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Das Licht in der Kirche

Die-Geister-Erstes-BuchChristoph Wilhelm Meißner
Die Geister
Erster Band
Berlin 1805, bei Oehmigke jun., überarbeitet 2015

Vorwort

An meine Leser

Eine Sammlung der unterhaltendsten, teils aus dem Reich der Wahrheit, teils aus dem Gebiet der Fantasie entlehnten Geistererscheinungen, Gespenstergeschichten usw., mit Kürze vorgetragen und mit Auswahl gemacht, wird dem leselustigen Publikum hoffentlich kein ganz unangenehmes Geschenk sein; um so mehr, da hierbei auf alle Stände von Lesern Rücksicht genommen worden ist. Sollte man auch hier und da auf irgendeinen alten Bekannten stoßen, so wird man sich desselben doch gewiss nicht ungern erinnern und die Bekanntschaft mit Vergnügen erneuern.

M.

Das Licht in der Kirche

Ich studierte in L. und hatte dort einen Zirkel guter Freunde, den ich fast alle Abende besuchte. Der Rückweg zu meiner Wohnung führte über einen Kirchhof. Eines Abends, als ich mich etwas verspätet hatte, ging ich auch noch über denselben. Die Turmglocke schlug drei Viertel auf Zwölf. Die Straße war öde und leer. Unwillkürlich fiel mein Blick auf die Kirche, bei deren hinterem Teil ich eben vorbeiging.

Die Fenster dieses Teils, in dem der Altar stand, waren erleuchtet, zwar nur ganz matt. Man sah deutlich, dass Licht in der Kirche war. Ich stutzte. Mein erster Gedanke war: Hier sind Spitzbuben!

Neugierde und Sucht nach Abenteuern – zwei Gefühle, die dem jugendlichen Alter eigen sind – wachten in mir auf, und so lebhaft, dass ich nun um keinen Preis hätte weggehen können, ohne der Sache näher auf die Spur zu kommen. Offenherzig gestanden, wurde auch eine heimliche Ahnung von über natürlichen Dingen, von Nachtgeistern und dergleichen in mir rege. Doch schämte ich mich vor mir selbst zu sehr, als dass ich mir dies eingestehen sollte. Indes freute ich mich im Innern, genug Mut zu haben, erforderlichen Falls mich auch mit diesen einmal zu messen. Man trug damals kurze dicke Weinrebenstöcke. Dies war mein Wehr und Waffe gegen Lebendige und Tote. Ich zitterte vor Freude oder vor Angst, ob der Dinge, die da kommen sollten, sah noch einmal nach den Altarfenstern, die ziemlich tief bis an die Erde gingen, aber doch nicht so tief, dass man hätte in die Kirche sehen können, bemerkte das Helle noch ganz deutlich und eilte nun zum Kirchner, der auf dem Kirchhof wohnte, um diesen zu der nächtlichen Wallfahrt einzuladen und mir die Kirche aufschließen zu lassen.

Wir waren alte Bekannte, und der Mann wunderte sich höchlich über den späten Besuch. Mit Mühe hatte ich ihn aus den Federn geklopft, er streckte den Kopf zum Fenster heraus und brummte ein raues »Wer ist da?« in den Bart.

Ich detaillierte ihm mit kurzen Worten meine Bemerkung sowie mein Begehr und bat, nur nicht lange zu säumen, ehe uns die Kirchenräuber entwischten.

»Licht?«, begann der alte Mann und schüttelte den mit einer Schlafmütze bedeckten Kopf. »Licht in der Kirche? Sie träumen, Freund! Ich bin bereits zweiundzwanzig Jahre bei dieser Kirche angestellt und habe mein Lebtag kein Licht des Nachts darin gesehen!«Aber mein Gott, lieber Herr Kirchner, wischen Sie sich nur den Schlaf aus den Augen. Sehen Sie doch einmal recht hin, es ist ja wahrhaftig am Altar hell!«

»Hm, hm!«, brummte der alte Küster. »So wahr Gott lebt, es ist hell – das ist doch meiner Treu kurios, da …«

»Was ist da Kurioses! Diebe sind’s, Spitzbuben, und die müssen beim Kollett nehmen. Allons, heraus, heraus!«

»Diebe? Spitzbuben? Ja, die werden auch ein Licht mitnehmen. Nein, Freund, das ist was anderes!«

»Was soll’s denn anderes sein? Machen Sie nur, machen Sie!«

»Herzensmann, ich sage Ihnen, das ist was anderes. Da hinten am Altar sind noch alte Mönchsgruften. Die eine kupferne Platte, die links am Altar liegt, ist mir schon lange ganz locker vorgekommen. Es ist da wahrscheinlich nicht richtig!«

Die Furchtsamkeit des alten Mannes machte mich nur noch kecker. Ich drang mit doppeltem Eifer in ihn, und er willigte endlich in meine Bitte ein, mit mir in die Kirche zu gehen, jedoch nur unter der Bedingung, dass wir seinen Hausknecht, den alten Christian, mitnähmen. Dieser war unterdessen auch munter geworden, und so eröffneten wir denn unseren Heldenzug. Christian ging mit einer Laterne voran, der Kirchner nahm zwei Wachskerzen mit, und zur Notwehr hatte er in der Angst ein Lineal ergriffen. Ich verließ mich auf meinen Rebenknüppel.

Unser Angriffsplan war so entworfen, dass wir die Hauptkirchentür, dem Altar gegenüber, leise öffnen wollten. Hier sollte Christian mit der Laterne ruhig stehen bleiben, der Küster zündete dann seine beiden Wachskerzen an und ging mit mir auf den Altar zu. Fiel etwas Bemerkbares vor, so wollten wir alle drei mit einem Mal fürchterlich zu schreien anfangen, um im Falle, dass es Spitzbuben wären, sie in den Wahn zu setzen, dass wir unserer recht viele wären, und ihnen den ersten Schrecken einzujagen. Sahen wir denn, dass der Feind uns überlegen war, so zogen wir uns zurück, schlossen die Kirchentür ab und machten in der Stadt Lärm.

Der Kirchner ließ sich von uns beiden die Hand geben, dass wir ihn auf keinen Fall im Stich lassen wollten, und schloss nun in Gottes Namen die große Kirchentür auf.

In diesem Augenblick schlug es zwölf. Ein kalter Schauer lief mir durch Mark und Bein, und mein Mut drohte sich in Zaghaftigkeit umzuschlagen.

Wir kamen leise und ohne ein Wort zu sprechen in die Kirche. Unsere Blicke waren auf den am Ende des großen langen Gebäudes befindlichen Altar gerichtet.

Der Altar war schwach erleuchtet!

Grause, stille Mitternacht schlummerte ihren Todesschlaf in dem alten Gemäuer des Tempels. Dumpfig und kalt war die Luft! Da und dort blickte ein Engelskopf aus schwarzem Schnitzwerk heraus, kein Laut störte die heilige Ruhe des Gotteshauses! Man glaubte in einem weiten Grab zu stehen.

Von uns sprach keiner ein Wort. Ich zitterte vor Frost und Schauer am ganzen Körper. Der Küster konnte kein Glied stille halten. Der alte Christian schien am gefasstesten zu sein. Er hatte den sichersten Posten, denn, sobald er die Wachskerzen behutsam angezündet hatte, stellte er die Laterne vor sich hin auf die Erde und nahm die Klinke der Kirchentür in die Hand, um, wenn ja etwas passieren sollte, gleich der Erste beim Reißaus zu sein.

Der Kirchner klemmte sein Lineal unter den Arm, nahm in jede Hand eine brennende Kerze, und so gingen wir beide, dicht nebeneinander, auf den Zehen, dem Altar zu. Als wir mitten in die Kirche kamen … verlöschten beide Kerzen! …

Ich blieb stehen. Der Kirchner ging zurück, zündete seine Kerzen bei Christian an und kam wieder zu mir.

Es war ein schauerlich komischer Anblick, den alten Mann mit den beiden brennenden Kerzen herankommen zu sehen.

Über das weiß flanellene Nachtkamisol hatte er eine schwarze Weste geköpft, die Beinkleider schwarz und ziemlich destruiert, und die schwarzen Strümpfe in einem Paar gelber Pantoffeln; sein Gesicht feierlich, ernst und bange; das unterm Arm geklemmte Lineal hatte im Schatten die Riesenlänge eines Mastbaumes, und das Quästchen seiner Nachtmütze ambulierte gleichfalls im Schatten bei der Orgel und auf den Emporkirchen herum.

In dem Augenblick, als er wieder dicht neben mir stand, verlosch die eine Kerze wieder. Es war, als ob sie eine unsichtbare Macht ausblies. Ich griff schnell nach der zweiten, und rettete sie glücklich!

»Weiter kann ich nicht!«, seufzte der Küster leise. »Gott sei mit Ihnen, ich bleibe hier!«

Ich hatte mich ein wenig gesammelt, das Herz schlug mir wieder freier. In der Linken die brennende Kerze, in der rechten meine Rebe, so ging ich vorwärts auf den Altar zu. Mein Weg führte mich vor der Sakristei vorbei. Die kleine gewölbte Tür stand offen, und ich warf einen Blick hinein. Himmel, da lag ein Mädchen in einem weißen Gewand, tot oder schlafend, über einen Stuhl gelehnt!

Kalter, eiskalter Schauer durchfuhr meinen ganzen Körper. Ich drückte die Augen fest zu, eilte vorbei, ohne zu wissen, wohin! Schrecken und Furcht packten mich wie verzehrende Ungeheuer, das Herz bebte mir im Leib, und in diesem fürchterlichen Augenblick ging meine Kerze aus.

Unbewusst meiner selbst stand ich vor dem Altar! Das große Altarblatt, Jesus am Kreuz, mir gegenüber. Die Ruhe des Ausgelittenen am Marterholz goss auch den Geist der Ruhe mit milder Freundlichkeit in mein Herz! Mir war unaussprechlich wohl. Ich erwachte gleichsam wie aus einer Ohnmacht und geriet in eine Art schwärmerische Entzückung.

Johannes hatte den Kopf auf die Brust gesenkt, und Maria weinte die Tränen heiligster Rührung. Ich hatte das Bild oft gesehen. Allein diesen Effekt hatte es nie auf mich gemacht. Den Anschein eines Hauptreliefs bekam das Blatt durch die schwache, dämmernde Beleuchtung. Ich stand dicht vor dem Altar, und nun erst fiel mir ein, warum ich vor diesem stand. Ich sah nun das Licht, das mich hierher gezogen hatte. Ich war über dasselbe ebenso ungewiss wie vorher. Es war eine schlechte, blecherne Öllampe, die ziemlich hell brannte.

Ich zündete meine Kerze wieder an und beleuchtet die ganze Gegend vor dem Altar. Weder ein irdisches noch überirdisches Wesen war zu verspüren. Ich ging auf den Kupferplatten der Mönchsgrüfte umher – die vermoderten Bewohner derselben schlummerten alle ruhig. War Vorsatz war nun, in die Sakristei zu gehen, um das weiße Wesen näher zu beleuchten. Je näher ich der kleinen Tür kam, desto schauerlicher grauste es mir entgegen. Unwillkürlich wendete ich mich wieder weg und ging hinter den Altar, um den Besitzer der blechernen Lampe zu entdecken.

Ich hatte kaum einen Schritt hinter den Altar gesetzt, als ich eine kleine Figur entdeckte, die sich dicht an der Wand niedergekniet zu haben schien. Sie rührte und regte sich nicht, war ungefähr drei Fuß hoch, rundum mit einem Gewand behangen, und oberhalb etwas stärker als unten zu.

Furchtlos, aber leise ging ich näher. Indessen erlaubte mir der schwache Schimmer meiner Lampe nicht, viel mehr zu beobachten, als ich vorher gesehen hatte.

Mit den kaum hörbaren Worten »Wer ist denn das?« tippte ich die Figur mit der äußersten Spitze meines Rebenstockes an. Sie bewegte sich, das Gewand entfaltete sich etwas, und die Figur wurde um eine Hand hoch größer.

Dieser Augenblick war entscheidend! Das Herz krampfte mir zusammen. Ich schrie mehr aus Angst als aus Mut: »Herr Jesus! Was ist das?«

Im selben Augenblick sah ich die Figur größer werden, hörte den Kirchner aus voller Kehle schreien, meinen Namen von einer fremden Stimme brüllen.

»Halt, Racker!«, schrie ein baumlanger bewaffneter Kerl, der mich bei der Kehle fasste und zu Boden stürzte.

Die Figur rief ängstlich »Herr Jesus Christus!« und fiel mit mir zugleich nieder!

Die Entwicklung dieser in ihrer Art einzigen Schauerszene ist folgende:

Dem Hausknecht war an der Kirchentür bange geworden. Er war daher davon gelaufen und hatte einen Nachtwächter herbeigerufen. Dieser, in der Idee, Kirchenräuber zu finden, sah mich und packte mich in seinem heiligen Amtseifer so wütend an, dass ich, von Schreck übertäubt, gleich zusammenstürzte. Meinen Namen rief der Hausknecht, der mich, weil ich hinter dem Altar stand, nicht sehen konnte und mich schon ermordet glaubte. Die Figur war … eine alte arme Frau. Sie war von ihrem Hauswirt wegen ausgebliebenen Mietzinses aus dem Logis geworfen worden, suchte in der Kirche ihr Obdach, hatte sich seit einiger Zeit öfters einschließen lassen und füllte ihr Lämpchen mit zusammengebetteltem Brennöl, um nicht Dunkeln einzuschlafen, weil es ihr zu schauerlich war, in dem großen alten Gemäuer allein im Finstern zu sitzen.

Das erwähnte Mädchen in der Sakristei war nichts als ein über einen Stuhl gelegtes weißes Chorhemd, das meine Fantasie im Schreck gleich mit Kopf und Füßen begabt hatte. Dass die Lichter in der Mitte der Kirche dem Küster ausgegangen waren, rührte von zwei gegenüber befindlichen Türen her, durch die ein starker Zugwind strömte.

Der Kirchner und der Hausknecht unterrichteten den Nachtwächter von seinem Irrtum. Er ließ den vermeintlichen Kirchenräuber wieder frei. Die gute Folge dieser Geschichte, welche bald stadtkundig und am Ende zur Untersuchung des Magistrats gezogen wurde, war, dass die arme alte Frau in das Spital aufgenommen wurde.

Als Nutzanwendung schließe ich mit der Bitte, jedem Schein von Sonderbarem oder Mystischem geradewegs entgegen zu gehen.