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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Marone – Die Baumquelle

Thomas Mayne Reid
Der Marone – Erstes Buch
Kapitel 28

Die Baumquelle

Dass er dennoch nicht so ganz ruhig schlief, muss lediglich seinen Sorgen über den morgenden Tag beigemessen werden, denn die Nacht war ganz milde, und seine Stegreifdecke hielt ihn auch hinlänglich warm.

Doch die ihn bedrängenden Sorgen hielten seinen Geist in Unruhe, und sie waren in der Tat auch schwer genug, um selbst auf seine Träume einzuwirken, von denen er mehrere Male während der Nacht erwachte und zuletzt gerade nach Tagesanbruch.

Als er die Augen öffnete, gewahrte er, dass die Waldlichtung von einem sanften, blauen Licht erfüllt war, und dass die zitternden Zweige des Kohlpalmembaumes, der von seinem Lager aus gesehen werden konnte, von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne beglänzt waren.

Nur hier und zwischen den allerobersten Zweigen der die übrigen Bäume des Waldes weit überragenden Ceiba war die Sonne bereits sichtbar. Alles Übrige war von dem blauen Grau der Morgendämmerung umhüllt.

Herbert vermochte nicht länger zu schlafen und erhob sich von seinem Waldlager mit der Absicht, sofort aufzubrechen und den Platz zu verlassen.

Toilette hatte er nicht zu machen und nichts weiter zu tun, als die Seidenflocken des Baumwollenbaums fortzunehmen, die sich auf seinen Kleidern angehängt hatten, seine Flinte zu schultern und davonzugehen.

Indes fühlte er Hunger, noch mehr als den Abend zuvor, und, obgleich der rohe Gebirgskohl gerade kein sehr lockendes Frühstück versprach, beschloss er doch, vor dem Fortgehen noch eine andere Mahlzeit davon einzunehmen, indem er sich dabei des Sprichworts von dem Vogel in der Hand erinnerte und sehr weislich auch danach handelte.

Es war noch genügend vom Abendbrot für sein Frühstück vorhanden und es gelang ihm auch, seinen Hunger vollständig damit zu stillen.

Aber nun ergriff ihn ein anderes noch viel schlimmer auszuhaltendes Verlangen. Eigentlich hatte er es schon längst gefühlt, aber nach und nach war es viel stärker und jetzt fast unerträglich geworden.

Es war des Hungers stärkerer Bruder, der Durst, den der Palmenkohl, anstatt zu lindern, nur noch durch eine gewisse Schärfe seines Saftes verstärkt hatte, bis er nun eine fürchterliche Folter wurde.

Der Dürstende wollte schon in die Wälder eilen, um nach Wasser zu suchen, aber er hatte auf seiner Wanderung den Tag vorher gar keins gesehen. Nun hatte er freilich Hoffnung, den Fluss aufzufinden und würde deshalb sofort aufgebrochen sein, hätte ihm nicht ein unbestimmter Gedanke vorgeschwebt, dass nahe bei der Stelle, wo er schlief, Wasser sein müsse.

Wo aber nur? Er hatte weder einen Fluss, noch eine Quelle, noch einen Teich oder nur einen Sumpf gesehen, und doch glaubte er, irgendwo Wasser gesehen zu haben, ja er war fest davon überzeugt.

Freilich hatte er es in eigentümlicher Weise gesehen, so erinnerte er sich nun, da es sich hoch über seinem Kopf in der Spitze des Baumwollenbaumes befand.

Am vorhergehenden Abend hatte er, als er oben in der Krone der Kohlpalme war, quer hinüber zwischen die Zweige der Ceiba gesehen, die, wie alle größeren Bäume der tropischen Wälder, mit Schmarotzerpflanzen besetzt waren, wie lange stachelige Kakteen, Bromelien, angewachsene Orchideen und dergleichen mehr. Auch Tillandsien, von der als weiße Ananas bekannten Art, saßen zwischen den Zweigen verborgen oder hingen an der Oberfläche der Äste und blühten so üppig, als ob ihre Wurzeln ihre Nahrung in dem nächsten Erdboden fänden. Besonders hervorragend unter diesen war die Prachtvollste des ganzen Geschlechts, die edle Tiliandsia lingulata mit einer aus der Mitte ihrer breiten scheidenartigen Blätter hervorwachsenden Ähre von schimmernden hochroten Blumen. Gerade in den hohlen Wölbungen dieser großen Blätter hatte Herbert etwas bemerkt, das nicht eigentlich zu der Pflanze zu gehören schien und das er für Wasser hielt.

Nur wenige Minuten waren erforderlich, um Herberts Glauben an Wasser zu bestätigen oder zu widerlegen, eine Erkletterung der Zweige der Ceiba. Eine andere ungeheure Schmarotzerpflanze aus derselben Wurzel, wie die frühere, wand sich in Krümmungen zu den Zweigen des Seidenwollbaumes hinauf, indem sie ihn stellenweise umwunden und umflochten hielt. Ihre schräge Lage machte die Ersteigung leicht, und Herbert, vom Durst getrieben, begann sie sofort zu erklettern.

Bald war es ihm gelungen, einen der Hauptäste der Ceiba zu erreichen, auf dem eine der größten wilden Ananas war.

Auch hatte er sich gar nicht getäuscht. In der durch die großen bauchigen Blätter gebildeten Höhlung befand sich das natürliche Wasserbecken, das er früher bemerkt hatte, und worin sich die Ansammlungen von Tau und Regen befanden, die von den Sonnenstrahlen nie erreicht werden konnten.

Bei seiner Annäherung sprang eine grüne Hyla aus diesem lustigen Teich hervor, hüpfte froschgleich von Blatt zu Blatt, da sie vor dem Fall durch die klebrigen, schwammartigen Auswüchse ihrer Füße geschützt ist, und verschwand darauf in dem Laubwerk. Die Stimme dieses sonderbaren Geschöpfes war es gewesen, die Herbert während der Nacht beständig gehört und die im Verein mit anderen gleichen Stimmen ihm das Ächzen und Stöhnen der Seennymphe im Sturm in die Erinnerung zurückgerufen hatte.

Übrigens hielt das Vorhandensein der Baumkröte in ihrem natürlichen Schlupfwinkel den jungen Mann durchaus nicht vom Trinken ab. Rasender Durst hat keine Bedenken, und so beugte er sich über eins der Blätter der Tillandsia, netzte seine Lippen in dem kühlen, Wasser und löschte seinen brennenden Durst.

Die Anstrengung, die Liane zu erklettern, hatte ihn etwas atemlos gemacht und ihn auch etwas ermüdet.

Deshalb beschloss er, anstatt sofort hinabzusteigen, was ihm eben so viele Kraft kosten würde, als das Hinaufsteigen, noch einige Augenblicke auf dem großen Zweig der Ceiba zu verweilen, auf den er sich hingesetzt hatte.

»Wohl!«, sprach er zufrieden zu sich selbst, »wenn die Menschen dieser Insel sich auch ungastlich gegen mich erwiesen haben, so kann ich das von ihren Bäumen doch nicht sagen. Hier sind zwei von ihnen – drei, wenn ich die Schmarotzerpflanzen hinzurechnen die ersten dazu, die ich getroffen, und die haben mir die drei zum Leben notwendigen Dinge gewährt, Essen, Trinken und Wohnung; die Wohnung noch dazu mit einem vortrefflichen Bett, wie es nur selten in einem Gasthaus gefunden wird. Was braucht man da mehr? Unter einem solchen Himmel, was hat man Mauern um sich oder ein Dach über sich nötig? In der Tat, hier zu schlafen, sub Jove, ist mehr ein Genuss, als eine Unbequemlichkeit! Und wahrlich«, fuhr er fort, »würde ich mich nicht gar zu sehr allein fühlen, und wäre der Mensch nicht dazu bestimmt, ein geselliges Tier zu sein, ich möchte wirklich wohl mein ganzes Leben in diesen großen Wäldern verbringen, ohne Arbeit und ohne jegliche Sorge. Hier muss auch Wild sein, und in England sagte man mir, hier wären gar keine Jagdgesetze. So könnte ich hier nach meinem Vergnügen jagen. Ha, Wild? Was seh’ ich da? Ein Hirsch? Nein, ein Wildschwein? Ja, ein Schwein ist es, aber was für ein merkwürdiges Tier – spitze Ohren, rote Borsten, lange Beine und Hauer. Ein Eber! Und ganz gewiss ein wilder Eber!«

Es war wirklich ein Eber, ein wilder Eber des jamaikanischen Waldes, ein echter Abkömmling des kanarischen von den Spaniern nach Jamaica gebrachten Ebers.

Der junge Engländer, der in seinem Geburtsland niemals einen wilden Eber sah, war zuerst über ihn zweifelhaft, aber ein kurzes Beobachten des Tieres überzeugte ihn, dass seine Annahme ganz richtig sei.

Die kurzen, aufrecht stehenden Ohren, der lange Kopf, die langen Lenden und Beine, der borstige Nacken, die fuchsige, rote Farbe, der schnelle, kurze Schritt, wenn er vorwärtsging, – alle diese Zeichen, zugleich mit einem höchst wilden Aussehen, überzeugten ihn, dass das Tier vor seinen Augen kein zahmes Schwein, sondern ein echter, wilder Waldeber war. Auch das Grunzen, welches das Tier ausstieß, als es durch die Lichtung herauskam, ein kurzes, scharfes und mutiges Grunzen glich dem Quieken auf einem Pachthof nur sehr wenig. Unbezweifelt war es ein wilder Eber!

Als Herbert dies edle Wild so dicht bei sich gewahrte, war sein erster Gedanke ein ganz außerordentliches Bedauern, dass er unglücklicherweise auf dem Baum und seine Flinte unten auf der Erde sei.

Hätte er die Flinte bei sich gehabt, er hätte den Eber von seinem Sitz aus sehr leicht treffen können, denn das Tier hatte gerade unter der Ceiba haltgemacht und so dicht unter ihm selbst, dass, wenn er einen Stein gehabt, er ihn auf den Rücken des Tieres hätte werfen können.

Es war höchst verführerisch, aber der junge Mann sah ein, dass es unmöglich sein würde, seine Flinte zu ergreifen, ohne dass das Tier es gewahr würde. Ein Heruntersteigen vom Baum, ja selbst schon eine Bewegung auf dem Ast, würde wahrscheinlich genügt haben, den Eber sofort zu verscheuchen, um ihn nie wieder zu Gesicht zu bekommen.

Hiervon überzeugt zog Herbert es vor, auf seinem Ast als stummer Zuschauer eines wilden Naturbildes zu verbleiben, das ihm der Zufall so merkwürdig zugeführt hatte.