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Zehn Jahre

10-JahreC. C. Slaterman

Zehn Jahre

Claudia Bürger schlüpfte hastig in ihre Strickjacke und öffnete die Haustür gerade in dem Moment, als das Postauto wieder wegfuhr.

Sie ging hinaus, lehnte die Tür an und lief, so schnell sie konnte, durch den Garten.

Es regnete in Strömen.

Alle Schleusen des Himmels schienen sich über ihrem Haus geöffnet zu haben.

Der kalte Regen peitschte in ihr Gesicht.

Sie hatte keinen Schirm mitgenommen, ein Fehler, wie sie bereits nach wenigen Schritten feststellen musste. Aber es war nicht mehr zu ändern.

Wieder zurück im Haus schüttelte sie sich erst einmal die nassen Haare aus dem Gesicht, um überhaupt wieder etwas sehen zu können.

Dann drückte sie mit dem Absatz die Eingangstür hinter sich ins Schloss und lief durch den Flur. Normalerweise jagte man bei so einem Wetter nicht einmal einen Hund vor die Tür, aber der Beruf ihres Mannes und die damit einhergehende gesellschaftliche Stellung machten den morgendlichen Gang zum Briefkasten unumgänglich.

Stirnrunzelnd betrachtete sie das Sammelsurium an Briefen, Zeitschriften und Werbesendungen. Wie jeden Morgen landete der Großteil der Post auch diesmal ungelesen auf dem schmalen Schränkchen der Flurgarderobe. Den Rest deponierte sie wie immer auf dem Kaminsims im Wohnzimmer.

Sie war gerade auf dem Weg ins Bad, um sich trockene Sachen anzuziehen, als sie das Geräusch zum ersten Mal hörte.

Irritiert blickte sich Claudia Bürger im Wohnzimmer um.

Irgendwo im Raum klingelte ein Handy, zwar seltsam gedämpft, aber dennoch stetig und unüberhörbar.

Stephans Handy, sie erkannte es sofort an der Tonfolge.

Keiner der Professoren der hiesigen Universität, außer ihrem Mann, kam sonst auf die Idee, als Klingelton einen Song von AC/DC zu wählen, jener unsäglichen australischen Rockband, deren Musik ihrer Meinung nach jedem halbwegs gebildeten Menschen bereits nach den ersten Takten Kopfschmerzen verursachen musste.

»Dirty deeds, done dirt cheap, dirty deeds, done dirt cheap …«

Urwaldmusik, durchzuckte es Claudia.

Die schlanke Professorinnengattin ließ ihre Blicke suchend durch den Raum gleiten, aber das Handy blieb weiterhin unsichtbar.

Dennoch wusste sie mit dem nächsten Klingeln sofort, wo sie nachsehen musste.

Sie war bekannt dafür, dass sie Ohren wie ein Luchs hatte, und in der Tat konnte sie sich auch diesmal wieder auf ihr ausgezeichnetes Gehör verlassen.

Zielsicher steuerte sie das kissenüberladene Monstrum von Sofa zu, das fast die gesamte Nordwand ihres Wohnzimmers einnahm.

Das Klingeln war in der Zwischenzeit verstummt.

Aber das störte Claudia nicht, sie wusste ja, wo sie fündig werden würde.

Komisch, dachte Claudia, als sie das erste Kissen anhob und es zu Boden fallen ließ. Stephan hatte sein Handy eigentlich immer bei sich, sie konnte sich nicht entsinnen, dass er jemals ohne aus dem Haus gegangen war.

Ein seltsames Gefühl begann sich langsam in ihrer Magengegend auszubreiten.

Sollte irgendetwas …

Ach was, dachte Claudia und schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich ist es ihm heute Morgen beim Zeitungslesen einfach aus der Hosentasche gerutscht und er hat es nicht bemerkt.

Jetzt ruft er an und wird mich bitten, ihm …

Claudia Bürger blieb so abrupt stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.

Ihre Hand, mit der sie das nächste Kissen angehoben hatte, verharrte mitten in der Bewegung.

Der Anblick, der sich ihr darbot, entsprach in keiner Weise dem, was sie vermutet hatte.

Das kleine, schwarze Handy mit dem kaum mehr als daumennagelgroßen Display sah wie ein asiatisches Billigprodukt für Kleinkinder aus, die gerade dem Windelalter entwachsen waren.

Das Teil konnte unmöglich Stephan gehören, für den schon von Berufs wegen Kamera und Internetanschluss Grundvoraussetzung waren, während dieses Ding da vor ihr höchstens zum Telefonieren taugte.

Trotzdem lag es hier in ihrem Wohnzimmer und jemand hatte versucht anzurufen.

Neugierig ließ sie ihren Zeigefinger über die Tastatur gleiten.

Die erste SMS, die sie dabei zu lesen bekam, fand sie noch irgendwie süß, nach der zweiten sank sie mit bleichem Gesicht auf das Sofa und nach der dritten wusste sie nicht, ob sie weinen oder schreien sollte.

 

***

 

»Nein, mein Gott, nein, bitte nicht!«

Claudia Bürger schloss die Augen und versuchte sich einzureden, dass dies nur ein böser Traum war. Das Telefon in ihren Händen, diese ganzen SMS, das alles war bestimmt nur ein einziger Albtraum, aus dem sie gleich erwachen würde.

Doch als sie die Augen wieder öffnete, hielt sie das Handy mit den entsetzlichen SMS immer noch in den Händen.

Die Buchstaben verschwammen erneut vor ihren Augen. Aber das spielte keine Rolle mehr, sie kannte den Inhalt der Nachrichten inzwischen auswendig. Jedes einzelne Wort hatte sich unauslöschlich in ihr Gehirn gebrannt.

Worte, die sie tief bis in ihr Innerstes hinein erschütterten.

Es hatte sich in den letzten, zurückliegenden Jahren ihrer Ehe zwar bereits angedeutet, aber das Wissen, dass jetzt tatsächlich doch alles zu Ende war, traf sie dennoch bis ins Mark. Langsam, wie eine alte, gebrochene Frau, schlurfte die Dreiundvierzigjährige auf die Fensterfront ihres Wohnzimmers zu, die zum Garten hinaus lag.

Es war offensichtlich, dass sie ihr Mann betrog.

Eine Tatsache, die sie sich momentan noch weigerte zu akzeptieren, obwohl sie es schwarz auf weiß vor sich auf dem Display lesen konnte.

Warum meldest du dich nicht? Du weißt doch, wie scharf ich auf dich bin, lautete einer der Texte.

Komm schon, nimm mich, lass mich deine Zunge spüren.

Claudia hatte das Gefühl, als ob ihr jemand mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen hätte. Die Welt begann sich vor ihren Augen zu drehen. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn und ihr war speiübel.

Sie drehte den Kopf zur Seite und übergab sich.

Danach fühlte sie sich besser, wenn auch nur etwas.

Tränen der Wut und Verzweiflung rannen über ihr Gesicht.

Nicht genug, gerade zu erfahren, dass sie ihr Mann betrog. Was noch mehr schmerzte, war die Tatsache, dass seine Geliebte ihre Haushälterin war!

Sie konnte es nicht glauben.

Ihr Mann, ein Universitätsprofessor, und Petra Ostermann, eine blonde, primitive Putze!

Sie fühlte sich ausgenutzt, dreckig und stinkend wie ein alter, weggeworfener Scheuerlappen.

Aber nur für Sekunden.

Dann erfüllte sie eine unbändige Wut.

Ihr Kopf wurde schlagartig klar, und statt mit dem Schicksal zu hadern – ändern konnte sie es sowieso nicht –, schob sie das Handy in die Hosentasche, schnappte sich die Autoschlüssel, die auf der Flurgarderobe lagen, und rannte aus dem Haus, als würde es hinter ihr brennen.

Wenig später zischte sie am Steuer ihres Sportwagens aus der Hofeinfahrt und fädelte sich mit quietschenden Reifen in den Vormittagsverkehr.

 

***

 

Das Haus trug die Nummer 46 und lag am nördlichen Ende der Hornbergstraße.

Es entpuppte sich als biederes Mehrfamilienhaus, das abgesehen von einem kleinen Vorgarten direkt an der Straße lag.

Die Eingangstür stand offen.

Jemand hatte unter den Briefkästen eine Mülltüte abgestellt.

Wahrscheinlich dieselbe Person, deren heisere Stimme im gleichen Moment zu hören war, als Claudia das Treppenhaus betrat.

»Ja doch, aber lass mich zuerst den Abfall raus bringen.«

»Aber dann musst du mir helfen«, sagte eine andere Stimme. »Du hast es mir schließlich versprochen.«

Dann wurden Schritte laut.

Claudia hatte gerade den Treppenabsatz hinter sich gebracht, der in den ersten Stock führte, als die heisere Stimme in ihrem Rücken erklang.

»Hallo Fräulein, so geht das aber nicht. Sie können hier nicht einfach hereinkommen, ohne vorher geklingelt zu haben. Zu wem wollen Sie denn?«

Claudia verharrte und drehte sich langsam um.

Die Frau, die neugierig vom Absatz der Kellertreppe aus zu ihr hoch starrte, wirkte wie das fleischgewordene Abbild eines Hausdrachens: Kittelschürze, Gummistiefel, Kopftuch.

Sie war ungefähr genauso breit wie hoch, hatte kleine, tückisch funkelnde Augen und eine Hakennase, die wie ein Adlerschnabel aus ihrem schwammigen Gesicht herausragte.

»Das geht schon in Ordnung, Frau Ostermann erwartet mich.«

Die Frau lachte krächzend. »Das wird ja immer doller. Jetzt bekommt diese Schlampe sogar schon von Frauen Besuch.«

Irritiert zog Claudia die Stirn in Falten.

»Wie meinen Sie das?«

»Dass bei der normalerweise nur Männer verkehren.«

Claudia lag bereits eine scharfe Erwiderung auf den Lippen, als sie aus einem Gefühl heraus den Geldbeutel aus der Gesäßtasche ihrer Jeans zog, ihm ein Bild ihres Mannes entnahm und es der Frau entgegenstreckte.

»Der hier auch?«

Mit einer Behändigkeit, die sie dem Hausdrachen nie zugetraut hätte, kam die korpulente Frau die Treppe hoch, reckte den Kopf nach vorne und starrte neugierig auf das Bild. Es dauerte keine zwei Sekunden, bis sie zu nicken begann.

»Das ist Ihrer, stimmt’s?« Ihre krächzende Stimme klang plötzlich mitfühlend.

Claudia nickte, während ihr die Tränen in die Augen stiegen.

»Tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber der war auch hier. In letzter Zeit sogar ziemlich oft.«

 

***

 

Wutentbrannt trat Stephan Bürger aus dem hellen Schein der geöffneten Verandatür.

Er trug Jeans und ein kurzärmeliges, blau kariertes Hemd. Die schräg zugeknöpfte Knopfleiste seines Flanellhemdes und der offene Reißverschluss im Schritt verrieten, dass er sich überhastet angezogen hatte.

Wutentbrannt lief er durch den Vorgarten auf die Garage zu.

Keine Viertelstunde war seit dem heftigen Streit vergangen, bei dem ihm seine Frau vorhielt, dass er sie betrog.

Verdammte Scheiße!, dachte Stephan. Wie konnte er auch nur so dämlich sein, das schwarze Handy auf dem Sofa liegen zu lassen.

Unwillig schüttelte er den Kopf.

Was regst du dich eigentlich so auf? Irgendwann hätte sie es ja sowieso erfahren.

Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.

Obwohl, zehn Jahre waren eine lange Zeit.

Eine Zeit, die in den letzten Monaten allerdings nur noch von immer wiederkehrenden Automatismen beherrscht wurde. Wenn er dagegen an Petra dachte …

Gut, die Kleine konnte Claudia wahrscheinlich nie das Wasser reichen. Eine anerkannte Fachfrau für Japanische Geschichte bewegte sich in anderen Sphären als eine einfache Hauswirtschaftshilfe, aber dafür konnte sie ihm die Seele aus dem Leib vögeln. Außerdem war sie fast ein Vierteljahrhundert jünger als Claudia.

Also scheiß auf die zehn Jahre Ehe mit ihr.

Mit einem Grinsen öffnete er die Garagentür und ließ den Blick über die kobaltblaue Karosserie seines Jaguars gleiten. Autos, auch so etwas, was Claudia nie verstehen konnte, genauso wenig wie sein Faible für die Musik von AC/DC. Genaugenommen war sie eigentlich selber schuld, dass er bei Petra gelandet war.

Er war gerade dabei, die Fahrertür zu öffnen, als der Schmerz kam.

Stephan wurde zurückgerissen, als würde eine Hand aus dem Dunkeln nach ihm greifen.

Sein Mund zuckte und er ruderte mit den Armen.

Er versuchte zu schreien, aber alles, was er hervorbrachte, war ein würgendes Keuchen.

Er starb in dem Augenblick, als er erkannte, wie seine Frau auf der gegenüberliegenden Wagenseite die Hand hochnahm und den Finger erneut um den Abzug krümmte.

 

***

 

Es war weit nach Mitternacht, als die diensthabende Schließkraft bei ihrem Rundgang durch den Zellentrakt der Vollzugsanstalt hinter einer der Stahltüren ein heiseres Lachen hörte.

Sie hob die schmale Sichtklappe und warf einen Blick in die dahinter liegende Zelle. Mondlicht fiel durch das schmale Gitterfenster und tauchte den Raum in milchiges Licht.

Auf der Pritsche wälzte sich eine Frau unruhig hin und her.

»Alles in Ordnung?«, fragte die Wärterin halblaut durch die Luke.

Claudia Bürger hatte Mühe, um nicht erneut loszulachen.

Was für eine Frage!

In spätestens acht Stunden würde sie ihre Entlassungspapiere in den Händen halten und danach das Gefängnis als freier Mensch verlassen.

Also was bitte sollte nicht in Ordnung sein?

Außerdem war sie an ihrer derzeitigen Lage selber schuld.

Hätte sie Stephans Ableben mit derselben Akribie geplant wie den Tod seiner Geliebten, würde sie wahrscheinlich noch heute in ihrer Villa am Stadtrand logieren.

Herzinfarkt hatte damals in den Zeitungen gestanden.

Was sonst? Kein Mensch in dieser Stadt würde jemals auf die Idee kommen, Petra Ostermanns Leiche auf Spuren von Doku zu untersuchen.

Jedenfalls keiner, der sich nicht für Japan und seine Geschichte interessierte.

Doku war ein Gift, das aus den Blüten der Chrysantheme gewonnen wurde, eine längst vergessene Kunst, die hauptsächlich von Ninjas beherrscht wurde.

Das Ergebnis wäre bei Stephan dasselbe gewesen.

Aber nein, sie musste ihn ja unbedingt wie einen tollwütigen Hund über den Haufen schießen.

Im Nachhinein betrachtet waren zehn Jahre Gefängnis für zehn Jahre Ehe mit einem Mann, der ihr ständig Hörner aufsetzte, ein verdammt schlechter Deal.

 

***

 

Als sich die stählernen Flügeltüren der Justizvollzugsanstalt hinter ihr schlossen, hatte Claudia Bürger Mühe, nicht laut aufzuschreien.

Frei!

Sie presste die Plastiktüte, in der man ihre wenigen Habseligkeiten untergebracht hatte, vor die Brust, blickte sich um und überquerte dann die Straße. Sie war dabei so in Gedanken vertieft, dass sie die beiden grimmig dreinblickenden Männer erst bemerkte, als sie ihr den Weg zur nahen Bushaltestelle versperrten.

»Frau Bürger?«

Irritiert hob Claudia den Kopf.

»Was wollen Sie von mir?«

»Sie sind verhaftet.«

Während Claudia Bürger nach Luft schnappte, schlossen sich die stählernen Fesseln des Gesetzes um ihre Handgelenke.

»Das … das muss ein Irrtum sein. Ich komm doch gerade …«

»Konnichi wa!«

Claudias Kopf ruckte herum.

Ihre Augen weiteten sich jäh, als sie den kleinen, schlitzäugigen Mann erkannte, der wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte.

»Mein Name ist Aikito Nuramaga. Ich bin Gerichtsmediziner der Polizei von Tokio. Ich würde mich mit Ihnen gerne einmal über das Thema Doku unterhalten.«

Claudia hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie würgte und schüttelte angewidert mit dem Kopf.

»Wie lange?«

Der Japaner zuckte vielsagend die Achseln.

»Ich kenne Ihre Rechtssprechung zwar nicht, aber ich schätze mal, zehn Jahre!«