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Der Welt-Detektiv Band 6

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Im fernen Westen – Feurige Kohlen 3

Feurige Kohlen
Kapitel 3

Mit dem glücklichen Vorrecht der Gesundheit und Jugend und im Bewusstsein ihrer guten Tat hatten Max und Otto tief in den Morgen hineingeschlafen und zum Teil noch von dem Schrecken der Nacht geträumt. Als sie kaum aufgestanden waren, brachte ihnen der schwarze Kellner eine Visitenkarte, worauf zu lesen war: Mr. Marll, J. Howard von der North West Company.

Herr Howard hatte sie schon in aller Frühe aufsuchen wollen, um sich bei ihnen zu bedanken, und ließ ihnen nun sagen, dass er sie im Frühstückssalon erwarte. Als sie diesen betraten, kam er ihnen auch sogleich freundlich entgegen, um sie zu begrüßen. Er war bleich und angegriffen und hatte noch den Kopf verbunden, war aber sonst heiter und gefasst.

»Sie haben mir heute Nacht solch wichtige Dienste erwiesen, meine jungen Herren, dass ich Ihnen nicht genug danken kann«, sagte Herr Howard und drückte ihnen mit Wärme die Hand.

»Denken Sie nicht gering von mir, weil Sie mich ängstlich und verzagt sahen und ich Mangel an Geistesgegenwart verriet. Aber der Schrecken über die Gefahr und die Besorgnis um mein Enkelkind raubten mir die klare Besonnenheit, und der Sturz auf der Treppe trübte mir die Klarheit des Geistes. Und so verlor ich Sie im Wirrwarr der vergangenen Nacht aus den Augen und kann Ihnen nun erst meinen herzlichen, tief gefühlten Dank aussprechen. Sie sind mir nicht unbekannt, meine jungen Freunde, und doch kann ich mich nicht sogleich entsinnen, wo wir uns schon gesehen haben.«

»Wir sind zusammen auf der Hermann herübergereist, Herr Howard«, entgegnete Max bescheiden. »Sie von Southampton, wir von Bremerhaven aus, Sie in erster, wir in zweiter Kajüte.«

»Ah, richtig! Das also war es, und Sie sind beide junge Deutsche?«

»So ist es, Herr Howard! Wir sind zwei junge deutsche Einwanderer«, erwiderte Otto. »Wir verloren Sie vor fünf Wochen, als wir in New York landeten, aus den Augen und waren angenehm überrascht, als wir Sie gestern in Grand Haven an Bord der Abraham Lincoln wiedersahen.«

»Sie kennen meinen Namen, machen Sie mich nun auch mit den Ihren bekannt, denn es gereicht mir zu besonderer Freude, ein paar solch wackere Jungen kennengelernt zu haben«, sagte Herr Howard. »Es würde mir das größte Vergnügen machen, wenn ich Ihnen irgendwie nützen und Ihnen meine Dankbarkeit werktätig beweisen könnte. Schenken Sie mir Ihr Vertrauen!«

»Mein Name ist Max Becker«, hob dieser an, »ich bin der Sohn eines niederen Beamten in einem süddeutschen Staat, hatte mich zum Studium des Berg- und Hüttenwesens bestimmt und schon beinahe zwei Jahre die polytechnische Schule meiner Vaterstadt besucht, als vor einigen Monaten mein guter Vater starb und mir kein Vermögen hinterließ. Da hatte es mit meinen Zukunftsplänen ein Ende. Ich besaß die Mittel nicht mehr, meine Studien fortzusetzen, fand keine Gönner und Freunde, welche mich zu unterstützen vermocht hätten, und entschloss mich nun, mit dem kleinen Erbe, welches mein guter Vater mir hinterlassen hatte, nach Amerika zu gehen, um hier mein Heil zu versuchen. Denn da ich nun einen Beruf ergreifen und ein Handwerk erlernen muss, so glaube ich das hier in den Vereinigten Staaten ebenso gut zu können wie in der alten Heimat.«

»Und Sie haben nun einen solchen Beruf gefunden, Herr Becker?«, fragte Howard.

»Leider bis jetzt noch nicht«, versetzte Max. »Ich habe mir in New York die größte Mühe gegeben, ein Unterkommen zu finden. Allein dort ist das Angebot an Arbeitskräften zu groß, und ich fand auf meine Schulzeugnisse hin keinerlei Beschäftigung. Da beschloss mein Freund Otto Hallmayer hier, den ich schon auf der Überfahrt kennengelernt hatte und dem das Glück ebenfalls in New York nicht lächeln wollte, in den Westen zu gehen, wo redlicher Fleiß sich eher lohnen und für junge Einwanderer sich eher ein Unterkommen finden soll.«

»Und Sie sind auch berufslos, auch Polytechniker, mein junger Freund?«, fragte Howard nun Otto.

»Mitnichten, Herr, ich bin Kaufmann, habe meine Lehrzeit in einem Drogeriegeschäft vollendet, aber keine Stelle finden können, weil der Andrang von jungen Kommis zu groß ist«, entgegnete Otto. »Ich bin der Sohn einer armen Witwe, welche noch für drei junge Kinder und deren Erziehung zu sorgen hat. Weil ich nun meiner guten Mutter nicht auf der Tasche liegen und auf unbestimmte Zeit die Beine unter den Tisch stecken wollte und weil ich es vermeiden möchte, ein paar Jahre lang als Soldat meinem Beruf entzogen zu werden (denn noch vor kurzer Zeit, vor der Einführung der neuen deutschen Heeresverfassung, wäre ich, als der einzige Sohn einer Witwe vom Militärdienst befreit gewesen), so habe ich von einem meiner Paten mir ein paar Hundert Gulden auf künftige Wiedererstattung geborgt und bin ausgewandert, um mir in Amerika ein Unterkommen zu suchen.«

»Und Sie finden es nun nicht so leicht, wie Sie es sich gedacht haben, hier Ihr Glück zu machen, nicht wahr?«

»Ja, nun«, meinte Max, »aller Anfang ist schwer, aber wenn man die ehrliche Absicht hat, sich durch Fleiß und Rührigkeit fortzubringen, so wird es einem mit Zeit und Weile auch gelingen. Wo der Wille vorhanden ist, da findet sich auch der Weg.«

»Sehr richtig, und haben Sie sich schon in Milwaukee nach einem Unterkommen umgesehen?«, fragte Howard.

Die beiden Jünglinge erzählten ihm offen, was für Schritte sie seither getan hatten, und äußerten die Absicht, falls sie in Milwaukee keine Stellen finden, nach Chicago zu gehen und dort ihr Heil zu versuchen. Howard hegte für die beiden frischen und eifrigen jungen Leute ein aufrichtiges Wohlgefallen und bedauerte daher um so mehr, dass er hier nur wenig für sie tun könne, da er nur wenige Bekannte in Milwaukee habe.

»Ich bin ein sogenannter Trader oder Oberbeamter der North West Company und habe meinen Wohnsitz im fernen Westen, im Staat Oregon, an den Küsten des Stillen Ozeans«, sagte er. »Ich bin ein Schotte von Geburt und war jüngst in meiner Heimat, um Familienangelegenheiten zu erledigen und meinen Geburtsort vielleicht zum letzten Mal zu sehen. Auf der Rückreise zu der neuen Heimat verweilte ich einige Wochen bei einer meiner Töchter, welche als Witwe in Ithaka im Staat New York lebte. Meine gute Grace starb in meinen Armen, und ich bringe nun ihr Kind mit mir nach Hause zurück zu meiner wackeren Gattin. Die arme Waise muss nun mit mir die ungeheure weite Reise über die Felsengebirge bis nach Oregon machen, und ich muss mich beeilen, diese Reise zu beschleunigen, ehe die Herbststürme und die Winterfröste eintreffen. Und so fehlt es mir sogar an Zeit, etwas für Sie zu tun, meine jungen Freunde, der ich Ihnen für Ihre Unterstützung zu so großem Dank verbunden bin. Allein, was in meinen Kräften steht, das werde ich gern für Sie tun, und ich könnte Ihnen einen Vorschlag machen, welcher vielleicht nicht glänzend aussieht, aber Ihnen mit der Zeit eine lebenslange Versorgung verschaffen könnte.«

Und nun setzte er ihnen auseinander, dass er geneigt und imstande wäre, sie für die North West Company zu engagieren, wo sie allerdings erst als gewöhnliche Arbeiter, Ruderer oder Lehrlinge eintreten müssten, und monatlich ein Gehalt von 15 Dollar neben freier Verpflegung und einer Ausrüstung, bestehend in einer Wolldecke, einem Wollhemd und ein paar Beinkleidern, bekommen und sich nun hier für eine einzige Expedition oder Fahrt von fünf bis sieben Monaten zu verpflichten brauchten. Hätten sie dann aber eine oder zwei Fahrten mitgemacht, zur Zufriedenheit gedient und sich einige Erfahrungen gesammelt, dann könnten sie sogenannte »Vormänner« oder »Steuerleute« mit höherem Gehalt und später sogenannte »Führer« werden, welche einen Gehalt von 30 bis 40 Dollar pro Monat neben Verpflegung und Ausrüstung genössen, und nach jeder Fahrt diesen Beruf wieder aufgeben könnten. Würden sie dagegen sich sogleich zu einem längeren Dienst in der Company verbindlich machen, auf drei, fünf oder sieben Jahre, so könnten sie als Lehrlinge mit dem Gehalt von Ruderern eintreten, würden nach Erstehung ihrer Lehrzeit »Clerks« oder Schreiber, dann nach erwiesener Tätigkeit »Partner« oder Kommis mit Gewinnanteil und mit der Erlaubnis, auf eigene Rechnung nebenher Tauschhandel zu treiben, worauf sie nach einer Reihe von Fuhren in die Klasse der »Traders« oder Postenbeamten und der »Chieftraders« oder Oberbeamten eingereiht werden würden und dann auf Lebenszeit versorgt seien, indem sie sogar, wenn nicht mehr diensttauglich, Ruhegehälter bekämen, welche sie in den Stand setzten, irgendwo auf dem Saum der zivilisierten Welt oder in einem neuen Staat der Union oder in Kanada ein sorgenfreies, behagliches Dasein zu führen, wie so viele der früheren Beamten der North West Company es tun.

Max und Otto hörten Herrn Howard aufmerksam zu, denn sein Vorschlag gefiel ihnen nicht übel.

Dieser meinte schließlich: »Ich will nicht in Sie dringen, dass Sie diesen Beruf ergreifen. Ich will Ihnen nicht vorhalten, dass dieser ein harter und beschwerlicher ist und Sie verurteilt, den größten Teil Ihres Lebens in der Wildnis und im Verkehr mit Indianerstämmen und fern von allen Behaglichkeiten der Zivilisation hinzubringen, dass Sie auf Ihren eigenen freien Willen verzichten und sich den Interessen und Satzungen der Company und den Erfordernissen des Augenblicks ganz unterordnen müssen. Allein, dieser Beruf hat auch seine Reize und Vorteile. Das Leben in einer neuen fremden, großartigen Natur, wo der Mann ganz auf sich selbst gestellt ist, eine große Unabhängigkeit und mannhafte Beschäftigung und das Bewusstsein, dass man im Dienste der Menschheit die ersten Spuren der Zivilisation in ferne Länder und Zonen trägt und der Kultur neue Gebiete erschließt, denn der Handel ist so der mächtigste Pfadfinder der Zivilisation. Ich kann Ihnen keine außerordentlichen Erfolge und kein glänzendes Weltglück versprechen, meine jungen Freunde, denn Ihre ganze Zukunft müssen Sie Ihrer eigenen Brauchbarkeit und Tüchtigkeit verdanken. Aber ich kann Sie wenigstens meines besten Willens versichern, Ihnen diesen Beruf zu eröffnen und angenehm zu machen, dessen Angehörige eine Klasse achtbarer, rechtschaffener und frommer Männer sind, welche getreulich zusammenhalten und einander in allen Lebenslagen unterstützen.«

Das leuchtete den beiden jungen Leuten sehr ein, zumal das Abenteuerliche und Wechselvolle dieses Berufs ihrer jugendlichen Einbildungskraft als besonders anziehend und lohnend erschien. Sie wären geneigt gewesen, sich sogleich anwerben zu lassen. Allein Herr Howard meinte, sie sollten sich nicht übereilen und einen solch entscheidenden Schritt noch reiflich überlegen.

»Ich habe hier noch verschiedene Einkäufe und Geschäfte zu besorgen und bleibe noch heute und vielleicht auch einen Teil des morgenden Tages hier, bevor ich in den Westen aufbreche«, sagte er. »Da haben Sie noch einige Bedenkzeit, um sich über Ihren Schritt klar zu machen. Jedenfalls werden Sie mir das Vergnügen machen, heute Abend meine Gäste zu sein.«

Damit trennte man sich, und die beiden jungen Deutschen schickten sich an, Milwaukee und seine Sehenswürdigkeiten zu besichtigen und sich beim Agenten der deutschen Gesellschaft nach der Möglichkeit eines Unterkommens zu erkundigen. Aber es gab weder für Otto noch für den berufslosen Max Beschäftigung, und sie mussten von dem Agenten ebenfalls hören: »Ja, wenn Sie irgendein Handwerk verständen, wenn Sie Bäcker, Bierbrauer, Schreiner, Schmiede, Tuchmacher und dergleichen wären, so fänden Sie Arbeit genug. So aber müssen Sie eben in Gottes Namen sich mit der ersten besten mechanischen Beschäftigung versuchen oder eine Lehrstelle bei einem Gewerbsmann annehmen.«

Als der Abend kam, hatten sie noch immer nichts Passendes gefunden, und der Vorschlag Howards leuchtete ihnen daher sehr ein. Bei der Rückkehr ins Hotel empfing sie Herr Howard, und sie speisten mit ihm apart und verbrachten einen angenehmen Abend, denn er erzählte ihnen von seinen eigenen Erlebnissen und seinem Beruf und verhehlte ihnen auch keine der Schattenseiten jenes wilden Lebens, sondern bat sie, ihren Entschluss noch bis zum Morgen zu verschieben. Sie trennten sich erst ziemlich spät, um ihre Schlafzimmer aufzusuchen, allein die beiden jungen Leute, auf welche Herr Howard einen immer vertrauenerweckenderen Eindruck gemacht hatte, konnten vor Aufregung noch lange nicht einschlafen und wälzten sich unruhig im Bett.

»Max, ich glaube, du bist noch immer wach?«, hob endlich Otto an, als es bereits auf Morgen ging. »Es scheint, die Sache lässt dich auch nicht schlafen?«

»Ja, so ist es, Otto«, versetzte Max, »aber mein Entschluss ist gefasst. Ich gehe mit Herrn Howard. Sind die Aussichten auch nicht glänzend, welche sich uns eröffnen, so sag’ ich mir eben mit unserem süddeutschen Sprichwort: ›Lieber eine Laus im Kraut als gar kein Fleisch!‹ Es ist doch ein Unterkommen und eine Arbeit anstatt des erschlaffenden Müßiggangs. Und wozu bist du entschlossen?«

»Ich werde ebenfalls mitgehen, Max«, sagte Otto. »Ich habe mir es überlegt. Da hinten im Westen können wir bei unseren einfachen Bedürfnissen wenig Geld verbrauchen und einen Teil unseres Gehalts sparen. Und wenn ich dann meiner guten Mutter alljährlich nur einhundert Dollar schicken kann, so ist es für sie schon eine Hilfe. Ich will also in Gottes Namen versuchen und eine ehrliche Probe bestehen. Glückt sie, dann wohl und gut. Glückt sie nicht, dann sind wir ja der North West Company nicht auf die Ehr’ gegeben und haben wenigstens Erfahrungen gesammelt und den Hinweg kostenfrei gemacht.«

»Gut gesagt, Otto – gesprochen wie ein Buch!«, versetzte Max, »also abgemacht. Wohlauf nach Westen! – Und nun lass uns in Gottes Namen noch ein paar Stündchen schlafen!«