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John Tanner – Das Leben eines Jägers 32

John Tanner
Das Leben eines Jägers
oder
John Tanners Denkwürdigkeiten über seinen 30-jährigen Aufenthalt unter den Indianern Nordamerikas
Erstmals erschienen 1830 in New York, übersetzt von Dr. Karl Andree

Zweiundreißigstes Kapitel

Alle Männer, die noch so viele Kräfte hatten, dass sie imstande waren, zugehen, entschlossen sich, die Bisonherden aufzusuchen, welche damals ziemlich weit von uns entfernt sich aufhalten mussten. Ich aber wollte nicht mitgehen, und ein anderer guter Jäger, der gleichfalls meinte, dass die Bisonjagd nicht sehr ergiebig ausfallen würde, blieb bei mir. Wir gingen ein wenig rückwärts, und schossen binnen kurzer Zeit fünf Moosetiere, deren Fleisch wir unter die Frauen und Kinder verteilten, sodass sich diese wieder ein wenig erholten. Es war aber auch Zeit, sonst wären manche vor Hunger umgekommen. Die Männer kehrten einer nach dem anderen zurück, alle schwächer, als sie zur Zeit ihrer Abreise gewesen waren, und in einem höchst entkräfteten Zustand. Sie hatten nur einen einzigen Bison erlegt.

Nur unter den mühseligsten Anstrengungen war es uns möglich, das Leben zu fristen, und ich befand mich deshalb fortwährend auf der Jagd. Einst hatte ich einen Bären aufgejagt. Den stellte ich drei Tage lang nach, ohne dass es mir möglich war, ihn zu erlegen. Endlich, beim Einbruch der Nacht, war ich so matt und müde, dass ich nicht mehr weiter konnte, und ich musste ablassen, ihn zu verfolgen. Ich war nicht imstande, mir ein Lager zu bereiten oder Feuer anzumachen, und dachte an den Tod, der mir ganz nahe bevorzustehen schien. Da kamen Indianer vorüber, welche beinahe ebenso entkräftet waren wie ich selbst. Sie halfen mir aber doch in so fern, dass ich wieder bis zu unserem Lagerplatz kam. Solch ein Jammerleben führen die meisten nördlich wohnenden Chippewa im Winter. Ihr unfruchtbares, ungastliches Land liefert ihnen so wenig Lebensmittel, dass sie alle Tätigkeit aufbieten müssen, um nur ihre Tage zu fristen. Und doch ereignet es sich nicht selten, dass die geschicktesten und kräftigsten Jäger eine Beute des Hungertodes werden.

Die Indianer gingen noch einmal allesamt auf die Bisonjagd und wollten diesmal ihre Familien mitnehmen. Nur Un-di-no, derselbe Jäger, welcher sich voriges Mal nicht von mir trennte, wollte auch jetzt bleiben, damit seiner Frau Zeit bliebe, die Haut eines von ihm erlegten Moosetieres zu rösten und zu dörren. Diese Haut wollten sie essen, wenn keine anderen Nahrungsmittel aufzutreiben wären. Ich entschloss mich, bei ihm zu bleiben. Aber gleich in der Nacht, welche auf den Abzug der Indianer folgte, stieg der Jammer und die Not meiner Kinder auf eine solche Höhe, dass es mir unmöglich war, länger in der Hütte zu bleiben. Ich ging also hinaus und sagte zu Un-di-no, dass ich gleich zurückkommen wollte, sobald ich etwas geschossen haben würde. So schnell ich konnte, folgte ich den Indianern und war schon am anderen Morgen bei ihnen.

Ich vernahm, als ich mich näherte, ein Geräusch, trat in die Hütte und hörte, dass ein alter Mann zum großen Geist betete und ihm dankte, dass er im Augenblicke der dringendsten Not sich seiner Kinder erbarmt habe. Das erlegte Tier bezeichnete er nicht anders als mit dem Namen Manito-wais-se, was ungefähr so viel wie Tier des Geistes bedeutet. Ich erfuhr nachher, dass es ein alter, magerer Bison gewesen sei, und schloss daraus, dass die Herden nicht weit entfernt sein konnten. Zwei junge Männer wollten sich mir anschließen. Wir machten uns unverzüglich auf den Weg und schlugen die Richtung ein, welche wir für die beste hielten.

Nachdem wir etwa drei Stunden Wegs zurückgelegt hatten, stiegen wir auf einen kleinen Hügel und erblickten jenseits desselben ein Tal, das ganz schwarz aussah, so viele Bisons trieben sich in demselben umher. Wir krochen vorsichtig bis zu ihnen hinauf, und ich schoss bald zwei fette Weibchen. Als ich eben damit beschäftigt war, sie in Stücke zu zerschneiden, fielen Schüsse. Die Indianer, welche meiner Spur gefolgt waren, hatten Feuer gegeben. Ich kam ein wenig spät ins Lager zurück. Die meisten waren früher angelangt. Es befremdete mich sehr, dass alles totenstill war. Kein Freudengeräusch, wie es bei festlichen Schmäusen herrscht, war zu hören. Ich sah keine Frau und kein Kind umhergehe, und vernahm keine Stimme.

Sollte denn die Hilfe zu spät gekommen sein, fragte ich mich. Und sind Frauen und Kinder schon tot? Ich warf einen Blick in die Hütten. Alle Indianer lebten noch, aber keiner hatte etwas zu essen. Die Mehrzahl dieser Leute lebte gewöhnlich in holzreichen Gegenden. Nun waren sie zum ersten Mal auf der Bisonjagd gewesen, und ich allein hatte Fleisch mit heim gebracht. Ich trug eine tüchtige Ladung, und die beiden jungen Leute ebenfalls. Wir teilten mit den anderen.

Damals befand sich ein Mann namens Waw-be-be-nais-sa (der weiße Vogel) bei uns, den ich von früher her schon kannte. Da ich auf der Jagd sehr viel Glück hatte, wurde er neidisch auf mich. Dieses Menschen halber, und um jeden Schein zu vermeiden, als wolle ich mich meiner Geschicklichkeit rühmen, gab ich keinen Festschmaus in meiner Hütte, wie es doch bei einer solchen Gelegenheit passend gewesen wäre. Aber einer meiner Begleiter tat es, und ich teilte, was ich übrig hatte, den mir zunächst wohnenden Familien mit, nachdem ich das für den Unterhalt meiner Kinder Notwendige zurückgelegt hatte. Einer meiner Jagdgefährten hatte Waw-be-be-nais-sa eingeladen, und außer ihm noch mehrere andere Männer. An jenem Abend versäumte jener, wie ich nachher erfuhr, nichts, um die Indianer gegen mich einzunehmen. Er nannte mich einen stolzen, unverschämten Menschen. Aber ich blieb doch in meiner Hütte und tat, als beachtete ich ihn gar nicht, denn ich hatte keine Lust, mich mit ihm in Zank einzulassen.

Am anderen Morgen, noch ehe es Tag geworden war, gingen die Frauen aus, um zu holen, was von den beiden Bisons noch übrig war. Ich zeigte einigen Jägern die Stellen am Körper, nach denen sie zielen müssten. Die Jagd begann wieder, und mehrere erlegten wirklich etwas, sodass es uns an Fleisch nicht fehlte. Die Kranken und Halbverhungerten erholten sich nun bald. Nur eine Frau, die vor Hunger wahnsinnig geworden war, blieb es länger als einen Monat lang.

Der angesehenste Mann unter der ganzen Gruppe war O-poih-gun (die Pfeife). Er, nebst den Insassen dreier Hütten, blieb bei mir. Die übrigen zerstreuten sich, um zu jagen. Waw-be-be-nais-sa und sein Sohn gehörten zu denen, welche nicht fortgingen. Ich erlegte viel Wild und dörrte das beste Fleisch von etwa vierzig Bisons. Wir hatten vor Hunger so viel gelitten, dass ich für die Zukunft meine Familie sicher stellen wollte. Auch dachte ich immer daran, eine Reise nach den Vereinigten Staaten zu machen, und dass, solange ich ausblieb, doch wohl niemand für sie sorgen würde. Das wusste ich. Ich machte zwanzig große Säcke Pemmikan zurecht, kaufte von den Indianern zehn Fässer, von denen jedes zehn Gallonen hielt, und füllte sie mit Fett. Auch besaß ich noch eine große Anzahl geräucherter Zungen und andere Vorräte.

Bald merkte ich, dass Waw-be-be-nais-sa in keiner anderen Absicht in meiner Nähe geblieben war, um mich zu ärgern und zu belästigen. Als wir nun abziehen wollten, besaß ich so viele Habe, dass ich die Reise hin und zurück mit meinen Hunden viermal machen musste. Eines Tages überraschte er mich an einer Stelle, an welcher ich meine Bürde abgelegt hatte, um auszuruhen. Ich war allein. Er kam auf mich zu, packte mit beiden Händen in meine Haare, welche zu beiden Seiten lang auf die Schultern herabhingen, und sprach: »Hier ist das Ende deines Weges. Sieh hier die Stelle, wo die Wölfe und die Raubvögel an deinem Gerippe nagen werden.«

Ich fragte, was ihn zu einer solchen Gewalttat antriebe.

»Du bist ein Fremdling«, rief er. »Du hast kein Recht, unter uns zu sein, und doch rühmst du dich der beste Jäger zu sein. Du willst, dass wir dich für einen großen Mann halten. Ich bin schon längst deiner Unverschämtheit müde und entschlossen, dich keinen Tag mehr am Leben zu lassen.«

Da ich sah, dass auf eine vernünftige Weise mit ihm nichts anzufangen war, und er meinen Kopf gegen einen Pappelbaum stieß, so riss ich mich plötzlich mit einer solchen Heftigkeit los, dass ein Teil meiner Haare in seinen Händen blieb, worauf wir dann miteinander rangen. Dabei gelang es ihm, drei Finger meiner rechten Hand zwischen seine Zähne zu bekommen, und er biss sie mir ab bis auf die Knochen. Ich konnte sie nicht eher aus seinem Mund herausziehen , bis ich ihm mit meiner linken Faust einen Schlag ins Auge gegeben hatte. Da ließ er los und zitterte am ganzen Leib. Mein Tomahawk lag dicht neben mir auf der Erde. Das sah er, packte die Streitaxt und wollte mir damit einen Schlag auf den Kopf versetzen. Er führte denselben aber mit solcher Wucht, dass er das Gleichgewicht verlor und hinstürzte, so lang er war.

Nun sprang ich auf ihn zu, entriss die Waffe seinen Händen und schleuderte sie weit weg. Dabei hielt ich ihn so fest, dass er sich kaum rühren konnte. Ich war aber auch sehr wütend und zornig über den Angriff von seiner Seite, zu welchem ich ihm nicht die geringste Veranlassung gegeben hatte. Töten wollte ich ihn zwar nicht, nahm aber einen derben Hüttenpfahl, hieß Waw-be-be-nais-sa aufzustehen, und fing an, auf ihn einzuschlagen. Da nahm er Reißaus. Ich lief ihm nach, und prügelte ihn derb ab. Erst, nachdem ich ihn etwa dreihundert Schritte verfolgt hatte, ließ ich ihn laufen.

Als ich wieder umkehrte, kamen sein Schwiegersohn und noch zwei andere junge Leute, die mit ihm verwandt waren, herbeigelaufen.

»Was hast du gemacht?«, fragte der eine zornig , und die übrigen stürzten auf mich los. Ich war matt und erschöpft, und so bekamen sie mich denn leicht unter. Nun ließ sich Waw-be-be-nais-sa auch wieder sehen, packte ein schwarz-seidenes Tuch, das ich um den Halse trug, bei den Zipfeln, und wollte mich erwürgen. Dabei schlug er mit den Fäusten auf mich los, trat mit den Füßen und warf mich zuletzt in den Schnee.

Einer dieser Menschen sagte: »Er ist tot!«

Und da ich unmöglich allen Vieren Widerstand leisten konnte, so stellte ich mich, als wäre aller Atem aus mir gewichen. So ließen sie mich denn zuletzt, in dem Glauben, ich sei eine Leiche, liegen. Als sie sich aber eine kleine Strecke entfernt hatten, sprang ich zu ihrem größten Erstaunen auf und griff rasch nach einem Hüttenpfahl. Als sie das sahen, rissen sie aus. Ich aber lief ihnen nach und prügelte Waw-be-be-nais-sa noch einmal derb ab. Jetzt ließen sie mich in Ruhe und ich konnte wieder an meine Arbeit gehen. Meine Frau hatte unsere, durch Anstrengung abgematteten Hunde vor meine Hütte geführt. Sie lagen an der Tür. Als Waw-be-be-nais-sa das sah, zog er sein Messer, stach zwei davon tot und drohte meine Frau, die auf das Geheul der Tiere herbeilief, ebenso behandeln zu wollen.

Am anderen Morgen sah ich ihn. Er war arg zugerichtet, und sein Gesicht ganz aufgeschwollen. Da ich nun meinte , dass er sich wohl schwerlich entfernen werde, und zugleich für meine Frau Gefahr fürchtete, falls dieselbe allein zurückbliebe, so schickte ich diese mit Vorräten weg und blieb selbst zurück. Um Mittag aber übermannte mich die Müdigkeit, und ich schlief ein. Waw-be-be-nais-sa dem dieses irgendeiner gesagt haben mochte, oder der vielleicht auch ahnte, dass ich müde war, schlich vorsichtig in meine Hütte und wollte mir mit dem Messer einen Stich versetzen, als ich eine Bewegung machte und munter wurde. Da ich meine Waffe bei mir liegen hatte, so lief er davon, und ich verfolgte ihn nicht.

Dieser Mensch hörte gar nicht auf, mich zu martern und zu quälen. Wenn er mir auf irgendeinem Pfad begegnete, so wollte er niemals ausweichen, selbst wenn ich eine schwere Last trug und er unbepackt war. Sein Auge blieb lange Zeit so verschwollen, dass er nichts damit sehen konnte. Seine ganze Gestalt gewährte ohnehin einen lächerlichen Anblick, denn er war sehr schlecht gebaut. Eines Tages hatte er wieder einen misslungenen Versuch gewagt, mir einen Messerstich zu versetzen. In seiner ohnmächtigen Wut stellte er sich vor meine Hütte und machte dieselbe Gebärde, welche die Frauen machen, wenn sie eine der anderen Geringschätzung zeigen wollen. Darüber wurde er von allen Indianern, seine eigenen Anverwandten nicht ausgenommen, verhöhnt.

Diese unablässige Verfolgung wurde mir endlich so zur Last, dass ich beschloss, ihr aus dem Wege zu gehen. Auf einem unserer Ausflüge war ich dem übrigen Zug, der auf einem betretenen Pfad einher zog, vorausgegangen und wollte ein wenig abseits des Weges gehen, um mein Lager in einer Gegend aufzuschlagen, wo ich mutmaßlich mit ihm nicht zusammentreffen würde. Als er aber an die Stelle, wo mein Weg abbog, gelangte, hörte ich, wie er zu seinem zwölfjährigen Sohn sagte: »Warte hier ein wenig, ich will diesen weißen Mann töten.« Dabei legte er seine Bürde ab, kam mir, trotz der Bitten des Kindes, auf etwa fünfzig Schritte nahe, zog sein Gewehr aus dem ledernen Überzug, legte an und zielte auf meine Brust.

So blieb er eine Zeit lang im Anschlag. Als er aber sah, dass ich mich nicht fürchtete , wollte er im Zickzack auf mich zuspringen und stieß ein Kriegsgeschrei aus. Da er mit den Drohungen nicht aufhörte, so griff ich endlich nach meiner Flinte. Das Kind eilte herbei, fiel mir in den Arm und bat mich, seinen Vater zu schonen , denn er sei ja wahnsinnig. Da legte ich mein Gewehr zur Seite, packte den Alten, nahm ihm sein Gewehr weg und machte ihm Vorstellungen über sein so unvernünftiges Betragen.

»Ich bin,« sagte ich zu ihm, »so oft in deiner Gewalt gewesen, dass du nun endlich einsehen solltest, wie es dir durchaus an Mut gebricht, mich zu töten. Du bist kein Mann, hast nicht einmal das Herz einer Frau oder den Mut eines Hundes! Dieses ist das erste Mal, dass ich mit dir spreche. Ich will dir nur sagen, dass ich deiner Narrheiten satt und müde bin. Lässt du mich von nun an nicht in Ruhe, so ist es um dein Leben geschehen.«

Da ging er ab und den anderen Indianern voraus. Meine Familie allein blieb zurück. Am anderen Morgen folgte ich den Spuren der Übrigen und zog einen beladenen Schlitten, während meine gleichfalls beladenen Hunde vor mir herliefen. Als wir uns einem Gebüsch näherten, sagte ich zu meiner Tochter Martha, sie solle auf der Hut sein, weil vielleicht Waw-be-be-nais-sa im Gesträuch liegen könnte. In demselben Augenblicke sprang sie in die Höhe, lief auf mich zu, hob die Hände empor und rief: »Vater, Vater!«

Da griff ich nach meinem Gewehr, sprang ins Gestrüpp und durchsuchte jede Stelle, an der sich ein Mensch verbergen konnte. Ich fand aber nur Hüttenpfähle und einige ausgebrannte Kohlen und kehrte um, ohne etwas entdeckt zu haben. Als ich das Mädchen fragte, weshalb es sich gefürchtet hatte, bekam ich zur Antwort, es hätte Feuer gerochen. So heftig war sein Schreck in Folge der unaufhörlichen Nachstellungen Waw-be-be-nais-sas.