pinsel, welche mit der ganzen Unverschämtheit der Pedanterie die Werke der großen Meister stehlen und entehren.

Die gewaltigen Gemälde, die finsteren Möbel, welche den Staub so vieler Jahrhunderte eingesogen hatten, trugen auf eigentümliche Weise dazu bei, den geheimnisvollen Auftritt, der sich vorbereitete, zu erhöhen. Haydee hielt ihr Kind in den Armen. Eugenie und Luise saßen neben ihr und der Graf stand aufrecht, den linken Arm auf die Marmorplatte eines Möbels gestützt, welches halb Kommode, halb Schreibtisch war.

Das Licht einer venezianischen Lampe wurde durch einen grünen Schirm gemildert. Es herrschte das tiefste Schweigen.

Nach einigen Augenblicken des Wartens erschien der Zigeuner.

Es war ein noch junger Mann, von schlankem, anmutigem Wuchs. Sein einfaches Gewand, eng an dem Körper anliegend, zeigte die ganze Eleganz des spanischen Kostüms. Sein entschlossenes Wesen, sein lebhaftes Gesicht, der geheimnisvolle Ausdruck seines Blickes, alles trug dazu bei, um den Frauen vollkommenes Vertrauen, den Männern unbestimmte Besorgnisse einzuflößen.

Monte Christo blieb regungslos stehen und richtete kaum einen flüchtigen Blick auf den Eintretenden.

Haydee lächelte und klopfte leise mit der Spitze ihres Fingers auf die Lippen des Kindes, als wollte sie es ermuntern.

»Guten Abend, Signore«, sagte der Zigeuner in schlechtem Italienisch und indem er bemüht war, seinen Worten den spanischen Akzent zu geben.

»Ist es wahr«, sagte er dann, »dass ich hierher gerufen wurde, um das Geheimnis Ihrer Geschicke zu offenbaren, meine schönen Damen? Um zu enthüllen, was in Ihrer Zukunft Böses oder Gutes liegen kann?«

»Fangen Sie an«, murmelte der Graf.

»Bei Ihnen, Signore, wenn Sie es erlauben?«

Der Graf lächelte geringschätzig.

»Mein schöner Kavalier«, sagte der Zigeuner, »Sie haben die Festigkeit des Genies. Ich brauche Sie bloß anzusehen, um zu wissen, dass Sie einem unerschrockenen Schiff auf dem Meer des Lebens gleichen! In Ihren Zügen sehe ich die unverkennbaren Zeichen einer stürmischen Vergangenheit! In der etwas erweiterten Pupille des Auges, auf den unregelmäßig geschlossenen Lippen lese ich das Gefühl einer heftigen Leidenschaft. Es ist eine Knospe, die nicht zur Blüte gelangte!«

»Sie verlieren Ihre Zeit bei Dingen von geringem Interesse!«, bemerkte der Graf, der ungeduldig zu werden anfing. »Lassen Sie die Vergangenheit ruhen, die schon weit hinter uns liegt, und beschäftigen Sie sich mit der Zukunft, da Sie die eitle Anmaßung besitzen, das Geheimnis derselben gleich Gott zu kennen, dem allein sie angehört.«

»Geben Sie mir Ihre Hand!«, sagte rasch der Zigeuner.

»Hier ist sie«, entgegnete der Graf mit einer Bewegung der Geringschätzung.

Es entstand ein Augenblick des Schweigens. Der Zigeuner warf den Kopf in die Höhe, wandte sich dann zu Haydee und murmelte mit finsterem Ausdruck die Worte: »Arme Haydee!«

Der Graf machte eine Bewegung der Überraschung, und Haydee drückte einen Kuss auf die Lippen ihres Kindes.

»Hier ist die Erdlinie«, fuhr der Zigeuner fort, welcher die Hand Monte Christos nicht losließ, auf dessen Stirn sich einige Tropfen kalten Schweißes zu zeigen begannen.

»Machen Sie es kurz!«, murmelte er.

»Das genügt!«, sagte der Zigeuner, indem er die Augen zum Himmel erhob und dann wieder zu Boden senkte.

»Sprechen Sie!«

»Ich darf nicht!«

»Weshalb nicht?«

»Es ist unmöglich!«

»Ei, Sie machen einen schönen Wahrsager!«, rief Monte Christo mit spöttischem Lachen, denn er schrieb die Verlegenheit des Zigeuners der Unwissenheit zu.

»Nun wohl, Signore, um Ihnen zu beweisen, dass ich nicht ein so schlechter Prophet bin, wie Sie zu vermuten scheinen, willigen Sie ein, mich heimlich zu hören.«

»Gern, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich nicht einwilligen werde, ein halbes Dutzend sinnloser Worte sich in den Mantel des Geheimnisses hüllen zu lassen.«

»Das wollen wir sehen«, sagte der Zigeuner mit besonderer Betonung, indem er mit dem Grafen zu einer entfernten Ecke des Saales ging.

»Signore«, sagte nun der Zigeuner, »sahen Sie zufällig die weiten Wüsten Afrikas, in denen nicht ein einziger Tropfen sich findet, um den Durst des Reisenden zu stillen? Bemerkten Sie dort einen einsamen Palmbaum, der sich auf dem Boden erhob, auf dem alles ausgedorrt und verbrannt erstirbt? Haben Sie sich dann nie selbst die Frage vorgelegt, aus welchem Grund dort der Baum lebt, trotzend dem Sturm und ihn ertragend, ebenso wie die Hitze und die Dürre, und auf seinen vergilbten Blättern die Geschichte mehrerer Jahrhunderte eingegraben zeigend?«

»Was wollen Sie daraus schließen?«, fragte der Graf.

»Signore, die Wüste sei das Leben, der Sturm und die Dürre das Unglück. Die Jahrhunderte seien die Jahre, der Palmbaum sind Sie gewesen.«

»Ich danke, mein vortrefflicher Prophet, aber welche Bürgschaft leisten Sie mir für die Wahrhaftigkeit Ihrer Worte?«

»Sie sind schwer zu befriedigen, Signore«, erwiderte der Zigeuner. »Ich kenne Sie nicht, ich kann also keine Tatsachen Ihres vergangenen Lebens zusammenstellen, um daraus mit einiger Gewissheit auf Ihre Zukunft zu schließen, gleichwohl kann ich Ihnen sagen, dass ich die verdorrte Hand eines Phantoms Sie bedrohen sehe!«

»Das ist unser aller Geschick!«, erwiderte der Graf gleichgültig.

»Mit dem Unterschied, dass Sie das verhängnisvolle Ziel erreichen werden, wenn Ihre Brust schon nicht mehr genug Atem erhält, um einen Seufzer auszustoßen, und wenn unter Ihren Augenwimpern keine Träne mehr hervordringt, die nicht mit Blut getränkt ist.«

Bei diesen Worten erbebte der Graf unwillkürlich, und seinen forschenden Blick auf das sonnenverbrannte Gesicht des Zigeuners heftend, suchte er in demselben die Lösung eines Rätsels zu finden, das er zu ahnen begann. Aber das Gesicht des Zigeuners war regungslos wie das einer Bildsäule.

»Sie sehen dieses Kind«, sagte Haydee, als er kaum seine Worte gegen den Grafen beendet hatte. »Prophezeien Sie ihm!«

»Ich werde ihm seine Zukunft verkünden, Signora. Wenn indes irgendjemand von Ihnen noch mich zu befragen wünscht, so möchte ich mit diesem unschuldigen Wesen den Abschluss machen, Signora«, fuhr er fort, indem er sich Eugenie gegenüberstellte. »Ihr Gestirn muss glücklich sein. Wollen Sie, dass ich es befrage?«

»Das kümmert mich wenig«, murmelte Eugenie.

»Oh, sprechen Sie«, rief Haydee hastig. »Das ist unterhaltend. Sprechen Sie!«

»Nun wohl denn! Haben Sie die Güte, mir Ihre Hand zu reichen.«

Eugenie gab ihm ihre Hand, und während der Zigeuner mit der Prüfung derselben beschäftigt war, bewahrten alle das tiefste Schweigen, indem sie das Resultat der kurzen Forschung erwarteten.

»Sie haben eine heftige Liebe empfunden«, sagte der Zigeuner, »eine Liebe jener Art, die wir nur einmal in diesem Leben fühlen. Sie sind das Opfer dieser gewaltigen Leidenschaft geworden, indem Sie in den berühmten campi lugentes, den Zoll der Schmach und der Verzweiflung entrichteten! Fern von Ihnen erblicke ich Ihre Mutter, die vergeblich über Sie und für Sie reichliche Tränen vergießt! Es mangelt ihr das Brot. Sie werden es ihr reichen, wenn Sie sich von dem überzeugt haben, was eine Tochter ihrer Mutter schuldig ist! Legen Sie Ihre Trauerkleider bereit, denn unter dem Schwert der Gerechtigkeit wird das Haupt des Mannes fallen, den Sie lieben!«

Eugenie, welche während dieser Worte des Zigeuners zuerst alle Zeichen einer gewaltigen Aufregung gegeben hatte, stieß einen herzzerreißenden Schrei aus, sobald er endete.

»Elender!«, rief der Graf, indem er hastig auf ihn zutrat.

»Ich sagte die Wahrheit, Signore«, erwiderte der Zigeuner mit demütigem, unterwürfigem Wesen, denn er hatte an einer Bewegung Haydees bemerkt, dass diese entschlossen war, ihn den Wirkungen des Unwillens zu entziehen, den der Graf gegen ihn hegen konnte.

Indes war Eugenie bleich und zitternd aufgestanden. Luise ergriff lebhaft ihren Arm und versuchte sie zu stützen.

»Lass uns fliehen, Luise, lass uns fliehen!«, rief Eugenie wie außer sich. »Diesen Menschen zeichnet der Stempel des Verhängnisses.«

Dabei deutete sie mit dem Finger voll Entsetzen auf den Grafen Monte Christo.

»Ach, meine Mutter – meine arme Mutter«, rief sie dann weiter. »Ich tat sehr unrecht, dich zu verlassen! Lass uns fliehen!«

Bei diesen Worten entriss sich Eugenie den Händen ihrer Freundin, lief, von ihr gefolgt, durch den Saal und verließ den Palast.

Der Graf blieb starr vor Staunen zurück und Haydee betrachtete voll lebhafter Teilnahme den sonderbaren Auftritt, indem sie ihr Kind fest an die Brust drückte.

»Nun, mein Herr Zauberer«, sagte der Graf, indem er eine Börse zu den Füßen des Zigeuners warf. »Dein Geschäft ist beendet. Du kannst gehen.«

»Noch nicht«, rief Haydee. »Es fehlt noch die Prophezeiung für meinen Sohn.«

»Was sagst du, Haydee? Siehst du denn nicht, dass dieser Elende ein Betrüger ist, der uns mit seinen törichten Prophezeiungen in Furcht zu setzen beabsichtigt?«

»Oh, ich erkenne, dass er die Wahrheit gesagt hat«, antwortete Haydee und fügte dann rasch hinzu: »Was könnte er in Beziehung auf die Zukunft dieses unschuldigen Wesens Böses sagen? Setzen Sie sich, mein Herr und Gebieter, lassen Sie uns beide unsern teuren Sohn in die Arme nehmen, und hören wir dann die Prophezeiungen an.«

Der Graf war zwar lebhaft ergriffen durch alles Vorgefallene, aber er konnte sich dennoch der Forderung Haydees nicht entziehen.

Sie setzte sich an seine Seite und er legte den Arm um ihren Leib, indem er mit der anderen Hand das Kind hielt, welches zwischen ihnen beiden auf ihren Knien saß.

Das liebliche Geschöpf schien sehr glücklich zu sein, schlug in seine kleinen Händchen und lächelte den Urhebern seiner Tage zu, als wollte es sie für die Liebe belohnen, die sie ihm widmeten.

Der Zigeuner näherte sich dieser lieblichen Gruppe.

Auf seinem bleichen Gesicht, das ein schwarzer Bart, glänzend wie Ebenholz, umgab, lag ein teuflisches Lächeln, dessen Ausdruck dem forschenden Blicke des Grafen nicht entging.

Haydee nahm die kleine Hand des Kindes und streckte sie in der Richtung gegen den Zigeuner aus.

»Hier ist seine Hand«, sagte sie.

Der Zigeuner betrachtete sie schweigend einige Sekunden lang mit derselben Aufmerksamkeit und demselben Ernste wie zuvor.

»Sehr gut«, sagte er dann. »Ich habe genug gesehen.«

»Was wissen Sie?«

»Für den Augenblick nur wenig.«

»Sprechen Sie.«

»Dieses Kind wird glücklich sein, sehr glücklich, nachdem es große Widerwärtigkeiten überstanden hat. Aber diese Widerwärtigkeiten können vermieden werden«, fügte er hinzu.

»Sagen Sie, wie?«

»Das Kind ist unter dem Einfluss eines bösen Zeichens geboren! Indessen nach dem, was mir diese gebogene Linie sagt, und …«

»Welche Linie?«, fragte Haydee, indem sie mit dem Blicke allen Bewegungen des Zigeuners folgte.

»Diese hier, die von dem letzten Gelenk des Zeigefingers ausgeht und sich hier in die Handfläche verliert.«

»Ich sehe sie. Nun gut, was sagt diese Linie?«

»Dass dieses Kind im Orient geboren ist – in Konstantinopel allem Anschein nach.«

Haydee sah den Grafen an, sehr befriedigt durch die Wahrheit, welche in den Worten des Zigeuners lag.

»Deshalb«, fuhr dieser fort, »wird es nicht so unglücklich sein, wie es hätte geschehen können. Indes wird es nötig sein, einige Mittel anzuwenden, um das Unglück zu vermeiden.«

»Sprechen Sie, sprechen Sie – alles, was in unserer Macht liegt, wird geschehen!«, sagte Haydee.

»Es wird diese Woche in Venedig für die Armen ein Fest gefeiert werden«, sagte langsam der Zigeuner. »Sie müssen dabei mit dem Kind erscheinen und dasselbe das Brot der Barmherzigkeit essen lassen. Es wird gut sein, wenn Sie und Ihr Gemahl es ebenfalls teilen, um sich von jedem Gefühl der Eitelkeit und des Stolzes, das vielleicht in Ihrem Herzen ruht, zu läutern. Dann müssen Sie es so einzurichten versuchen, dass dieses Kind den Kuss von drei Armen empfängt, die es zu diesem Zweck auf den Arm nehmen.«

»Nichts ist leichter!«, sagte Haydee. »Wir werden alles tun, was er uns sagt, nicht wahr, mein Freund?«, fragte sie, indem sie sich mit liebevollem Vertrauen an den Grafen wendete.

»Signora«, fuhr der Zigeuner fort, »wenn Sie das tun, was ich Ihnen sage, so dürfen Sie überzeugt sein, dass Sie von dem Horizont dieses so reinen Lebens die wenigen Wolken entfernt haben, die ich darin bemerkte! Gute Nacht! Die Heilige Jungfrau nehme Sie in ihren Schutz und ein guter Geist wache über die Wiege Ihres Sohnes!«

Bei diesen Worten wollte der Zigeuner sich entfernen, und Haydee, auf deren Lippen das Lächeln der Hoffnung schwebte und deren Blick durch Tränen getrübt war, welche ein erhabenes Gefühl in ihre Augen gelockt hatte, streckte ihre Hand gegen den Zauberer aus und bot ihm einen prachtvollen Ring, den sie am Finger trug.

Der Zigeuner nahm den Ring und küsste ihn mit dem Ausdruck der tiefsten Ehrfurcht, gemischt mit einer großen Befriedigung.

»Nun, mein Herr und Gebieter«, sagte Haydee mit Stolz zu ihrem Gatten, dessen besorgte Blicke den sich entfernenden Zigeuner durch den Saal zu begleiten schienen. »Ich sagte Ihnen ja, dass unser Sohn glücklich sein würde! Werden wir zu dem Festmahl der Armen gehen?«

»Wir werden gehen!«, sagte Monte Christo.

Haydee schlang ihren schönen Arm um seinen Hals, zog sein Gesicht zu sich nieder und presste ihre brennenden Lippen auf die Wangen des Grafen.